Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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etwas zu essen bekommen. Selbst das war nur eine Schüssel Reis ohne jede Beilage gewesen.

      Die nächsten beiden Fußmärsche kamen uns noch wesentlich länger vor. Der letzte führte dann auch noch durch bergiges Gelände. Belal, der zwischendurch schon immer mal wieder schwer gekeucht hatte, begann so laut zu jammern, dass unser Führer ihn anzischte, nicht so einen Lärm zu machen. Ich hätte meinem Freund gerne geholfen, aber ich konnte mich zuletzt selber kaum noch auf den Beinen halten. Meine Fußsohlen brannten und waren sicher schon wieder blutig gelaufen.

      Der Morgen dämmerte schon, da trafen wir nach diesem letzten Marsch endlich wieder auf die Straße. Diesmal mussten wir längere Zeit warten, bis unser weißer Toyota in Sicht kam. Der aber hielt – da waren wir kaum eine Viertelstunde gefahren – schon wieder an. „Nein!“, riefen Belal und ich gleichzeitig.

      „All okay, all okay. “ Zum ersten Mal sagte auch der Fahrer etwas, während sein Kumpel schon wieder von außen die Wagentür aufriss. Er wies auf den Feldweg, der von der Straße abging. „Here“, sagte er, „you wait.”

      Kaum hatten wir unsere Rucksäcke aus dem Auto gezogen, schlug er die Tür zu, sprang vorne zu dem Fahrer ins Auto und wir konnten nur noch dem davonfahrenden Wagen hinterherstarren, bis seine roten Rücklichter in der Ferne verschwunden waren. Wir waren zu verblüfft und auch zu erschöpft, um etwas zu sagen. Wir ließen unsere Rucksäcke hinter einer hohen Platane fallen, die an der Abzweigung stand, setzten uns so an deren Stamm, dass man uns von der Straße aus nicht sofort sah, und streckten die schmerzenden Beine von uns. Es dauerte keine Minute, da fing Belal neben mir an, laut zu schnarchen.

      „Kadér?“ Ich schreckte hoch. Ein kleiner Lieferwagen stand direkt neben uns auf dem Feldweg. Der Beifahrer hatte das Fenster heruntergekurbelt und grinste zu uns herunter. Ich nickte, stieß Belal an und wir erhoben uns mühsam.

      „Yallah, yallah“! Der Mann wies hinter sich auf die offene Ladefläche. Ich half Belal hinauf und kletterte hinterher. Währenddessen kam der Mann zu uns nach hinten, warf mir irgendwas in Zeitungspapier Eingewickeltes zu und reichte Belal eine große, zerbeulte Teekanne. Der hob kurz den Deckel an. „Tatsächlich – warmer Tee“, sagte er. Das in dem Zeitungspapier war Fladenbrot. Während unser Wohltäter wieder nach vorne lief, verzogen wir uns mit diesem Schatz in den Windschatten des Führerhauses.

      Belal goss sich geschickt einen dicken Strahl Tee direkt in den weit aufgesperrten Mund. Dann gab er die Kanne an mich weiter. Ich reichte ihm dafür eines der Fladenbrote. „Service nicht schlecht“, stellte mein Freund zufrieden fest und biss in das weiche Brot. Er schien erstaunlich schnell aus dem Tief der hinter uns liegenden Nacht herausgefunden zu haben und spielte schon wieder ganz den ‚Businessman‘.

      Dass er sich als solchen sah, hatte er mir eröffnet, als wir beide noch allein in dem großen Kellerraum der Herberge in Van gesessen hatten. Da hatte er erzählt, in Kabul habe er ein gut gehendes Geschäft mit Mobiltelefonen betrieben, gleich neben dem Stoffladen seines Vaters auf dem Basar. Auf meine Frage, warum er dann überhaupt geflohen sei, hatte er gemeint, Afghanistan sei kein guter Ort für einen Businessman.

      Jetzt erklärte er mir, er wolle nach Deutschland. Da könne man gute Geschäfte machen. Mit dem Geld, dass er mit dem Verkauf seines Handygeschäfts verdient habe, habe er selbst nach der Bezahlung der Dienste von Kadér immer noch ein kleines Startkapital übrig. Und in Deutschland bekäme man, wenn man es erst einmal dorthin geschafft habe, auch gleich eine Wohnung und sogar ein Gehalt vom Staat.

      Die gleiche Geschichte, die ich schon von Onkel Najib gehört hatte. Dass ich das nicht so recht glaubte, sagte ich nicht. Stattdessen erzählte ich ihm, dass ich lieber nach Frankreich wollte.

      Er lächelte mitleidig. Ob ich nicht wüsste, dass Flüchtlinge dort nicht willkommen seien, und dass man sie in Regen und Kälte im Freien kampieren ließe.

      Ich verzichtete darauf, ihm zu erzählen, wie oft mein Großvater von seinen Kollegen aus Frankreich geschwärmt hatte. Erstmal gab es ohnehin Dringenderes als fruchtlose Diskussionen über unsere Zukunftspläne.

