Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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So würde ich am wenigsten auffallen, hatte er gemeint.

      Ich habe fast die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut. Auch das hatte Shahid mir empfohlen, damit möglichst keiner auf die Idee käme, mich anzusprechen. Am Anfang fand ich es auch interessant, dort draußen die weiten, wechselnden Landschaften und das Treiben in den Dörfern und Städten, durch die wir fuhren, vorüberziehen zu sehen. Die glatt geteerten Straßen, die vielen neuen und hohen Gebäude, die Geschäfte und sogar die Menschen, alles erschien mir ordentlicher, moderner, und bunter als in Afghanistan. Auf die Dauer aber wurde es langweilig und mir fielen immer wieder die Augen zu.

      Meist wachte ich dann erst wieder auf, wenn der Bus an einer Tankstelle oder an einem Busbahnhof hielt. Dann stiegen immer alle aus, um sich die Beine zu vertreten, auf die sauberen Toiletten zu gehen, die es fast überall gab, oder sich etwas zu trinken oder zu essen zu kaufen.

      Dr. Ponyandeh hatte mir am Morgen zwei Flaschen Wasser, eine Tüte mit Sonnenblumenkernen und ein paar iranische Geldscheine mitgegeben. Das Geld hatte ich erst gar nicht annehmen wollen. „Für den Notfall“, hatte er gesagt und dabei wieder so traurig gelächelt. Da hatte ich die Scheine doch eingesteckt und mir vorgenommen, sie tatsächlich für den Notfall aufzubewahren. Aber als wir – da war es schon Nachmittag – an einem größeren Busbahnhof hielten und ich die Stände der vielen Händler sah, die dort duftende Aprikosen, Orangen und Mangos, verlockende Fleischspießchen, süßes Gebäck und buntes Zuckerwerk anboten, konnte ich nicht widerstehen. Ich habe mir zum allerersten Mal seit der Abfahrt aus Kabul selber etwas zum Essen gekauft.

      Auch Tante Khosala hatte mir Geld mitgegeben, dreihundert amerikanische Dollar, die sie mir separat in kleine Plastiktüten eingeschlagen und an drei verschiedenen Stellen versteckt hatte: Im Boden meines Rucksacks, im Gürtel meiner Hose, den sie dafür extra aufgetrennt und wieder zugenäht hatte, sowie in einem Ledertäschchen, das ich unter meinem Hemd an einer Schnur um den Hals trug. Dieses Geld wollte ich aber auf diesem Abschnitt der Reise noch auf keinen Fall anrühren. Es war für den letzten Teil meiner Flucht gedacht, auf dem ich mich ganz alleine würde durchschlagen müssen.

      Als ich mit meinen Hühnerfleischspießchen in den Bus zurückkam, fand ich zuerst meinen Platz gar nicht wieder. Die ganze Zeit hatte ein alter Mann auf dem Gangplatz neben mir gesessen. Der hatte mich zu meiner Erleichterung kein einziges Mal angesprochen und die meiste Zeit auch geschlafen. Jetzt aber saß da in der Mitte des Busses ein Mädchen, und ich wollte erst gar nicht glauben, dass das da neben ihr mein Platz war. Das Mädchen – eigentlich eher schon eine junge Frau – schaute mich mit großen dunklen Augen herausfordernd an, als ich unschlüssig neben ihr stand. Ihr grellbuntes Kopftuch war so weit nach hinten geschoben, dass ihr volles Haar darunter hervorquoll. Sie trug eine Bluse, deren oberster Knopf offenstand und deren Ärmel nicht mal bis zu den Ellenbogen reichten. Ich brachte kein Wort heraus.

      „Dein Sitz?“, fragte sie schließlich. Ich nickte nur stumm. „Na, dann komm“, sagte sie mit amüsiertem Gesichtsausdruck und erhob sich, blieb aber halb im Durchgang stehen, so dass ich mich kaum vorbeiquetschen konnte, ohne sie zu berühren.

      „Aus welchem Dorf kommst du denn?“, fragte sie, als ich endlich saß.

      „Gonabad“, murmelte ich.

      „Ach so“, sagte sie, als sei für sie damit alles erklärt. Sie vertiefte sich wieder in ein Heft, in dem sie schon geblättert hatte, bevor sie mich bemerkt hatte. Ich habe zwei, drei Mal kurz hinübergeblickt, aber da waren immer nur Bilder von Frauen zu sehen, die ungewöhnliche Kleider anhatten.

      Es dämmerte schon, als der Bus nochmal in einem kleineren Ort hielt. Diesmal stiegen nur fünf oder sechs Leute aus, darunter zwei Frauen, die direkt in der Reihe vor uns gesessen hatten. Auch ich wäre gern wenigstens kurz mal an die frische Luft gegangen, aber das Mädchen neben mir blieb sitzen und ich wollte mich nicht nochmal so an ihr vorbeidrängen.

