Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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war schon ziemlich gelichtet.

      „Du bist also der Adib“, stellte er fest. Ich nickte unsicher.

      „Keine Angst, Ich heiße Jafar Ponyandeh. Ich werde dir helfen und dich, solange du hier bist, beschützen. Besitzt du ein Foto von dir?“ Eine seltsame Frage. Ich schüttelte den Kopf.

      „Dann müssen wir eins machen“, sagte er, zog die Tür hinter sich zu und erst jetzt fiel mir auf, dass eine Kamera an seiner Seite baumelte. So eine Kamera hatte auch mein Vater besessen, und auch er hatte die immer an so einem Riemen über seiner Schulter hängen gehabt, wenn wir zusammen einen Ausflug gemacht hatten. Mein ‚Beschützer‘ bat mich, mich vor die weiße Wand zu stellen und machte mehrere Fotos von mir, wobei er mit der Kamera jedes Mal näher an mein Gesicht herankam.

      „Du brauchst einen Ausweis, um sicher durch dieses Land zu kommen. Und dazu brauchen wir dieses Foto“, erklärte er mir, während er geschäftig mit der Kamera hantierte. Das also hatte der Dicke mit dem Schnauzer mit den ‚Papieren‘ gemeint, von denen er bei meiner Ankunft gesprochen hatte. Und dann erinnerte ich mich, dass ja auch in den geflüsterten Diskussionen von Tante Khosala und Onkel Najib von Papieren die Rede gewesen war.

      „Spätestens in drei Tagen wird dich hier jemand abholen“, sagte der seltsame Herr Ponyandeh, als er fertig war. „Und ab da wirst du dich Reza Aslan nennen, aus der Stadt Gonabad, der Stadt des Safrans. Am besten, du prägst dir diese Namen jetzt schon mal ein.“ Damit verbeugte er sich vor mir – einem Jungen! – und verschwand so schnell durch die Tür, wie er erschienen war.

      Die folgenden Tage verbrachte ich in wachsender Ungeduld. Ich vertraute diesem Herrn Ponyandeh. Schon weil er mich irgendwie an meinen Vater erinnert hatte. Jetzt, wo ich wusste, dass es jemanden wie ihn gab, der mir helfen wollte, sicher durch dieses Land zu kommen, hoffte ich, dass es so schnell wie möglich weiterging. Dabei hatte ich keinen Grund, mich zu beklagen. Anders als in Herat war ich in meinem Zimmer nicht eingesperrt. Jederzeit konnte ich hinunter ins untere Stockwerk laufen. In den Waschraum etwa oder, lieber noch, in die große Küche, in der für alle auf dem Gelände gekocht wurde. Inzwischen nannten die Frauen dort unten mich schon ihren kleinen Jungen, wofür ich sie als Mann eigentlich hätte zurechtweisen müssen. Aber sie steckten mir auch immer mal wieder extra etwas zu essen zu. Nur außerhalb des Hauses sollte ich mich nicht sehen lassen, hieß es. Besuchern von draußen würde es auffallen, wenn hier ein Junge wie ich einfach nur so herumliefe.

      Natürlich hielt ich auch immer mal wieder Ausschau nach Abdul – aus meinem Fenster oder unten an der Tür. Ich wusste inzwischen, wenn es abends dunkel wurde, wurden die Jungen und Mädchen getrennt und in Gruppen von ihren Aufsehern in das separate Gebäude gebracht, in dem, wie es hieß, ihre Schlafsäle lagen. Selbst aus der Entfernung konnte man sehen, wie erschöpft und schmutzig sie waren. Meinen Freund Abdul aber habe ich nie wiedergesehen.

      Der junge Mann, der mich abholte, hieß Shahin und sagte, er sei Student. Als erstes aber, kaum hatte ich mich zu ihm in den alten Peugeot gesetzt, reichte er mir meine ‚Papiere‘.

      „Hier, Reza Aslan, dein Schenasnameh“, sagte er. Ich schlug das kleine, dünne Heftchen auf. Da, auf der ersten Seite, prangte tatsächlich mein Foto.

      „Hast du noch nie einen Ausweis gesehen?“, fragte er und lachte. Er lachte ständig. Auch als ich ihn fragte, ob er der Sohn des Fotografen wäre.

      „Du meinst Dr. Ponyandeh? Der war mein Lehrer an der Universität, an der ich Wirtschaftswissenschaften studiere. Jetzt ist er mein Mentor und Freund. Von irgendwas muss er ja leben, jetzt, wo die Taliban dafür gesorgt haben, dass er seine Stelle an der Uni verloren hat.“

      „Die Taliban? Hier im Iran?“ Ich war geschockt. Auch weil ich noch nie erlebt hatte, dass jemand über die Taliban lachte.

      „Sorry“, sagte er – das erste Mal seit zwei Jahren, dass ich wieder ein englisches Wort hörte. „Du kommst ja von denen. Keine Angst, wir nennen unsere korrupten Mullahs so.“

      „Ich komme nicht von den Taliban. Ich komme aus Kabul“, protestierte ich.

