„Grenzpatrouille!“ Panik in der Stimme des Fahrers. „Raus aus dem Wagen, los raus!“ Zabiullah stieß als Erster die Beifahrertür auf, dann kapierte auch Malik, der neben mir an der Tür saß. „Lauft!“, brüllte der Schlepper uns an, „Nach Dorf hin!“ Wir waren schon aus dem Wagen gesprungen, da rief er uns noch hinterher, wir sollten uns trennen. „Einzeln! Sicherer!“
Faizal und Zabiullah spurteten los, jeder für sich.
„Los!“, schrie ich Belal zu, der direkt vor mir stand.
Hinter uns heulte der Motor auf, mit durchdrehenden Reifen wendete unser Geländewagen und nahm Fahrt auf in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Im gleichen Moment blendeten dort, wo wir die roten Lichter gesehen hatten, helle Scheinwerfer auf.
Belal verschwand gerade unter uns in der Dunkelheit.
„Komm, wir bleiben zusammen“, rief ich meinem Freund und Bruder Malik zu, der immer noch in Schreckstarre neben mir stand. Ich packte ihn am Arm und zog ihn den Abhang hinunter. Der war nicht allzu steil, aber raue felsige Abschnitte wechselten mit grasbewachsenen Flächen, auf denen man leicht ausrutschen konnte. So schnell es ging, tasteten wir uns mit den Füßen voran.
Plötzlich fuhr ein Lichtstrahl quer über den Hang, glitt über uns hinweg und zuckte nach oben. Das Patrouillenfahrzeug musste seitlich von uns durch eine Kurve gegangen sein. Die hatten uns in dem freien Gelände ganz sicher bemerkt. Da hörten wir auch schon das lauter werdende Motorengeräusch über uns. Rutschend und springend arbeiteten wir uns in der Dunkelheit noch schneller nach unten.
Über uns quietschende Bremsen, über Schotter schlurfende Reifen und das ersterbende Motorengeräusch. Plötzlich erfasste uns eine breite Bahn weißen Lichts. „Halt, stehenbleiben!“
Wie die Hasen sprangen wir seitwärts, um der plötzlichen Helligkeit zu entfliehen. In dem Moment, in dem wir ins Dunkel tauchten, hörte ich Schüsse. Malik stürzte zu Boden. Plötzlich lag ich über ihm. Ich wälzte mich zur Seite und rappelte mich hoch. „Los, weiter!“ Malik rührte sich nicht.
Ich habe noch versucht, ihn mitzuziehen, aber da ruckte der breite Lichtstreifen schon auf mich zu. Wie von Sinnen rannte ich los, weg von dem Licht und weiter den Hang hinab, ein Wunder, dass ich nicht gestürzt und ebenfalls liegengeblieben bin.
. . .
„Boah ey! Ich brauche jetzt erstmal ne Teepause.“
„Okay“, hat Martina nach einem tiefen Seufzer geantwortet, „aber keine so lange. Ich will schließlich wissen, wie’s weitergeht.“ Sie ist mir in die Küche gefolgt. „Glaubst du, dass sie diesen Malik tatsächlich einfach so erschossen haben?“ Sie hat meine Antwort gar nicht erst abgewartet. „Das muss dem Jungen doch schrecklich nahegegangen sein. Aber er deutet seine Gefühle ja immer nur an. Nicht mal an der Stelle, wo er bei der Beschreibung seiner Fahrt über diesen großen See vom ‚Untergang‘ der Welt seiner Kindheit spricht, gibt er offen zu, dass ihm die Erinnerung daran Tränen in die Augen getrieben hat. Stattdessen schreibt er nur irgendwas von Fahrtwind.“
„Ich finde es eher bemerkenswert, dass er überhaupt ein so emotionales Wort wie ‚Untergang‘ gebraucht. Das schreit doch förmlich nach einer Erklärung. Aber da kommt nichts.“
„Stimmt. Manche nicht ganz so bedeutsame Kleinigkeiten beschreibt er bis ins Detail. Aber über die Gründe für seine Flucht, zum Beispiel, hat er offenbar nicht einmal mit diesem Belal oder mit seinem Freund Malik sprechen wollen. Das finde auch ich äußerst seltsam.“
„In dem Fall will er uns vielleicht indirekt etwas sagen. Nämlich, dass er uns dankbar ist, dass auch wir ihn nie näher über die Gründe für seine Flucht ausgefragt haben.“
„Wie dem auch sei, ich habe jedenfalls das Gefühl, dass es hinter all dem, was er erzählt, noch etwas gibt, was er auch uns gegenüber selbst jetzt noch nicht preisgeben will.“
„Zumindest bestätigt das, was er hier schreibt, immer wieder, dass der Junge offensichtlich alles andere als ein strenggläubiger Muslim ist. So brauchen wir uns wenigstens in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen“, habe ich noch gesagt, aber da kochte das Wasser schon. Noch während der Tee zog, habe ich schon wieder nach dem Hefter gegriffen und weiter vorgelesen.