      Während der Lieferwagen Fahrt aufnahm, zog ich meine Schuhe und Strümpfe aus, opferte einen Schluck Tee, um die Stellen zu säubern, an denen sich von den Märschen der Nacht wieder blutige Blasen gebildet hatten. Ich wickelte die letzte saubere Binde darum, die ich noch in meinem Rucksack gefunden hatte. Belal tat es mir nach. Er opferte sogar ein Hemd, indem er einen der Ärmel abtrennte, um damit seine Fußsohlen abzupolstern, die genauso schlimm aussahen wie meine.

      Als der Kleintransporter anhielt, waren wir vorbereitet – so gut es eben ging. Der Fußmarsch dauerte nicht mal eine halbe Stunde. Auch den Rest des Tages kamen wir schnell voran. Wir mussten nur noch zwei Mal nicht allzu lange Strecken zu Fuß laufen. Beim ersten Mal hielt am Ende statt unseres kleinen, offenen Lieferwagens ein etwas größerer mit einer Plane über dem Laderaum neben uns. Wir waren heilfroh über das Dach über unserem Kopf, denn wir hatten seit dem Mittag in der prallen Sonne gesessen.

      Es war schon dunkel, als wir auf eine holprige Piste einbogen und ein Stück weit in ein enges Seitental hineinfuhren. Als wir hielten und der Motor abgestellt wurde, hörten wir ein lautes Rauschen. Wir warteten ergeben auf das, was jetzt kommen würde. Den Planungen und Launen der Schlepper und ihrer Helfer ausgeliefert zu sein, waren wir ja inzwischen gewöhnt. Wir hörten, dass der Fahrer aus dem Führerhaus stieg. Er kam aber nicht zu uns nach hinten. Stattdessen hörten wir ein Knacken und Knistern und dann eine laute Stimme, die zu telefonieren schien. Eine immer wieder vom Knacken unterbrochene Stimme antwortete. „Funkgerät“, sagte Belal. Mehrmals fiel das Wort Kadér, aber das war auch das einzige, was wir von dem kurzen Austausch verstanden.

      „Los, aussteigen“, hörten wir die Stimme von draußen. „Nun los, beeilt euch!“ Als wir von der Ladefläche sprangen, stellten wir fest, dass der Laster direkt an einer Felswand parkte, die rechterhand aufragte. Die Scheinwerfer erhellten nur noch ein kurzes Stück Piste vor uns, bis dahin, wo diese um die nächsten Biegung verschwand. Dahinter verlor sich ihr Licht im Dunkel eines Abgrunds auf der anderen Seite. Von dort drang das Rauschen herauf, das wir die ganze Zeit gehört hatten. Der Fahrer rief uns etwas zu, was wir nicht verstanden und zeigte dabei tiefer ins Tal hinein. Ohne weitere Erklärung kletterte er ins Führerhaus, setzte ein paar Mal vor und zurück, um auf dem schmalen Streifen zwischen Felswand und Abgrund zu wenden und fuhr in hohem Tempo davon.

      Wir waren mit dem Rauschen des unsichtbaren Flusses allein, in einem engen Tal, das anscheinend von schroffen Bergen eingefasst war, von denen wir im Dunkeln aber nur schemenhafte Umrisse gegen den Sternenhimmel wahrnahmen. Ein Gefühl totaler Verlassenheit überkam mich. Ein Gefühl, das mir nur allzu vertraut war. Da half es auch nichts, das Belal neben mir stand und in seinem offenbar unerschütterlichen Optimismus meinte, irgendwie werde es schon weitergehen. Schließlich wollten die Geld verdienen mit uns.

      Wir liefen vorsichtig bis zur nächsten Biegung vor. Dahinter aber war nichts auszumachen, was uns als Orientierung oder Ziel hätte dienen können. Einfach so weiter in die Dunkelheit zu stolpern, ohne zu wissen, wohin es ging, kam uns beiden sinnlos vor. Wir beschlossen, zu warten, bis es hell wurde und ließen uns an der Felswand nieder.

      Belal sagte längere Zeit nichts mehr. Aber ich merkte, allmählich bekam er doch Angst. Bei jedem Vogelschrei vom Hang gegenüber, jedem Platschen unten in der Schlucht, jedem Rascheln noch näher bei uns zuckte er zusammen. Ich fragte ihn, ob er denn noch nie nachts allein in den Bergen gewesen sei.

      „Du etwa?“, fragte er zurück.

      „Du, da kommt jemand“, sagte ich. Gerade in dem Moment hatte ich einen Lichtpunkt bemerkt, der in der Ferne auf und ab tanzte. Ja, der bewegte sich eindeutig auf uns zu.

      Der Platz unten am reißenden Bergfluss war ideal für eine Übernachtung so vieler Menschen, die niemand bemerken sollte. Obwohl er kaum eine Viertelstunde von dem Ort entfernt war, an dem Belal und ich uns niedergelassen hatten, war von dort kein Laut und kein Lichtstrahl zu uns gedrungen. Die Stelle unter der leicht überhängenden Uferböschung, wo der große Laster stand, war von der Piste aus wohl selbst bei Tageslicht nicht einsehbar, ebenso wie der Fahrweg, der dort hinunterführte, wohl nur jemandem auffiel, der die Stelle gut kannte.

      Der