Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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gehabt, als dieser bullige Mann auf dem Busbahnhof auf uns zugekommen war. Malik hatte ich noch im Bus von Abdul erzählt, den ich in Taybad hatte zurücklassen müssen, und dass der dort jetzt praktisch als Sklave in einer Ziegelei schuften musste. Da gebe es noch Schlimmeres, hatte Malik erklärt. Er habe unterwegs Geschichten von Jungen gehört, die noch ganz anderen Männern in die Hände gefallen seien. Ich wusste, was er meinte.

      Wir aber fanden uns in einem großen sauberen Raum wieder, sogar mit einer Waschgelegenheit nebenan, und kurze Zeit später brachte uns ein Junge – schon von der Statur her unverkennbar Sohn des Boxers – eine Schüssel voll duftendem, dampfendheissem Pilau mit großen Fleischstücken drin und eine Riesenkanne grünen Tee.

      „Hier bleibe ich“, sagte Belal und strahlte.

      Als der Sohn unseres ungewohnt freundlichen Wirts uns am nächsten Morgen das Frühstück brachte, sagte er, wir könnten uns auch draußen hinter dem Haus aufhalten. Dort haben wir dann viele Stunden verbracht, haben uns unter einem der Aprikosenbäume im Gras sitzend unterhalten, Karten gespielt oder gedöst. Am Nachmittag des zweiten Tages überbrachte uns der Boxer die Nachricht, dass es am nächsten Morgen losgehen würde. Wir sollten möglichst viel schlafen, die kommenden zwei bis drei Tage würden sehr anstrengend werden.

      Am folgenden Nachmittag saßen wir immer noch unter dem Aprikosenbaum. Es gebe Probleme an der Grenze. Das hätten ihm seine ‚Schlepperfreunde‘ mitgeteilt. Auch am nächsten Tag keine Änderung der Lage. Da laufe eine koordinierte Aktion von Polizei und Grenztruppen. Alle Kontrollposten seien ständig besetzt, und es gebe Patrouillen rauf und runter die ganze Grenze entlang. Der Boxer wurde langsam unruhig.

      „Die bezahlen einen für zwei Tage, aber wenn es Probleme gibt, und es wird eine ganze Woche draus, zucken sie die Achseln und erzählen was von Geschäftsrisiko. Und das schieben die natürlich demjenigen zu, der sich am wenigsten wehren kann.“ Aber selbst wenn man wolle, komme man aus diesem Geschäft nicht mehr raus, erklärte er uns.

      „Hauptsache, wir kriegen weiter unser Essen“, sagte Faizal mit einem Grinsen, als unser Gastgeber fort war.

      Am frühen Morgen des fünften Tages wurden wir noch vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf gerüttelt. „Es geht los!“

      Neben dem Haupthaus stand ein Kleinlaster mit offener Ladefläche. „Yallah, hoch da! Beeilt euch - und verkriecht euch zwischen den Säcken“, rief ein kleiner drahtiger Typ, offenbar der Fahrer.

      „Allah sei mit euch!“, hörten wir noch die tiefe Bassstimme unseres freundlichen Wirts, da ging es schon hinaus auf die Straße. Kaum waren wir auf die breite Hauptstraße des kleinen Ortes eingebogen, kam vor uns eine weite Wasserfläche in Sicht. Gleich darauf erreichten wir einen Damm, der schnurgerade auf dieses Gewässer hinaus und weiter ins Nichts zu führen schien. Eine Weile begleitete uns links und rechts der mehrspurigen Fahrbahn noch ein breiter Strand, der aussah, als wäre er schneebedeckt. „Salz“, rief mir Belal über den Sack zu, der zwischen uns lag. Da hatten wir aber schon die eigentliche Brücke erreicht und sahen auf beiden Seiten der Fahrbahn nur noch Wasser, soweit das Auge reichte. Es war ein riesiger See. Erst als wir eine ganze Weile gefahren waren, tauchten allmählich die Umrisse des gegenüberliegenden Ufers aus dem Morgendunst auf.

      Ich musste an den Sommernachmittag denken, an dem ich mit meinem Vater zusammen am Ufer des Qargha-Sees gesessen hatte und wir beide zu den Bergen am anderen Ufer hinübergeschaut hatten – ein Jahr bevor die Welt meiner Kindheit untergegangen war. Ich musste schlucken und spürte, wie mir Tränen in die Augen traten. Kein Wunder bei dem Zugwind während der schnellen Fahrt über den offenen See. Ich duckte mich zwischen die Säcke.

      Später ging es auf Landstraßen über eine grüne Ebene, manchmal durch Baumalleen oder an Orangenplantagen vorbei, und hin und wieder auch durch kleine Dörfer, deren von Obstbäumen umstandene Steinhäuser sich hinter Mauern oder hohen Zäunen zu verbergen versuchten.

      Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, wir führen im Kreis. Dann aber ging es lange eindeutig nach Norden, da mir die inzwischen schon höherstehende Sonne stetig von rechts ins Gesicht schien. Schließlich fuhren wir in Serpentinen immer weiter ins Gebirge und ich verlor die Orientierung.