      Der Halt war kürzer als sonst. Alle saßen schon. Die Tür unseres Busses glitt zu. In dem Moment sah ich drei junge Männer in schwarzen Uniformen auf unseren Bus zulaufen. Polizisten! Sie hämmerten an die bereits geschlossene Tür. Der Fahrer fluchte, aber er öffnete. Die Polizisten stürmten herein. Der eine blieb vorne beim Fahrer stehen und fragte den irgendwas. Die beiden anderen aber kamen nach einem kurzen, prüfenden Blick über die Sitzreihen direkt auf mich zu. Jetzt ist es aus, dachte ich und schrumpfte in meinen Sitz, obwohl klar war, dass sie mich schon gesehen hatten. Der Vordere stützte sich mit dem Ellenbogen auf die Lehne des Sitzes direkt vor dem Mädchen. Er fixierte erst sie und dann mich.

      „Was hast du dir denn da für einen netten kleinen Liebhaber ausgesucht. Du bist doch viel zu schade für den.“ Er grinste.

      „Das ist mein kleiner Bruder. Und jetzt lass uns gefälligst in Ruhe!“, herrschte ihn meine Nachbarin an.

      Der Polizist hob beide Arme hoch und ich erwartete, dass er zupacken oder gar zuschlagen würde.

      „Schon gut, schon gut“, sagte er, „man wird doch noch einen Scherz machen dürfen.“ Er und sein Begleiter lachten laut und ließen sich mit Schwung in die Sitze direkt vor uns fallen.

      Das Mädchen nickte mir zu, erkennbar zufrieden mit sich. Offenbar bemerkte sie jetzt erst, wie sehr ich in Panik geraten war. Ich fühlte, wie mir die Schweißperlen über das Gesicht liefen. Mit einem Kopfschütteln bedeutete sie mir, dass das alles ganz harmlos gewesen war. Ja, sie lächelte mich sogar an. Wenn ich an diese Szene zurückdenke, ist sie mir heute noch peinlich. Aber ich war ja noch nicht einmal sechzehn und kam aus einer anderen Welt.

      Erst als unser Bus ungefähr zwei Stunden später endlich Teheran erreichte, verblasste der Schrecken, der mir die ganze Zeit noch in den Knochen gesteckt hatte. Auf einmal gab es so viel zu sehen. Diese Stadt, durch deren Verkehrsgewühl sich unser Bus langsam seinen Weg bahnte, kam mir noch viel riesiger und moderner vor als Maschhad, das mich auch schon beeindruckt hatte. Es dauerte unglaublich lange, bis wir die schier endlosen Vororte aus eintönigen Wohnblocks aus grauem Beton hinter uns gelassen hatten. Danach aber staunte ich nur noch über die mit bunten Lichterketten geschmückten Fassaden, die hell angestrahlten Monumente, die gläsern schimmernden Hochhaustürme, die farbenfrohen Auslagen der Geschäfte, die zahllosen Restaurants, die alle voll besetzt zu sein schienen, und die vielen gut gekleideten Menschen, oft ganze Familien mit Kindern, die hier um diese späte Zeit noch unterwegs waren und sich offenbar keinerlei Sorgen machten, dass eine Autobombe hochgehen oder ein Terrorkommando beginnen könnte, wahllos in die Menge zu schießen.

      Mir schwirrte der Kopf, als wir in den riesigen Busbahnhof einfuhren. Das Mädchen neben mir stand schon auf, als der Bus noch am Einparken war. Sie winkte mir, ihr zu folgen. Ach ja, ich war ja ihr kleiner Bruder. Sofort, als der Bus stand, erhoben sich auch die beiden Polizisten vor uns. Sie starrten das Mädchen an, aber sie warteten höflich ab, bis wir an ihnen vorbei waren. Mich haben sie überhaupt nicht beachtet.

      Vor dem Bus herrschte ein chaotisches Gewimmel. Das Mädchen packte mich einfach an der Hand und zog mich durch die Mauer der Männer, die uns ihre Taxis anpriesen. „Pass auf dich auf. Man merkt, dass du nicht von hier bist. Und auch nicht aus Gonabad“, sagte sie noch, dann war sie auf einmal verschwunden.

      Ich folgte einfach dem Menschenstrom hinaus aus dem Busbahnhof. Davor werde der Mann von Kadér auf mich warten, hatte Shahin gesagt. Es war mir ein Rätsel, wie der mich in diesem Gewimmel jemals ausfindig machen sollte. Ich stellte mich einfach neben dem Ausgang auf, am Rande der ununterbrochen vorbeiflutenden Menge, sah mich um und wartete. Nach wenigen Minuten kam ein schlanker junger Mann in Jeans und mit schwarzer Lederjacke über dem weißen Hemd auf mich zu. „Kadér?“, fragte er. Als ich nickte, schob er die Sonnenbrille, die er selbst jetzt in der Dunkelheit trug, in sein kurzgeschorenes Haar hinauf und lotste mich ein Stück weit vom Busbahnhof fort. Dort seien die Taxis billiger.

      Bald waren wir aus dem Stadtzentrum mit seinen hell erleuchteten, breiten Straßen heraus, fuhren durch enge, verwinkelte Gassen und hielten schließlich in einer basarartigen Straße vor einer Zeile zur Straße hin offener Läden. Zwischen einem Gemüsegeschäft und einer Schneiderei führte ein Eingang ins Dunkel. Das schwach beleuchtete Schild darüber zeigte an, dass die Treppe zu einer Pension hinaufführte. Der junge Mann lief mir voraus und schlug mit der Faust an