»Jean-Paul?«, rief Selena noch einmal. »Hallo? Ich bin es, Selena.«
Nicks Ohr begann zu jucken. »Hier stimmt etwas nicht«, sagte er. Er zog an seinem vernarbten Ohr. Ohne nachzudenken, griff er nach seiner Pistole. Aber sie war nicht da. Sie waren im Urlaub. Keine Waffen.
»Er ist ein alter Mann«, sagte sie, »und er hört nicht mehr so gut. Wahrscheinlich ist er im Hinterzimmer.«
Selena lief um die Ladentheke herum und teilte mit den Händen den Perlenvorhang. Der Gang dahinter war schmal, dunkel und kurz. Vom anderen Ende fiel Licht herein. Sie schritt den Gang entlang und schob einen weiteren Vorhang zur Seite. Nick stieß gegen Selena, als diese unverhofft stehenblieb.
Selenas Freund lag mit dem Rücken auf dem Boden, mit offenem Mund. Seine Zähne waren mit den Jahren von Nikotin und Kaffee gelb verfärbt. Seine Augen standen offen und starrten an die Decke. Blut bedeckte sein weißes Hemd und war zudem über die Wände verspritzt. Bücher und Dokumente lagen auf dem Boden verstreut. Der Raum stank nach Tod.
»Jean-Paul«, sagte Selena. Sie wurde blass, wollte auf ihn zueilen.
Nick aber hielt sie mit einer Hand auf ihrer Schulter zurück. »Es wäre besser, ihn nicht anzurühren.« Er trat zu der Leiche.
»Sieh dir das an.«
Sie kam zu ihm und sah auf den Boden hinab. Buchstaben und eine Zahl waren mit Blut auf ihn geschrieben worden.
»Ergibt das für dich einen Sinn?«, fragte Nick.
EX 25
»Nein. Wer sollte so etwas tun? Ich glaube nicht, dass er auch nur einen einzigen Feind auf der Welt hatte.«
»Einen zumindest schon.«
Nick deutete auf das Durcheinander. Der Raum war von jemandem durchsucht worden, der nicht vorhatte, danach wieder aufzuräumen.
»Wer immer ihn getötet hat, war auf der Suche nach etwas.«
»Er besaß einige wertvolle Erstausgaben. Es muss ein Raubüberfall gewesen sein.«
»Für ein lausiges Buch ist das übertrieben, selbst für eines, das viel Geld wert ist. Dafür hätten sie einen alten Mann wie ihn nicht gleich umbringen müssen. So etwas macht mich wütend.«
»Er klang angespannt, als ich mit ihm telefonierte. Und er bestand darauf, dass ich ihn noch heute treffe.«
»Davon hast du mir nichts erzählt.«
Sie sah auf den Leichnam ihres Freundes hinunter. »Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht.« Sie biss sich auf die Lippe.
»Tut mir leid, Selena.«
»Was jetzt?«
»Wir rufen die Polizei. Und dann rufe ich Harker an. Ich hab keine Lust, die Nacht in einem französischen Gefängnis zu verbringen.«
Direktorin Elizabeth Harker war ihre Vorgesetzte. Sie leitete das PROJECT und verfügte über die nötigen Mittel, ihnen die französische Polizei vom Hals zu halten. Der Einfluss des Präsidenten, dem sie unterstand, tat sein Übriges.
Vier Stunden später entließ sie die Polizei in ihr Hotel. Sie logierten im Stadtteil Le Marais am rechten Ufer der Seine, in einem der typisch europäischen Hotels, in denen man beim Verlassen seinen Schlüssel am Hoteltresen abgab und deren Empfangspersonal immer überaus höflich war. Es war ein freundlicher Ort, nicht zuletzt auch deswegen, weil Selena Französisch wie ihre Muttersprache beherrschte.
»Bonjour, Madame«, empfing sie der Empfangschef. »Für Sie wurde etwas abgegeben.«
Unter dem Tresen holte er ein Paket hervor. Es war in einfachem braunem Packpapier eingewickelt und an Selena adressiert. Eine Absenderadresse fehlte.
