Am nächsten Tag brachen sie zum Berg Nebo auf, vierzig Kilometer südlich von Amman. Die Straße nach Süden war asphaltiert und hauptsächlich mit schweren Lastwagen dicht befahren. Der Land Rover rollte ruhig über den Straßenbelag dahin.
Der Tag war heiß und klar. Direkt hinter der Stadt erstreckte sich die Wüste in alle Richtungen, eine karge Landschaft aus Sand und Felsen, die unter der Hitze der grellen Sonne flackerte. Selena trug einen luftigen blauen Schal um ihren Hals und eine weiße Baumwollbluse, die sich von ihrer gebräunten Haut abhob. Eine braune Ledertasche hing an ihrem Gürtel. Ein wadenlanger Baumwollrock und Wanderstiefel rundeten ihr Outfit ab. Die Waffe hatte sie in der Ledertasche verstaut. Ihre veilchenblauen Augen waren hinter einer dunkelbraunen Sonnenbrille verborgen. Der Fahrtwind, der durch das geöffnete Fenster hereinwehte, wirbelte ihr Haar durcheinander.
Nick hatte sich für Jeans, ein kurzärmeliges Hemd und ein leichtes Jackett entschieden, das sein Holster verbergen sollte. Gegen das unbarmherzig grelle Licht trug er eine Ray-Ban-Sonnenbrille. Die Luft roch nach Wüste, trocken und rein. So roch es hier wahrscheinlich auch schon zu Moses Zeiten, dachte er.
»Wir befinden uns tief im Herzen des Alten Testaments«, erklärte Selena. »Man nimmt an, dass Moses an unserem Ziel begraben liegt, auf dem Berg Nebo. Die ganze Gegend wurde jahrhundertelang erbittert umkämpft. Von den Israeliten, den Moabitern, den Ammonitern, den Byzantinern und den Nabatäern.«
»Man fragt sich, wieso«, sagte Nick. »Wer will so etwas haben? Das ist ein trostloser Flecken Erde. Sieh es dir doch nur an. Sand, Felsen, Sonne. Ich meine, die nächste Wasserquelle ist das Tote Meer! Erinnert mich an Teile von Utah oder Nevada.«
»So etwas wie Las Vegas wirst du hier aber nicht finden«, antwortete sie.
Sie bogen westlich nach Madaba ab, eine Stadt, die für ihre prächtigen byzantinischen Mosaike berühmt war. Von hier aus waren es noch einmal zehn Kilometer bis zum Berg Nebo. Die Straße, die den Berg hinaufführte, war in einem Fischgrätenmuster aus graublauen und hellen Steinen gepflastert und zu beiden Seiten von steinernen Einfassungen und hohen Eukalyptusbäumen gesäumt.
Sie waren an einem der berühmtesten Orte der Bibel angelangt.
Sie stellten ihren Wagen ab und liefen den Rest zu Fuß, bis hinauf zum Gipfel, wo im vierten Jahrhundert nach Christus eine Kapelle zum Gedenken an den Tod Moses errichtet worden war. Zwei Jahrhunderte später war daraus eine byzantinische Kirche geworden. Nun war es ein franziskanisches Kloster und erklärtes Hassobjekt muslimischer Extremisten. Die neue Gedächtniskirche war als Zuflucht über den Ruinen der alten Kapelle errichtet worden.
Eine flache Mauer aus Kalksteinblöcken verlief um den Rand des Berggipfels. Eine hohe, modern gestaltete Skulptur von Moses‘ Stab ragte wie ein stummer Wächter in den Himmel hinauf. Vor ihnen erstreckte sich der wüste Kriegsschauplatz der drei größten Weltreligionen: das Heilige Land.
»Krasse Aussicht«, sagte Nick. »Man kann bis nach Jerusalem sehen.«
»Mehr als krasse Aussicht fällt dir dazu nicht ein?« Selena schüttelte den Kopf.
