Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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an. Wir fuhren und fuhren. Der Motor dröhnte, oder war es mein Kopf? Ich spürte meinen Körper nicht mehr. Da war auch kein Durst. Die Wände unseres Sargs schienen sich verflüchtigt zu haben. Es war, als versänke ich in einem Meer aus aufwallender Dunkelheit. Fühlte es sich so an, zu sterben? Mein Herz raste. Meine Faust presste gegen mein Gesicht. Mir war, als hätte ich laut geschrien.

      Iran

      Ich spürte eine Hand an meinem Hinterkopf. Jemand hielt mir eine Flasche an den Mund, „Trink“, sagte eine Stimme. Ich begann, gierig zu schlucken. Ich musste husten und riss meine Augen auf. Ganz nah vor mir lachte Karims Gesicht. „Wir haben’s geschafft.“ Sie hatten mich gegen einen der Säcke gelehnt. Hinten saß Abdul blass und apathisch auf dem geschlossenen Sarg. Ein Laster fuhr in hohem Tempo dicht an uns vorbei. Die Plane am Einstieg wurde kurz zur Seite geweht, so dass für einen Moment blendendes Licht in den Laderaum fiel. „Wir müssen weiter“, rief Dschingis von draußen.

      . . .

      „Unglaublich, was unser Junge da durchgemacht hat“, hat Martina gesagt und hat die schwarze Mappe auf die Sessellehne sinken lassen. „Und wie lebendig er das alles beschreibt…“

      „Ich bin sicher, da hat ihm Samira kräftig geholfen. Er wird seine Erlebnisse einfach kurz geschildert haben und sie hat dann eine ausformulierte Geschichte daraus gemacht. Das beweisen ja allein schon der Wortschatz und die korrekte Grammatik. Manches habe ich allerdings nicht so ganz verstanden. An der einen Stelle zum Beispiel schreibt er etwas von seiner ‚Zeit in den Bergen‘. Ich dachte immer, er hätte die ganze Zeit in Kabul gelebt.“

      “Was ich noch viel weniger verstehe: Warum haben ihn seine Tante und deren Mann so einfach davongejagt? Seine Eltern sind, wie wir wissen verstorben. Aber es gibt ja noch diesen Großvater, an dem er offenbar sehr hängt. Und von Vaterseite gibt es anscheinend doch auch noch Verwandte. Warum hat ihn keiner von denen aufgenommen?“

      „Wir sind ja erst am Anfang. Vielleicht wird das ja alles später noch klarer. Und jetzt lass mich weiter vorlesen.“ Ich habe Martina die schwarze Mappe aus der Hand genommen und habe mich auf dem Sofa ausgestreckt.

      . . .

      „Wo sind wir hier?“, fragte ich, als ich hinter Abdul aus dem Laderaum kletterte.

      „Kurz vor Taybad“, antwortete Karim. „Hier fallt ihr nicht weiter auf, solange ihr auf dem Gelände der Ziegelei bleibt.“ Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Er hatte offenbar bemerkt, dass mein Blick beim Herunterklettern an dem offenen Karton hängengeblieben war, der so auffällig ganz vorn an der Ladefläche stand. „Damit haben wir euch sicher über die Grenze gebracht“, erklärte er. Ich sah ihn verständnislos an. „Safran. Eine der Dosen da drin kostet mehr, als ein iranischer Grenzbeamter in einem ganzen Monat verdient. Und für euch haben wir sogar zwei davon opfern müssen.“

      „Sind etwa alle diese Kartons voll mit so teuren Dosen?“, fragte ich.

      „Glaub‘ nicht, dass wir mit dieser Ladung reich werden können. Als Afghanen können wir die hier im Iran nur weit unter Marktpreis losschlagen – und Zoll haben wir auch noch dafür bezahlt.“

      „Und die Säcke?“, fragte ich.

      „Rosinen und getrocknete Aprikosen. Praktisch, um blinde Passagiere darunter zu verstecken. Aber so billig hier im Iran, dass uns keiner glauben würde, dass wir extra dafür die Reise über die Grenze machen. Und jetzt macht, dass ihr da rüberkommt. Und sagt, dass ihr von Kadér seid.“

      Hungrig, durstig und immer noch unsicher auf den Beinen nach unserer stundenlangen Gefangenschaft in der Holzkiste liefen Abdul und ich mechanisch auf die Lücke in der niedrigen Mauer zu, auf die Karim gezeigt hatte. Auf halbem Wege blickte ich noch einmal zurück. Karim schwang sich gerade auf seinen Sitz hinauf. Er schlug die Tür des Führerhauses zu, und der Laster, der zehn Tage lang mein Zuhause gewesen war, setzte sich sofort in Bewegung. Karim hat sich nicht einmal mehr nach mir umgedreht.

