Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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die mir nahe waren und die mir vertrauten?

      Nur mit Mühe gelang es mir immer wieder, diese schwarzen Gedanken niederzuringen. Nein, was geschehen war, durfte keine Entschuldigung sein, auch die Zukunft verloren zu geben.

      Der bullige Mann zog die Eisentür auf. Mir schlug der penetrante Geruch vieler Menschen entgegen, die sich schon tagelang nicht mehr richtig gewaschen hatten. Ich wurde durch die Türöffnung geschoben. Für einen Moment war ich geblendet. Grelles Neonlicht erfüllte den Raum.

      Ein lautes Murren erhob sich. Die aggressive Stimmung unter den gut zwei Dutzend Männern in dem fensterlosen Kellerraum war mit Händen zu greifen. Einige von denen kannte ich schon von der iranischen Seite her. Sie waren auf der Lichtung oben im Wald dabei gewesen, wo wir so lange hatten warten müssen, bevor es weiter zur Grenze ging.

      Da erst sah ich, wie mir von ganz hinten im Raum jemand zuwinkte: Belal! Ich arbeitete mich zu ihm durch. Wir fielen uns in die Arme.

      Nein, er habe wirklich nicht damit gerechnet, mich nochmal lebend wiederzusehen, versicherte er mir. Eine Weile seien sie sogar stehengeblieben und hätten gelauscht, nach den Schüssen.

      Ich berichtete ihm, dass es Malik getroffen hatte.

      „Diese Schweine“, sagte er nur.

      Warum er überhaupt noch hier sei, fragte ich ihn. Faizal und Zabiullah waren nämlich schon weg

      Die hätten ja offenbar Geld und gute Papiere, sagte Belal. Er selbst aber habe hier ja erst noch auf seinen neuen Ausweis warten müssen. Den hoffe er noch im Laufe des Tages zu bekommen, denn schon in der Nacht solle es weitergehen. Jetzt aber werde er natürlich warten, bis auch ich mein neues Ausweispapier hätte. Ich hätte ja hoffentlich noch Passfotos dabei.

      Ich holte das Tütchen mit den Fotos, die mir Dr. Ponyandeh noch mitgegeben hatte, aus der Seitentasche meines Rucksacks und zeigte es ihm.

      Wenig später kam tatsächlich der Mann mit den Pässen. Es war ein junger Kerl mit breiten Schultern und groben Gesichtszügen. Der Bullige, der mich hergebracht hatte, kam mit ihm in den Raum, zeigte wortlos auf mich und verschwand. Schon als sich der Kerl seinen Weg durch den überfüllten Raum bahnte und dabei hier und da Pässe verteilte an Flüchtlinge, die sich zu ihm durchdrängelten, sah man ihm seine Übellaunigkeit an. Als er bei uns anlangte, hielt er mir meinen iranischen Ausweis unter die Nase. Den hatte der Teppichmann offenbar an ihn weitergegeben. Er tippte mit seinem dicken Zeigefinger auf das Foto. „Neues Foto!“ sagte er. Während ich ihm eines aus meinem Tütchen herausfingerte, erklärte Belal ihm mit Händen und Füßen, dass er nicht ohne mich weiterreisen werde.

      Was wir uns überhaupt einbildeten, begann der Kerl zu schimpfen, so laut, dass alle in unsere Richtung starrten. Das wären ja vollkommen neue Sitten, dass die Herren jetzt auch noch tagelang durchgefüttert werden wollten. Kadér zahle immer nur für höchstens zwei Tage. Die Herberge seines Onkels sei keine Wohltätigkeitseinrichtung und auch kein Fünfsternehotel, wo man mal eben ein paar Tage dazubuchen könne. Damit warf er Belal seinen dunkelroten iranischen Reisepass vor die Füße. Für heute sei sein Platz auf dem Weitertransport reserviert. Was die nächsten Transporte angehe, könne er für nichts garantieren.

      Wir verstanden zwar nichts von dem, was er sagte, aber als er fort war, erhob sich ein etwas entfernt sitzender älterer Mann, der eine auffällige Augenbinde trug, und übersetzte für uns aus dem Türkischen. Dabei musste er notgedrungen so laut sprechen, dass alle mithören konnten. Belal flüsterte mir unauffällig zu, dass der Mann iranischer Kurde sei.

      In der einen Ecke des Raums standen einige der jungen Männer auf und begannen, Belal und mich anzupöbeln. Wenn wir hier weiter für Unruhe sorgten, könnten wir was erleben. Sie wollten nicht unseretwegen noch mehr Probleme mit den Schleppern bekommen. „Verfluchte Afghanen“, rief einer. Offenbar ein Pakistaner. Das laute Murren, das sich erhob, bewies aber schnell, dass die Afghanen in diesem Raum zahlenmäßig weit überlegen waren. Die Pöbler setzten sich daraufhin schnell wieder hin.

      Als sich die Lage beruhigt hatte, erklärte ich Belal, wie hoch ich es ihm anrechnete, dass er meinetwegen das Risiko eingehe, noch tagelang weiter in diesem Keller hocken zu müssen.