»Was willst du denn hören? Ich weiß nur, dass vor tausenden von Jahren hier eine Menge Menschen starben, weil sie unterschiedliche Namen für Gott hatten. Und deswegen sterben sie hier noch immer. Es ist heute noch so sinnlos wie damals.«
Selena wechselte das Thema und deutete nach links auf eine große Wassermasse. »Dort liegt das Tote Meer. Und da drüben kann man das Westjordanland ausmachen.«
Die Sonne brannte sengend heiß auf sie herab. »Es gibt einem ein gewisses Gefühl für Geschichte«, gab Nick zu. »Stell dir vor, vor über tausend Jahren durch diese Wüstenei zu wandern. Muss hart gewesen sein.«
»Sehen wir uns mal in der Kirche um.«
Sie liefen zu der Kapelle. Nick blieb stehen und beugte sich nach unten, um seine Stiefel zuzuschnüren. »Dreh dich nicht um, aber wir werden verfolgt. Da ist ein Mann hinter uns, mit gelbem Shirt und Baseballkappe. Er war bereits am Flughafen, und im Hotel sah ich ihn ebenfalls.«
»Könnte ein Tourist sein«, sagte sie. »Wir sind nicht die Einzigen, die hier herkommen wollen.«
»Ja, vielleicht.«
Sie traten aus dem grellen Sonnenlicht in die schattige Kühle der Kapelle. Zwei breite Seitenschiffe schlossen den Mittelgang ein. Die Kalksteinruinen der alten Basilika wurden von einem breiten, modernen Dach bedeckt. Ein Dutzend Holzbänke säumten zu beiden Seiten einen Laufweg aus Mosaiksteinen, der mit sich wiederholenden Reihen von Pfauen verziert war. Sonnenlicht strömte über die Oberlichter herein und ließ die Steine in einem sanften Licht erstrahlen. Beschädigte Säulen ragten parallel des Mittelschiffes auf.
»Es ist wunderschön«, sagte Nick.
Selena war überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, so etwas von ihm zu hören.
»Ja, das ist es wirklich.«
»Irgendetwas an dem Lichteinfall lässt diesen Ort so friedlich erscheinen.«
Sie berührte seinen Arm. Es war ein schönes Gefühl, dieses Erlebnis zu teilen. Nick lächelte.
Am hinteren Ende der Kapelle befand sich ein schlichter, aus Steinen erbauter Altar. Ein antikes Kreuzmosaik aus miteinander verwobenen Schwüngen war darüber errichtet worden. Auf der rechten Seite des Altars gab es noch einen weiteren Bereich mit einem Mosaikboden. Eine Tafel erklärte, dass dieses aus dem sechsten Jahrhundert stammte.
Das Mosaik zeigte zwei Männer mit Tieren an einer Leine. Ein Mann führte einen Strauß mit sich, der andere ein Zebra und ein getupftes Kamel. Über den Männern war ein Hirte unter einer Reihe von Bäumen zu sehen, mit Ziegen und Schafen. Und am oberen Ende des Mosaiks kämpfte ein anderer Hirte gegen eine Löwin, und ein Jäger griff einen Löwen an.
»Das nenne ich mal einen Fußboden«, sagte Nick.
»Zwei knien zu Füßen des Hirten«, sagte Selena und ließ sich auf ihre Knie sinken. Nick sah ihr dabei zu, dann blickte er auf den Boden.
»Vor dir sind fünf Bäume.«
»Das stimmt.«
»Das könnten die fünf Zeichen sein, von denen Nostradamus sprach.«
»Fünf Bäume? Das hilft uns nicht weiter.«
»Wieso sollte er es uns auch so leicht machen? Vielleicht ist da noch mehr außer den Bäumen.«
Sie erhob sich. »Wir sollten sehen, ob wir noch etwas finden.«
Sie verbrachten die nächsten zwei Stunden damit, die Kapelle zu erkunden, entdeckten jedoch nichts, was auf die Bundeslade oder die fünf Zeichen schließen ließ. Abgesehen von der Aussicht und der Kapelle mit den Mosaiken gab es hier nicht viel zu sehen. Der Mann mit der Baseballkappe war auch nicht mehr zu sehen. Nick kam zu dem Schluss, dass er wohl langsam paranoid wurde. Eine alte Angewohnheit.
»Lass uns ins Hotel zurückfahren«, sagte Selena. »Ich brauche meinen Laptop und eine Internetverbindung, um Recherchen über diese Bäume anzustellen. Sie müssen etwas bedeuten.«
Sie stiegen in ihren Wagen und fuhren die Gebirgsstraße hinunter. Der Mann im gelben Shirt und Baseballkappe blickte ihnen nach. Dann zog er sein Handy hervor und telefonierte.
Kapitel 11
Selena saß nun schon beinahe eine Stunde vor ihrem Computer.
»Ich weiß jetzt, wofür die fünf Bäume stehen, aber ich bin nicht sicher, ob uns das weiterhilft.«
Nick wartete, dass sie es näher erläuterte.
»Sie sind ein gnostisches Symbol, das mehrere Bedeutungen haben kann. Eine davon lautet, dass sie die Reinigung der fünf Sinne repräsentieren, eine Metapher für die Einswerdung