Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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so groß und breitschultrig war. Meist hatte er sich auch etwas abseits von den anderen Pakistanern gehalten und hatte mit untergeschlagenen Beinen und gesenkten Augenlidern dagesessen, als wäre er ins Gebet versunken. Offenbar besaß er große Autorität bei seinen Pakistanern. Auch jetzt, als wir unsere letzten Vorräte mit denen teilten, wartete dieser Zabiullah etwas abseits darauf, bis ihm einer der anderen einen besonders schönen Apfel überreichte, den er von uns bekommen hatte.

      Wie sich herausstellte, war Malik bei dieser Verteilungsaktion schlauer gewesen als ich. Als wir später an unserem Schlafplatz nebeneinanderlagen, holte er plötzlich noch einen Apfel hervor, den er „vor denen gerettet“ hatte. „Mein letzter“, sagte er und hielt ihn mir hin. Ich wollte dieses Geschenk gar nicht annehmen, aber er bestand darauf, dass wir uns den Apfel dann wenigstens teilten, „wie Brüder“.

      Gewieher von Pferden riss mich aus dem Schlaf. Im Osten wurde es gerade erst hell. Malik und Belal neben mir waren schon wach und sahen angespannt den Reitern entgegen, die gerade aus dem Wald auf unsere Lichtung herauskamen. Einer von denen war der Jüngere der beiden, die uns hergebracht hatten. Kaum waren sie abgesessen, hatten sich ihre Schlepperkollegen bereits um sie versammelt. Ihr Lagebericht löste eine erregte Auseinandersetzung aus. Auch wenn wir aus der Ferne kein Wort verstanden – untereinander sprachen unsere Schlepper, wie wir inzwischen festgestellt hatten, ohnehin immer nur Kurdisch – war klar, worum es ging: Die einen drängten auf sofortigen Aufbruch, während den anderen die Lage immer noch zu unsicher war. Erst kurz vor Mittag, einige der Flüchtlinge hatten gerade begonnen, in Sprechchören etwas zu essen zu fordern, fiel die Entscheidung: Zwei der Schlepper ritten davon. Sie sollten wohl sicherstellen, dass unser Zug nicht einer Patrouille der Sicherheitskräfte in die Arme lief.

      „Yallah – beeilt euch!“ Die verbliebenen Reiter kreisten uns ein, als wären wir eine Viehherde. „Immer einer hinter dem anderen und dicht zusammenbleiben! Wehe, einer von euch tanzt aus der Reihe.“ Plötzlich waren die sogar mit Schlagstöcken bewaffnet. Einige unserer Mitflüchtlinge protestierten, aber auch die fügten sich schnell. Malik, Belal und ich waren ziemlich weit hinten in der Kolonne gelandet. Plötzlich kam Faizal angelaufen und flüsterte uns zu, die mit den Schlagstöcken würden den Zug von hinten her überwachen und antreiben. Wir schafften es gerade noch, nach vorne zu laufen und uns direkt hinter Faizals pakistanischen Freunden einzureihen, die sich die ersten Plätze in der Kolonne gesichert hatten. Da ertönte auch schon das nur allzu vertraute „Yallah, los! Los!“ der ‚Treiber‘.

      Nachdem wir uns warmgelaufen hatten, spürte ich meine von dem Gewaltmarsch davor immer noch nicht ganz verheilten Fußsohlen schon gar nicht mehr. Meine Hoffnung, dass es direkt bergab ins Tal gehen würde, erfüllte sich allerdings nicht. Im Gegenteil. Erneut mussten wir über Stunden bergauf und bergab marschieren. Wenigstens gönnten die Reiter uns mehrere längere Pausen. Dass dies nicht aus Menschenfreundlichkeit geschah, wusste mal wieder einer von Faizals Pakistanern. Unser Ziel sei ein Marktflecken unten im Tal und die Schlepper wollten dort erst ankommen, wenn es schon dunkel war. Das aber bedeutete, dass wir den ganzen Tag nichts zu essen bekommen würden. Dabei klang das Murren und Fluchen um uns herum bereits bedrohlich genug.

      Die Stimmung verschlechterte sich weiter, als es auch noch zu regnen begann. Völlig durchnässt erreichten wir ein kleines Waldstück, wo wir einen letzten Halt einlegten. Im Tal unter uns lag eine Ortschaft, die offenbar ein Knotenpunkt für den grenznahen Handel war. Wir konnten beobachten, wie auf einem freien Platz am Ortsrand Säcke, Ballen und Kisten von Kleinlastern auf Packpferde und Esel geladen wurden. Diese Lasttiere machten sich dann einzeln oder in kleinen Karawanen in alle Richtungen auf den Weg. Währenddessen teilten uns die Schlepper schon mal in Gruppen zu fünft oder sechst auf. Aus Sicherheitsgründen, sagte man uns. Offenbar war es ein zu großes Risiko, eine so große Gruppe auf einmal über die Grenze zu bringen.