      Durch die Mauer gelangten wir auf ein weites Gelände, das sich bis zum Fuß eines langgezogenen Hügels erstreckte. Nicht weit von uns war eine große quadratische Fläche mit in dichten Reihen zum Trocknen senkrecht aufgestellten Lehmziegeln bedeckt. Daneben hatte etwa ein Dutzend Kinder begonnen, ein weiteres solches Quadrat mit Ziegeln zu füllen. Die schleppten sie von einem weiter entfernt liegenden Platz an, an dem andere Kinder damit beschäftigt waren, frischen Lehm in hölzerne Formen zu pressen. Der Lehm wiederum wurde von etwas größeren Jungs in Schubkarren vom Fuß des Hügels im Hintergrund herangekarrt. Kaum hatten wir uns so weit orientiert, als schon ein großer, hagerer Kerl, der offenbar die Arbeiten überwachte, auf uns zukam.

      „Was lungert ihr hier herum“, herrschte er uns an. Da wir zu Hause Dari gesprochen hatten, verstand ich sein Persisch, auch wenn die Aussprache für mich ungewohnt war.

      „Wir kommen von Kadér“, sagte ich.

      „Mitkommen“, sagte er barsch und lief uns voraus auf ein zweistöckiges Gebäude zu. Der Raum, in den er uns führte, war mit Teppichen ausgelegt und wurde von mehreren Neonlampen hell erleuchtet. An der Rückwand hing ein Wandteppich mit dem Bild einer prächtigen Moschee darauf. Darunter saß ein rundlicher Mann mit spiegelnder Glatze und einem mächtigen Schnauzbart auf einem Sofa und wühlte in einem Haufen Papiere, die er auf dem niedrigen Tisch vor sich ausgebreitet hatte.

      „Hier sind welche von Kadér“, stellte uns der Hagere vor. „Sagt ihm, wie ihr heißt.“

      Ich nannte meinen Namen und stieß Abdul an, der die Aufforderung wohl nicht richtig verstanden hatte. „Abdul“, sagte der leise. Der Rundliche blickte von seinen Papieren auf, lehnte sich zurück und musterte uns.

      „Ich habe euch schon vor drei Tagen erwartet“, sagte er, und nach einer Pause: „Du da“ – dabei zeigte er auf Abdul – „kannst gleich schon mal anfangen. Ist doch wohl noch mindestens eine Stunde hell draußen, oder?“, vergewisserte er sich bei seinem Mann.

      „Aber klar doch“, sagte der grinsend und packte Abdul an der Schulter. Der wand sich los.

      „Ich bleibe bei Adib. Wir gehören zusammen.“

      „Er ist mein Freund“, sagte ich, aber ich wusste, es würde nichts nützen. Dies war offenbar die Ziegelei, in der Abdul ab jetzt arbeiten musste.

      „Afghanizag“, sagte der Hagere, der uns hergebracht hatte, verächtlich, packte meinen Freund – diesmal fest an beiden Schultern – und schob ihn vor sich her aus der Tür.

      Der Schnurrbart wühlte noch kurz in seinen Papieren, dann erhob er sich seufzend und kam auf mich zu. Er machte einen Bogen um mich und rümpfte die Nase.

      „Wie kann man nur so erbärmlich stinken“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu mir, lief zur Tür vor und sah sich draußen um, als suche er etwas. Dann wandte er sich zu mir um. Es werde ein paar Tage dauern, bis er alles für meine Weiterreise arrangiert haben werde, sagte er. Vor allem das mit den Papieren werde dauern. Mir war das gerade recht. Dann würde es für mich ja wohl ein paar Tage Pause geben – Aussicht also, mich endlich einmal wieder richtig waschen und nachts ungestört schlafen zu können. Womöglich würde es sogar einigermaßen regelmäßig etwas zu essen geben. Der Schnurrbart winkte mich zu sich vor das Haus und zeigte auf einen separaten Eingang am Ende des Gebäudes. „Dort wird man sich um dich kümmern.“ Es klang nicht einmal unfreundlich.

      Ein Klopfen riss mich aus dem Schlaf. Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Durch das schmale, hochgelegene Fenster fiel ein Streifen Sonnenlicht in das kleine Zimmer mit den kahlen, weißen Wänden. Ich lag hoch über dem Boden, auf einer richtigen Matratze in einem Bettgestell aus Metall. Vor dem Bett, auf dem Boden, mein Rucksack. Das war das Zimmer, in dem ich nun schon zwei volle Tage zugebracht hatte.

      Wieder das Klopfen.

      „Ja“, sagte ich und setzte mich auf.

      Statt der alten Frau, die mir hier dreimal am Tag etwas zu essen brachte, streckte ein auffallend großer, hagerer Mann mit schwarzgeränderter Brille den Kopf zur Tür herein. Ob er eintreten dürfe.