»Hast du eine Ahnung, was es mir bedeuten würde, dich in dieses Manuskript aus dem 16. Jahrhundert einzuwickeln?«
Sie lachte. »Vielleicht könnte ich eine Pause vertragen.«
»Wie wäre mit Abendessen in diesem neuen indischen Restaurant?«
»Ich bin nicht besonders hungrig.«
»Wir könnten vorher noch etwas an deinem Appetit arbeiten, bevor wir gehen.«
»Woran denkst du?«
»Ich zeig’s dir.«
Er führte sie ins Schlafzimmer. Sie küssten sich. Selena begann ihre Bluse aufzuknöpfen. Dann hielt sie plötzlich inne.
»Oh«, sagte sie.
Nick wollte gerade sein Shirt ausziehen. Auch er verharrte regungslos, die Hand an seinem Gürtel. »Was ist los?«
»Mir ist gerade etwas eingefallen.«
Sie verließ das Schlafzimmer und knöpfte sich ihre Bluse wieder zu.
Nick blieb für einen Moment neben dem leeren Bett stehen. Das war der Nachteil, wenn man mit Selenas Verstand unter einem Dach lebte. Er seufzte und folgte ihr ins Nachbarzimmer. Sie lief zu einem Buchregal, zog eine Bibel heraus und lief mit ihr zu dem Tisch mit dem Manuskript. Dann setzte sie sich und begann in der Bibel zu blättern.
»Was machst du da?«
»Ich hatte eine Idee, was Jean-Paul gemeint haben könnte, als er EX 25 schrieb. Es könnte ein Verweis auf die Bibel sein.«
Sie fand das Buch Exodus und blätterte zum Kapitel 25. »Oh Gott«, stieß sie hervor.
Kapitel 7
Ronnie Peete, ehemalige Gunnery Sergeant des US Marine Corps, saß zusammen mit Lamont und Stephanie auf der Couch in Harkers Büro. Er trug eines seiner weniger auffälligen Hawaiihemden mit weißen und roten Blumen auf braunem Untergrund. Der Grundton des Hemdes glich beinahe der Farbe seiner Haut. Ronnie war ein Navajo-Indianer und im Reservat in Arizona aufgewachsen. Er hatte eine lange Nase und dunkelbraune Augen. Die Leute dachten sofort an Gemälde und alte Fotos aus dem Wilden Westen, wenn sie Ronnie sahen und er nicht gerade mit einer Waffe auf sie zielte.
Ronnie wirkte entspannt. Lamont hingegen schien vor Ungeduld beinahe an die Decke zu springen. Seine Augen waren eisblau, ein Zeichen seiner äthiopischen Abstammung. Quer über sein Gesicht verlief eine rosafarbene Narbe von einer Schrapnellwunde, die er sich im Irak zugezogen hatte. Manchmal starrten ihn kleine Kinder mit großen Augen an, wenn sie an ihm vorbeiliefen, und klammerten sich an ihre Mütter. Das verletzte ihn, aber er konnte nur wenig dagegen tun.
Harker räusperte sich. »Interpol hat bestätigt, dass Bertrand das Nostradamus-Manuskript auf dem Schwarzmarkt anbot. Er stellte es auf eine geheime Website, die nur von Personen mit dem richtigen Code aufgerufen werden kann.«
Sie legte die besagte Website auf den riesigen Wandbildschirm.
»Das ist die Ausschreibung. Sie ist noch immer online. Interpol benutzt sie als Köder.«
Sie war in Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch und Chinesisch verfasst. Schweigend lasen sie den Text.
Für den anspruchsvollen Sammler: eine einzigartige Gelegenheit, die legendären verschollenen Quatrains der Prophezeiungen von Michele de Nostradamus zu erwerben. Ein Originalmanuskript, in der Handschrift des Sehers verfasst. Echtheit garantiert.
Ergänzt wurde die Anzeige durch ein prominent platziertes Foto, welches den Vers über die Cherubim zeigte. Selena seufzte. Sie wirkte enttäuscht.
Jean-Paul, dachte sie bei sich. Was ist nur geschehen, das dich dazu getrieben hat?