      Wir kamen auch an Kontrollposten vorbei, einmal kurz vor einem größeren Dorf, später noch zwei Mal mitten im Nirgendwo. Wir merkten das jedes Mal daran, dass der Fahrer seinen Arm aus dem Fenster des Führerhauses streckte und zu uns nach hinten brüllte, wir sollten uns verkriechen. Einmal habe ich vorsichtig den Kopf hochgestreckt, sobald der Fahrer wieder beschleunigt hatte, und hatte noch gesehen, dass da hinter uns tatsächlich zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten am Straßenrand standen.

      Dem Sonnenstand nach war es längst später Nachmittag, meine rechte Gesichtshälfte brannte, aus meiner Wasserflasche kam kein einziger Tropfen mehr und alle Glieder schmerzten von dem stundenlangen Liegen und Hocken zwischen den Säcken. Am Anfang hatten wir diese Unterlage noch einigermaßen komfortabel gefunden. Rohbaumwolle, hatte Belal mit Kennermine behauptet, nachdem er gleich nach unserer Abfahrt gegen einen der Säcke geboxt hatte. Inzwischen aber sehnten wir alle nur noch das Ende der Fahrt herbei.

      Inzwischen ging es in Serpentinen wieder bergab in ein Tal, wir durchquerten ein kleines Bergdorf und hielten schließlich vor einem etwas abseits gelegenen Gehöft. Zwei finster aussehende Typen erwarteten uns schon. Der eine fragte unseren Fahrer etwas auf Farsi. Ich verstand nur „Hast du den Afghanen dabei?“ Unser Fahrer antwortete etwas, was ich überhaupt nicht verstand. Wahrscheinlich sprach er kurdisch. Dabei zeigte er auf die Säcke und lachte.

      Ein dritter Mann erschien in der Tür des Hauses und winkte uns herein. „Kommt, gleich gibt‘s was zu Essen und ihr könnt euch etwas ausruhen, bevor ihr abgeholt werdet“, rief er uns zu. Ausgehungert stürzten wir uns auf das Lammfleisch mit Reis, das uns zwei kleine Jungs kurz darauf servierten. Zwischen zwei Bissen fragte ich, ob jemand verstanden hätte, was die da draußen mit dem Afghanen gemeint hätten.

      „Er hat schwarzer Afghane gesagt.“ Faizal lachte. „Weißt du etwa nicht, was das bedeutet? Aber hier ist das vielleicht eine Bezeichnung für noch wertvolleren Stoff aus Afghanistan.“

      „Soll das etwa heißen, fragte Belal, „wir waren gar nicht die wertvollste Fracht auf diesem Transport?“ Auch er lachte.

      „Vor allem würde das heißen, dass wir als eine Art Lebensversicherung für den Fahrer gedient haben. Schließlich wird Drogenhandel im Iran mit dem Tode bestraft. Bei einer Kontrolle hätten die sich vielleicht damit zufriedengegeben, uns ins Gefängnis zu stecken, und hätten sich um seine Säcke gar nicht weiter gekümmert“, gab Faizal grinsend zurück.

      Malik und ich sahen uns an. Mein Freund fand die Vorstellung, dass wir als Tarnung für einen Drogentransport gedient haben könnten, offenbar auch nicht so witzig.

      Der stets muntere Belal aber setzte sogar noch einen drauf. „Hauptsache, die stecken nicht auch noch etwas von dem Zeug in unsere Rucksäcke, bevor es über die Grenze geht.“

      „Ich jedenfalls werde meinen Rucksack ab jetzt nicht mehr aus den Augen lassen“, sagte ich. Ich fürchte, mein Lachen klang etwas gezwungen.

      Wir hatten die Riesenportion Fleisch mit Reis fast völlig vertilgt, als einer der kleinen Jungen uns einen Korb voller Äpfel sowie Tüten mit Rosinen, getrockneten Aprikosen, geschälten Mandeln und Nüssen ins Zimmer brachte. „Esst, so viel ihr könnt und packt euch auch noch die Rucksäcke voll. Da draußen in den Bergen weiß man nie, wann man wieder etwas zu essen bekommt“, sagte er. „Und legt euch noch etwas aufs Ohr. Kurz vor Mitternacht geht’s weiter.“

      „Wacht endlich auf, es geht los!“

      Im ersten Moment wusste ich gar nicht, wo ich überhaupt war. Instinktiv griff ich als erstes nach meinem Rucksack. Malik neben mir schlief immer noch fest. Ich rüttelte ihn wach und wir stolperten hinter den anderen her.

      Draußen war es dunkel. Am schwarzen Himmel funkelten die Sterne. Der Kleinlaster, mit dem wir gekommen waren, war verschwunden. Stattdessen wartete ein schwarzer Toyota-Geländewagen auf uns. Faizal und Belal waren schon eingestiegen. Der Fahrer, sportliche Lederjacke, nicht viel älter als wir,