Türkei
„Jetzt iss erst mal was.“ Heißhungrig verschlang ich das Brot, den Ziegenkäse und die Oliven, die der junge Kurde vor mich hingestellt hatte. Mit einem leisen „Kadér?“ hatte er mich hinter der Mauer hervorgelockt, hinter der ich mich vor ihm versteckt hatte.
Es war der nagende Hunger gewesen, der mich dazu getrieben hatte, mich im Morgengrauen ins Dorf zu schleichen. Einen Tag und eine Nacht hatte ich mich in einer Schlucht oberhalb des Dorfes versteckt. Bevor ich im Morgengrauen einen Weg dort hinunter gefunden hatte, hatte ich noch vom Rand dieser Schlucht aus beobachtet, wie zwei Polizeifahrzeuge mit abwechselnd blau und rot blinkenden Lichtern ins Dorf gerast waren.
Mein Retter bestätigte mir, dass die Polizei nach meinen Freunden gefahndet hatte. Die aber waren zu der Zeit schon mit seinem Onkel auf dem Weg in die Stadt. Sie hatten anscheinend versichert, es sei sinnlos, weiter zu warten. Malik und ich seien erschossen worden, oben am Berg. „Peng, peng“, sagte der junge Mann und zeigte nach oben. Dabei blickte er fragend auf den großen rotbraunen Fleck auf meinem Hemd. Den hatte ich selbst nach mehrmaligem Waschen in dem Bach unten in der Schlucht nicht herausbekommen. Mit Händen und Füßen und ein paar Brocken Farsi demonstrierte ich ihm, wie ich mich über Malik geworfen hatte, aber dass es da schon zu spät gewesen war.
Ich müsse so schnell wie möglich hier weg, gab er mir zu verstehen. Er werde das sofort arrangieren.
Eine halbe Stunde später kam er zurück, mit einem alten, aber sauberen Hemd für mich und der Nachricht, jemand werde mich zusammen mit einer Ladung Teppiche in die Stadt Van bringen. Diesem Mann müsse ich als erstes auch mein iranisches Ausweispapier aushändigen. Wenn man mich damit erwischte, würde man mich umgehend in den Iran abschieben, machte er mir klar. Ich erinnerte mich, dass auch Herr Ponyandeh schon gesagt hatte, in der Türkei würde ich neue Papiere benötigen.
Ja, Papiere in Van, bestätigte mir der junge Kurde.
Die Fahrt nach Van hat nur ein paar Stunden gedauert, mir aber kam sie schier endlos vor. Den Transport auf der Ladefläche von Kleinlastern war ich inzwischen gewöhnt. Diesmal aber lag ich unter einem schweren, alten Teppich, den mein spontan rekrutierter Fluchthelfer wie zum Schutz über seine Ladung zusammengerollter brandneuer Teppiche gebreitet hatte. Schon durch das Gewicht über mir fiel mir das Atmen schwer. Obwohl mein Kopf zum Führerhaus hin unter diesem alten Teppich hervorragte, atmete ich noch dazu die ganze Zeit so viel Staub ein, dass mir bald vom ständigen Husten die Lunge wehtat. Man hatte mir auch eingeschärft, sofort den Kopf einzuziehen, wenn es eine Kontrolle gäbe, womit auf dieser Strecke zwei- oder dreimal zu rechnen sein würde. So kam ich mir die ganze Zeit wie eine Schildkröte vor, stets bereit, mich unter meinen Panzer zurückzuziehen.
Zweimal wurde unser Kleinlaster tatsächlich gestoppt. Obwohl mir beide Male das Herz bis zum Hals klopfte, schienen mir die Kontrollen im Nachhinein ziemlich oberflächlich gewesen zu sein. Keine nähere Inspektion der Ladung, und statt des barschen Befehlstons, den ich aus Afghanistan kannte, klang das, was ich hörte, eher wie eine freundliche Unterhaltung. Ich hatte den Eindruck, man kannte sich.
Viel schlimmer aber waren ohnehin die Momente, in denen ich erneut in den dunklen Fluten zu versinken drohte, die über mich gekommen waren, als ich beim Abstieg in die Schlucht im Morgengrauen das Blut auf meinem Hemd entdeckt hatte. Immer wieder erschien Maliks melancholisches Hazara-Gesicht vor meinen Augen. Immer wieder durchlebte ich die letzten Minuten mit meinem Freund. Warum bloß hatten wir nicht auf unseren Fahrer gehört und waren getrennt den Berg hinunter geflüchtet. Ich aber war derjenige gewesen, der gesagt hatte, „wir bleiben zusammen.“