      „Kein Thema“, sagte er, „wir Kabuler müssen doch zusammenhalten.“

      Inzwischen wusste ich, dass einige der anderen bereits über zwei Wochen in dem stickigen Kellerraum zugebracht hatten. Wohl, weil für sie das Geld für die nächste Etappe noch nicht gezahlt worden war. Am Abend lernte ich auch noch das kaum genießbare Essen dieser Herberge kennen. Zwei Männer mit dreckigen Schürzen schleppten einen Riesenkessel mit einer dünnen, undefinierbaren Suppe mitten in den Raum. Daraus konnte sich dann jeder mit seinem Blechnapf selber etwas herausschöpfen. Aber erst, als ich den Waschraum und den Abort zu Gesicht bekam - in der Nacht, gleich nachdem alle anderen wie geplant abgeholt worden waren - konnte ich ermessen, welch großes Opfer mein Freund gebracht hatte, indem er darauf verzichtet hatte, seinen schon sicheren Platz für die Weiterreise zu nutzen. Ich hatte ihn unterschätzt.

      Wir konnten unser Glück kaum fassen, als der bullige Wirt unserer Herberge schon am späten Abend des folgenden Tages persönlich zu uns hereinkam und auch mir so einen dunkelroten iranischen Reisepass in die Hand drückte. Offenbar hatte er es eilig, seinen Keller zu leeren. Wenn wir das richtig verstanden haben, erwartete er eine größere Gruppe von Familien mit Kindern, die man ihm kurzfristig angekündigt hatte. Wenig später saßen Belal und ich auf den bequemen Rücksitzen eines kleinen Toyota und wurden aus der Stadt Van hinaus in die Nacht kutschiert.

      Während wir noch darauf gewartet hatten, dass man uns abholte, hatte Belal mich aufgeklärt, warum man uns ausgerechnet iranische Pässe gab. Mit irgendwelchen türkischen Ausweispapieren würden wir mangels türkischer Sprachkenntnisse bei einer Kontrolle sofort auffliegen. Mit einem iranischen Pass würde man uns in einem solchen Fall aber wenigstens nicht gleich bis nach Afghanistan abschieben können, selbst wenn der türkische Polizeibeamte den afghanischen Akzent unseres Persisch bemerkte.

      Jetzt, während der Fahrt, gab mein Freund mir die nächste Lektion weiter, die er in seinen Tagen im Keller von anderen Flüchtlingen gelernt hatte. Mit dem Touristenvisum in unseren Pässen müsse man bei Kontrollen mit Nachfragen rechnen. So alltäglich sei ein touristischer Besuch eines jungen Iraners in der Türkei ja nicht. Es sei daher auch wichtig, für diesen Fall eine möglichst glaubwürdige Erklärung bereit zu haben. Er selber habe sich die Geschichte zurechtgelegt, dass ein Onkel von ihm bei einer türkischen Firma in Istanbul angestellt wäre, um von dort aus deren Bauprojekte im Iran zu betreuen. Dieser Onkel hätte ihn eingeladen, ihn zu besuchen und sich auf dem Weg nach Istanbul ein wenig die Türkei anzusehen. Falls man uns nicht gerade zusammen erwische, könne ich ja die gleiche Geschichte benutzen, bot Belal mir großzügig an.

      Jedes Mal, wenn sein rundes Gesicht während unserer Fahrt durch die Außenbezirke von Van im Schein einer der seltenen Straßenlaternen aufleuchtete, überkam mich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Wie hätte ich mich ohne einen so guten Kameraden in diesem Land mit wieder völlig anderen Bedingungen zurechtfinden sollen. Und selbst, als ich meinen neuen Freund dann versehentlich einmal mit Malik anredete, verzog der keine Miene.

      Wir hatten Van schon eine ganze Weile hinter uns gelassen, als unser Fahrer plötzlich anhielt, sein Beifahrer ausstieg und uns aufforderte, mit ihm zu kommen. Außer einem schwachen Lichtschein vor uns in der Ferne war es stockdunkel. „Walk“, sagte der junge Mann nur.

      Uns blieb gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, nachdem der Toyota davongefahren war. Wir liefen zuerst parallel zur Straße über die Felder, immer dicht dran an unserem schweigsamen Führer, der den Weg anscheinend im Schlaf kannte. Nur gelegentlich ließ er seine Taschenlampe kurz aufblitzen. Schließlich entfernten wir uns weiter von der Straße, um einen kleinen Berg zu umgehen. Als wir danach wieder auf die Straße stießen, sahen wir in der Ferne hinter uns Lichter. Hundegebell drang zu uns herüber. Offenbar hatten wir einen Kontrollposten umgangen.

      Kurz darauf tauchte wie eine Fata Morgana der weiße Toyota neben uns auf. Erleichtert ließen wir uns nach dem mehr als zweistündigen Marsch in die Sitze fallen. Wenn wir gewusst hätten, dass sich dieses Spiel bis zum Morgengrauen noch