Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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Für meine Tante Khosala, auch daran erinnerte ich mich jetzt wieder, hatte das auch etwas mit Freiheit zu tun gehabt. Hier aber schien das Kopftuch seltsamerweise etwas mit öffentlicher Sicherheit zu tun zu haben.

      „Wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit?“ Shahin fragte extra noch einmal nach.

      „Ja, deswegen und wegen Beleidigung des Kopftuchs als Symbol des Islam“, sagte Dr. Ponyandeh und schüttelte den Kopf.

      „Wir müssen etwas unternehmen“, rief Shahin.

      „Dir ist klar, wie gefährlich das ist“, sagte Dr. Ponyandeh.

      „Ich bin sicher, viele werden sich anschließen. Jetzt, wo sich die Leute selbst einfache Lebensmittel kaum noch leisten können. Sogar auf dem Land. Alle haben doch diese Mullah-Diktatur satt. Die Misswirtschaft, die Korruption, die brutale Unterdrückung jeder Kritik.“ Shahin redete sich immer mehr in Rage. Dabei fiel sein Blick plötzlich auf mich. „Ach, um den Jungen müssen wir uns ja auch noch kümmern. Ich fürchte, ihn schon morgen in den Bus nach Teheran zu setze, wäre in dieser Situation kaum zu verantworten. Die werden die Kontrollen in den nächsten Tagen mit Sicherheit nochmal verschärfen.“ Dr. Ponyandeh überlegte kurz. Dann nickte er.

      So kam es, dass ich fast vier Tage lang in der schönen großen Wohnung meines iranischen ‚Beschützers‘ gewohnt habe und sogar schon wieder in einem richtigen Bett schlafen durfte.

      Gleich nachdem Shahin sich verabschiedet hatte, verließ auch mein Beschützer die Wohnung, in der er offenbar ganz allein lebte. Er werde nicht lange fortbleiben, sagte er. Ich solle auf keinen Fall vor die Tür gehen. Die Nachbarn seien sehr neugierig.

      So setzte ich mich erst mal wieder in den großen Sessel, neben dem noch mein Rucksack lag. Als es mir zu langweilig wurde, ging ich zu den Regalen hinüber. Ich staunte, wie viele der Bücher auf Englisch waren. Die meisten Titel verstand ich nicht, aber immer wieder kamen die Wörter ‚Economy‘ und ‚History‘ vor. Dieser Lehrer und Fotograf musste ein sehr kluger Mann sein. In einem der Regale stieß ich schließlich auf Bücher, deren Titel mir vertraut waren. Das Shahnameh mit den Geschichten von den alten persischen Helden, das Diwan-e Hafez von Hafis und von Maulana Rumi das Masnavi und seine vierzeiligen Rubaiyat. Ich zögerte, aber dann zog ich die Rubaiyat aus dem Regal. Damit setzte ich mich auf den Teppich und vertiefte mich in das Buch. Es war, als wäre ich auf einmal wieder Adib, der Schüler aus der 8. Klasse, und säße zu Hause im Zimmer meines Großvaters.

      „Du kannst diese Gedichte lesen?“ Ich schrak zusammen, als ich plötzlich die Stimme von Dr. Ponyandeh hinter mir hörte. Die traurigen Augen hinter den dicken Brillengläsern blickten verwundert auf mich herab.

      „Viele kenne ich auswendig“, sagte ich.

      „Weißt du, dass das eine kostbare alte Ausgabe dieser Gedichte ist, die du da in der Hand hast?“ Kurz krampfte sich alles in mir zusammen.

      „Mein Großvater hatte eine, die noch viel älter war“, sagte ich.

      „Hatte? Er hat sie doch nicht etwa verkaufen müssen? Womöglich, um damit deine Flucht zu finanzieren?“

      „Oh, nein“, stotterte ich. Ich merkte, wie ich rot wurde.

      „Na, das wäre ja auch ein Jammer gewesen“, sagte Dr. Ponyandeh. Er ließ sich in den Sessel neben mir sinken. Er seufzte tief auf. „Ich habe viele afghanische Freunde. Die ersten sind schon vor über dreißig Jahren vor den Russen hierher geflohen. Weitere kamen vor zwanzig Jahren, nachdem die Taliban Kabul erobert hatten. Und jetzt schon wieder Jungen wie du. Hört das denn nie auf? Gab es denn niemanden, der dort für dich sorgen konnte?“

      So hatte schon lange niemand mehr mit mir geredet. Ich versuchte, meine Tränen zurückzuhalten. Aber dann war es, als bräche ein Damm. Ich erzählte meinem Beschützer, dass meine Eltern beide gestorben waren. Dass ich nicht wusste, wo mein Großvater war und ob er noch lebte. Dass meine Lieblingstante mich einfach so fortgeschickt hatte. Obwohl ich das gar nicht wollte, habe ich einfach immer weitererzählt. Am Ende kannte er fast meine ganze Geschichte. Er hat mir die ganze Zeit zugehört, ohne etwas zu sagen. Auch danach hat er mir keinerlei Vorwürfe gemacht.