      Ich dachte erst, Faizal würde sich seinen Pakistanern anschließen, aber im letzten Moment kam er mit deren Anführer, diesem Zabiullah, zu uns rüber. Als dieser Mann mir jetzt zum ersten Mal direkt gegenüberstand, verstand ich, warum er unter seinen Pakistanern so große Autorität genoss. Der Blick seiner kohlschwarzen Augen war so durchdringend, dass ich das Gefühl hatte, er hätte mich bei etwas Verbotenem ertappt. „Salaam“, sagte er. Seine tiefe, volltönende Stimme war nicht unsympathisch – im Gegenteil. Eigentlich konnte es ja auch nur von Vorteil sein, wenn so ein älterer und Autorität ausstrahlender Mann wie er bei dem bevorstehenden Grenzübertritt unserer kleinen Gruppe dabei sein würde. Der würde es sich wohl kaum gefallen lassen, dass man uns in so eine Kiste sperrte, wie man es Abdul und mir beim Überqueren der Grenze von Afghanistan in den Iran zugemutet hatte.

      Sobald es dunkel wurde, machten sich die einzelnen Grüppchen im Abstand von wenigen Minuten auf den Weg ins Tal. Zabiullah, Faizal, Malik, Belal und ich wurden von einem der Männer, die das Ende der Kolonne mit Knüppeln traktiert hatten, zu einer Pension direkt am Rande des Marktfleckens geführt. Kaum waren wir in dem kleinen Innenhof vor dem Haus, wandte der Mann sich zum Gehen, allerdings nicht ohne uns noch seine Verachtung zu demonstrieren: Er rate uns dringend, uns erst mal zu waschen. Sonst würde man uns in der Nacht an der Grenze ja schon drei Meilen gegen den Wind riechen. Eine grobe Beleidigung für jeden Muslim, für den das regelmäßige Waschen zu den religiösen Pflichten gehört. Ich fürchtete schon, Zabiullah würde sich auf den Kerl stürzen und ihn erwürgen, aber er beließ es bei einem hasserfüllten Blick.

      Die kleine Episode war vergessen, sobald wir gewaschen und in trockenen Kleidern vor den gefüllten Tellern und Schüsseln saßen, die unsere Wirtin, eine energische Alte, auf einer Decke in der Mitte unseres Zimmers aufgebaut hatte. Heißhungrig machten wir uns über das Essen her. Kaum aber war das leere Geschirr weggeräumt, legten wir uns an Ort und Stelle hin, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Wir wussten, dass es noch in der Nacht weitergehen würde.

      Die resolute Alte selbst war es, die uns aus dem Schlaf riss und ohne weitere Umstände aus dem Haus scheuchte. „Möge Allah mit euch sein“, sagte sie zum Abschied.

      Im Halbschlaf, unsere Rucksäcke an der Hand, traten wir auf den Platz vor der Pension hinaus. Wir hatten gedacht, dass uns wieder ein Fußmarsch bevorstehen würde, aber da stand ein Geländewagen, der wie eines der alten russischen Armeefahrzeuge aussah, wie man sie manchmal noch in Afghanistan herumfahren sieht. Der Fahrer lehnte sich über den Beifahrersitz und stieß die Tür auf.

      „Leute von Kadér? Dann kommt“, rief er uns mit gedämpfter Stimme zu, obwohl auf dem weiten Platz um diese Zeit sonst niemand zu sehen war. Zabiullah stieg wie selbstverständlich vorne neben dem Fahrer ein, wir restlichen vier quetschten uns auf dem Rücksitz zusammen. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern fuhren wir quer durch den Ort und dann auf der gut ausgebauten Landstraße weiter. Der junge Fahrer summte die ganze Zeit vor sich hin, als wären wir auf einem harmlosen Ausflug ins Grüne. Bald bogen wir in ein Seitental ein und gelangten auf eine holprige Piste, die sich in steilen Kehren in die Berge hinaufwand. Der Himmel klarte auf und der Fahrer schaltete die Scheinwerfer aus. Zabiullah fragte ihn irgendetwas, aber er antwortete nicht. Stattdessen begann er, eine flotte Melodie zu pfeifen und mit den Fingern auf dem Lenkrad herumzutrommeln. Der Motor dröhnte so laut auf der steilen Strecke, dass ich sicher war, dass man uns kilometerweit hören konnte. Die Kurverei schien kein Ende zu nehmen. Waren wir etwa schon auf türkischer Seite? Kaum hatte ich das gedacht, hörte ich den Fahrer rufen, „wir bald da.“

      „In der Türkei?“, schrie Belal in den Motorenlärm. Der Fahrer nahm den Fuß etwas vom Gas.

      „Türkei hinter Berg“, rief er nach hinten. „Gleich oben, dann nur noch Berg runter.“

      Tatsächlich erreichten wir kurz darauf die Passhöhe. Zunächst ging es danach wieder in engen Serpentinen steil bergab, wobei hin und wieder in der Ferne unten im Tal ein paar Lichter ins Blickfeld gerieten. „Dorf Türkei“, machte uns unser Fahrer beim ersten Mal darauf aufmerksam.

      Bald wurden die Kehren weiter und der Abhang weniger steil. Der Fahrer begann erneut, vor sich hin zu pfeifen. Jedes Mal, wenn nach einer Kurve die Lichter unten wieder für einen Moment auftauchten, stieg die Spannung im Wagen an. Belal neben mir bewegte die Lippen im Gebet. Dann sah ich das auch bei Malik. Das Dorf schien inzwischen zum Greifen nah. Wahrscheinlich waren wir schon in der Türkei. Aber wir alle