»Es wurde von einem Boten gebracht. Heute Nachmittag, während Ihrer Abwesenheit.« Er reichte es ihr zusammen mit dem Zimmerschlüssel.
»Merci.«
Sie warf einen Blick auf die Adresse auf dem Paket. »Es ist von Jean-Paul«, erklärte sie Nick. »Ich erkenne seine Handschrift wieder.«
Das Hotel besaß noch einen dieser alten Käfigaufzüge. Im Schneckentempo krochen sie darin in ihre Etage hinauf.
Ihr Hotelzimmer war groß und blickte von einem schmalen Balkon auf eine ruhige Straße hinaus. Es verfügte über ein eigenes Bad, eine Kommode, einen Fernseher, ein großes Doppelbett mit einer gemusterten Steppdecke und zwei gemütlichen Sesseln. Nick ließen sich in einen davon sinken. Selena kam aus dem Badezimmer und setzte sich aufs Bett.
»Ich frage mich, was das ist?«
»Wieso öffnen wir es nicht und finden es heraus?«
»Klugscheißer.« Sie warf ihm einen Blick zu und riss das Papier ab.
»Es ist ein Aktenordner.«
Sie zog den Ordner heraus, der mit einer roten Schnur zugebunden war, und löste den Knoten. Darin befand sich ein Manuskript, vergilbt und spröde und mit schwarzer Tinte eng beschrieben.
Selena betrachtete die erste Seite. Nick hörte, wie sie die Luft einsog.
»Das glaube ich nicht.« In ihrer Stimme lag Begeisterung. »Dieses Manuskript wurde von Nostradamus geschrieben. Ich glaube, es handelt sich dabei um die verlorenen Quatrains.«
»Nostradamus? Dieser Prophet?«
»Ja.«
»Und was bitte sind die verlorenen Quatrains?«
»Nostradamus veröffentlichte seine Weissagungen in Gruppen von jeweils einhundert Versen, den sogenannten Centurien. Jede diese Vorhersagen bestand aus einem Vierzeiler.«
»Einem Quatrain.«
Sie nickte. »Die siebte Centurie ist unvollständig. Darin fehlen achtundfünfzig Quatrains. Niemand hat sie je zu Gesicht bekommen. Dieses Manuskript ist eine absolute Rarität.«
»Selten genug, um dafür zu töten?«
»Oh ja. Es gibt Sammler, die alles dafür geben würden. Und nicht nur das. Ich glaube, Nostradamus hat diese Zeilen selbst verfasst. Ein von Nostradamus handgeschriebenes Manuskript dürfte sehr viel wert sein – die verlorenen Quatrains in seiner eigenen Handschrift aber wären unbezahlbar.«
»Dann hat Bertrands Mörder wohl danach gesucht«, sagte Nick. »Wieso hat er es dir geschickt?«
»Ich kenne ihn, seit ich ein Kind bin. Er und mein Onkel waren eng befreundet.«
»Vielleicht sollte es ein Geschenk sein.«
»Nein. Wenn es ein Geschenk wäre, hätte er es mir persönlich gegeben. Ich denke, er wollte es aus seinem Laden haben.« Sie schwieg für einen Moment. »Wer immer ihn ermordet hat, wird weiter danach suchen. Sofern sie wissen, dass er es an mich schickte.«
»Wir sollten es in die Botschaft bringen und als Diplomatenpost nach Hause schicken.«
»Du willst es behalten?«
»Willst du herausfinden, wer deinen Freud umgebracht hat? Es wird einen Grund dafür geben, warum er es dir geschickt hat. Und diesen finden wir vielleicht erst dann heraus, wenn du es gelesen hast.«
»Man liest Nostradamus Weissagungen nicht einfach nur. Er fürchtete die Inquisition. Deshalb benutzte er Wortspiele, schrieb seine Verse in Griechisch, Lateinisch und Provenzalisch. Alles ist aus gutem Grund schwer verständlich gehalten.«
»Kannst du es entschlüsseln?«
Selena galt als eine Autorität in der Übersetzung alter Texte und Sprachen, und das weltweit.