»Jetzt wissen wir zumindest, wieso die bösen Jungs Wind davon bekommen konnten«, sagte Nick.
»Jemand hat gestern den Paten der französischen Mafia ermordet«, fuhr Harker fort. »Sein Name war Sarti. Er war ein wichtiger Akteur im Handel mit gestohlenen Antiquitäten. Meine Intuition sagt mir, dass sein Ableben in Verbindung zu Bertrands Tod steht.«
Nick kratzte sich am Ohr. Mit ihrer Intuition lag Harker für gewöhnlich goldrichtig. »Was denken die Franzosen?«
»Dass sich Bertrands Tod während des Raubüberfalls ereignete und Sarti wegen eines Machtgerangels innerhalb seiner Organisation getötet wurde. Sie fanden die Leiche von Sartis Mörder. Er war von Sartis Leibwächter verwundet worden, aber jemand anderes tötete ihn, wahrscheinlich, damit er nichts ausplaudern konnte. Interpol ist es ziemlich egal, wenn die bösen Jungs sich gegenseitig umbringen, und verfolgt diese Sache nicht weiter. Die Franzosen warten jetzt, wer Sartis Platz einnehmen wird, aber das ist auch schon alles.«
»Konnte der Schütze identifiziert werden?«
»Das ist tatsächlich interessant. Er war Amerikaner, ehemals Special Forces.«
»Ein Söldner? Wieso sollte ein Amerikaner für die französische Mafia arbeiten? Die haben ihre eigenen Leute. Das ergibt keinen Sinn.« Nick machte eine Pause. »Vielleicht hat jemand Sarti beauftragt, das Manuskript zu besorgen, war dann angepisst, als er es nicht liefern konnte, und zahlte es ihm heim.«
»Ein bisschen extrem«, sagte Ronnie.
»Wie der Mord an Bertrand.«
»Selena, was haben Sie herausgefunden?«, erkundigte sich Harker.
»Das Manuskript stammt zweifelsfrei von Nostradamus. Es ist nicht vollständig, aber es handelt sich um einen Teil der Quatrains, die als verschollen galten. Jean-Paul wäre imstande gewesen, sie zu lesen.« Sie schwieg für einen Augenblick. »Ich glaube, ich weiß, wieso er getötet wurde. Es hat mit den Buchstaben und Zahlen zu tun, die er auf den Boden kritzelte.«
»EX 25.«
»EX 25 ist ein Verweis auf eine Stelle in der Bibel. Das Buch Exodus, Kapitel 25.«
Harker wurde ungeduldig. Ihr Stift begann auf den Schreibtisch zu trommeln. Nick wartete. Er wusste, was nun kommen würde.
»Was hat das mit dem Manuskript zu tun?«
»Kapitel 25 beschreibt Gottes Anweisungen an Moses, die Bundeslade zu bauen. Nostradamus wusste, wo sie versteckt ist.«
Harkers Stift hörte auf zu trommeln. Das hat ihr Interesse geweckt, dachte Nick.
»Wollen Sie mir erzählen, dass diese Seiten den Schlüssel zum Aufenthaltsort der Bundeslade enthalten?«
»Nostradamus glaubte das zumindest. Und Jean-Paul ebenfalls. Bis jetzt habe ich einen Quatrain gefunden, der sich auf die Bundeslade beziehen könnte. Er ist Teil einer Gruppe von drei weiteren, aber ich bin nicht sicher, was sie bedeuten.«
Sie las laut vor.
Ein dunkler Prinz sucht, was gestohlen ward
Beim Klang der Trompeten
Lassen die goldenen Cherubim die Himmel erzittern
Ob sie obsiegen oder untergehen ist ungewiss
Im Lande Moab, wo einst Moses stand
Zwei knien zu Füßen des Hirten
Fünf Zeichen markieren den Pfad
Wenn niemand ihm folgt, ein furchtbares Schicksal droht
Das, was gesucht, ward nicht gefunden
Selbst Feuer und Tod konnten die Zungen nicht lockern
Im Land des guten Königs