      „Du musst fest daran glauben, dass alles gut werden wird“, sagte er nur und legte mir dabei seine Hand auf die Schulter.

      Auch in den nächsten Tagen musste Dr. Ponyandeh oft aus dem Haus. Ständig hatte er irgendwelche Treffen, und einmal musste er auch Fotos von einer Hochzeit machen. Aber wenn er zu Hause war, nahm er sich immer auch Zeit, sich mit mir zu unterhalten. Dabei sagte er manchmal auch Sachen, die ich nicht so richtig verstand. Dass die islamische Regierung eigentlich gar nicht islamisch sei, zum Beispiel, oder dass die Mullahs den Koran für politische Ziele missbrauchten. Als ich ihm sagte, dass ich viele Verse des Koran auswendig gelernt hatte, fragte er, ob ich denn auch wüsste, was die arabischen Wörter bedeuteten. Das haben sie mir nicht beigebracht, gab ich zu.

      „Wer die Menschen Worte auswendig lernen lässt, ohne ihnen deren Bedeutung zu erklären, der verhöhnt das größte Geschenk, das Allah dem Menschen gegeben hat, den Verstand“, erklärte er. Da habe ich ihm gesagt, dass auch mein Vater und mein Großvater immer so über „die Bärtigen“ gesprochen hätten. Da nickte er mir zu.

      „Sogar das Wahrhaftigste und Weiseste, was der Islam jemals hervorgebracht hat, wollen sie auslöschen.“ Als ich ihn fragend ansah, meinte er nur, ich solle mir den Namen merken, der als mein Geburtsort in meinem iranischen Ausweispapier stehe: Gonabad. Für später, wenn ich in Sicherheit sei und wieder lernen könne. Denn das sei das Wichtigste: Ein Leben lang zu lernen und nach der Wahrheit zu suchen.

      Immerhin verstand ich durch diese Gespräche auch das Persisch meines Beschützers immer besser. In den letzten anderthalb Tagen brachte er mir gezielt auch noch die richtige Aussprache einiger nützlicher Worte und Sätze bei. Zu meiner Sicherheit, wie er sagte. So werde man nicht sofort hören, dass ich aus Afghanistan käme, wenn ich in eine Polizeikontrolle geriete. Er und Shahin befürchteten nämlich inzwischen, dass sich die Lage nun doch nicht so schnell wieder beruhigen würde. Es sei daher besser, meine Fahrt nach Teheran nicht noch länger hinauszuschieben.

      Spätabends am zweiten Tag war Shahin nochmal vorbeigekommen. Er hatte seinem Lehrer Bilder von einer ‚Demonstration‘ zeigen wollen, an der er an dem Nachmittag teilgenommen hatte.

      „Habe ich‘s dir nicht gesagt? Die schrecken vor nichts zurück“, hatte Dr. Ponyandeh festgestellt, nachdem er eine Weile schweigend auf den kleinen Bildschirm geschaut hatte, den Shahin ‚Smartphone‘ nannte.

      „Sieh dir das an, Reza aus Gonabad, so brutal ist dieses Mullah-Regime hier bei uns.“ Damit hatte Shahin auch mir diesen Bildschirm hingehalten. Da war ein großer Platz voller Menschen zu sehen. Die hielten Schilder hoch und riefen etwas im Chor. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht. Eine junge Frau hielt ein Schild hoch, auf dem stand „Marg bar Taliban“, „Tod den Taliban“! Was die Leute riefen, verstand ich erst, als ich genauer hinhörte: „Die Menschen betteln, die Mullahs herrschen wie Götter.“ Und plötzlich tauchten Männer mit Helmen auf und begannen, mit langen Stangen wahllos auf die Menschen einzuschlagen. Alle liefen durcheinander, manche stürzten und die Männer mit den Helmen traten sie auch noch mit ihren Stiefeln. Die machten selbst vor den Frauen nicht halt. Die Bilder wurden immer wackeliger und dann wurde der Bildschirm dunkel.

      „Ich fürchte, das ist nur der Anfang“, hatte Dr. Ponyandeh gemeint. „Es wird wieder Massenverhaftungen geben.“

      „Am besten, ich bringe ihn übermorgen, wenn die erste Welle vorbei ist, ganz früh an den Busbahnhof. Ich schätze, bei dem Gewimmel dort um die Zeit können die höchstens Stichprobenkontrollen durchführen,“ hatte Shahin gesagt.

      Ich hatte zunächst gar nicht verstanden, dass es dabei um mich ging.

      Die Fahrt von Maschhad bis nach Teheran kam mir unendlich lang vor. Dabei kam ich so schnell voran, wie noch nie, seit ich Kabul verlassen hatte. Der Bus war ganz früh am Morgen pünktlich abgefahren und spät in der Nacht fuhren wir in den Busbahnhof in Teheran ein.

      Am Anfang der Fahrt hatte ich gestaunt, wie modern