      „Schon gut“, lachte er. „Ist mir auch egal, warum du da wegwillst. Hier wollen ja auch alle weg.“

      Die gut ausgebaute, meist schnurgerade Straße führte durch eine karge, ausgedörrte Landschaft. Nur hin und wieder kamen wir durch kleinere Ortschaften. Ich war ein wenig durcheinander. Dass die Schiiten Ungläubige waren, sagten die Sunniten in meiner Heimat ja immer. Aber dass die hier so abfällig über ihre eigenen Mullahs redeten, hätte ich mir bis dahin nie vorstellen können.

      „Falls die uns anhalten sollten und nach unseren Papieren fragen, halt bloß den Mund und lass mich reden“, sagte Shahin, ausnahmsweise mit ernstem Gesicht. „Sonst hören die an deiner komischen Aussprache gleich, dass du nicht von hier bist. Also pass auf: Ich bin dein großer Bruder, du bist hier nur auf Besuch, weil du unbedingt mal den Imam Reza Schrein besuchen willst. Und zwar, weil das deine letzte Hoffnung ist, dein Stottern zu kurieren.“

      Wieder wollte ich protestieren, aber Shahin winkte ab.

      „Vertrau mir. Diese kleine Lügengeschichte ist nur zu deinem Schutz. In letzter Zeit gibt es immer öfter Demonstrationen in Maschhad wegen der steigenden Preise für Lebensmittel. Seitdem sind die da oben nervös und es gibt mehr Kontrollen als sonst. Und glaub mir, wenn du denen in die Hände fällst, hast du nichts mehr zu lachen.“

      Bald wurde die Straße vierspurig, als wir uns Maschhad näherten, sogar zu einem richtigen sechsspurigen Highway – wie in den amerikanischen Filmen. Ich traute meinen Augen nicht: Plötzlich tauchte rechterhand direkt neben uns ein riesiges Flugzeug auf. Ich dachte schon, es würde auf die Häuser am Rande der Autobahn stürzen, aber dann verschwand es direkt hinter einem großen, flachen Gebäude. Shahin lachte, als ich aufgeregt hinüberzeigte. Er stellte die CD ab, die er die ganze Zeit hatte laufen lassen. „Unser Flughafen“, sagte er. Er erklärte mir, dass jedes Jahr mehrere Millionen Pilger nach Maschhad kämen, um den Imam Reza Schrein zu besuchen. Zum ersten Mal schien er auf irgendetwas in seinem Land stolz zu sein. Ich aber war nur froh, dass das Gebrüll des CD-Spielers verstummt war, das Shahin ‚Heavy Metal‘ nannte. Sowas hatte ich vorher noch nie gehört. Kurz danach kurvten wir durch ein ganzes Gewirr von Straßen neben- und übereinander. Gleich dahinter zeigte Shahin wieder auf die rechte Seite. „Unser großer Fernbusbahnhof – da setzen wir dich morgen in den Bus nach Teheran.“

      Es kann nicht mehr als zehn Minuten später gewesen sein, als wir von der Stadtautobahn abfuhren und in ein Viertel mit dicht an dicht stehenden Wohnhäusern einbogen. Die waren alle nicht mehr als vier oder fünf Stockwerke hoch und sahen ziemlich neu aus. Gleich darauf hielten wir vor einem dieser Häuser. Sobald Shahin auf einen der Klingelknöpfe gedrückt hatte, gab es ein summendes Geräusch und er drückte die Tür auf.

      „Sie haben Farhad verhaftet“, sagte Dr. Ponyandeh, kaum hatte er uns oben die Wohnungstür geöffnet.

      Eigentlich hatte Shahin mich nur abliefern wollen, aber nach dieser offenbar sehr schlimmen Nachricht folgte er uns doch mit in die Wohnung. Sein ehemaliger Lehrer, der jetzt sein Freund war, führte uns in ein großes Zimmer mit hohen Regalen voller Bücher an den Wänden und einem Sofa und mehreren Sesseln in der Mitte des Raums. Er und Shahin liefen gleich zum Fenster hinüber und redeten aufgeregt miteinander.

      Eine Zeit lang stand ich herum. Die beiden waren so vertieft, dass sie mich gar nicht beachteten. Da habe ich mich in einen der riesigen, weichen Sessel gesetzt und meinen Rucksack einfach daneben auf den Teppich fallen lassen.

      Ich verstand nicht alles von dem, was sie sagten. Dieser Farhad aber war offenbar jemand von ihrer Universität. Der hatte auf der Straße Zettel verteilt – aus Protest gegen die ‚Zwangsverschleierung‘, wie Dr. Ponyandeh sagte. Dieses Wort verstand ich erst, als sie auch noch von ‚Kopftuchzwang‘ sprachen. Das schien alles sehr schlimm zu sein.

      Ich wusste damals so vieles noch nicht. Die Frauen im Iran – die in der Küche der Ziegelei und die wenigen, die ich auf dem letzten Teil unserer Fahrt auf der Straße gesehen hatte – waren mir sehr freizügig vorgekommen in ihrer leichten Kleidung und mit ihren bunten Kopftüchern. Ich hatte vor meiner