Selena sah aus dem Fenster. »Du hast recht. Bringen wir es zur Botschaft.«
Sie legte das Manuskript in den Ordner und diesen in die Schachtel zurück. Dann klemmte sie sich die Schachtel unter den Arm. Gemeinsam liefen sie nach unten, gaben ihren Zimmerschlüssel ab und verließen das Hotel. Sie liefen die Straße hinunter, um sich ein Taxi zu rufen.
Plötzlich schoss etwas aus der Gasse zu ihrer Rechten auf sie zu. Ein Mann ging auf sie los. In seiner Hand hielt er ein Messer, das in der Nachmittagssonne funkelte. Nick wehrte den Stoß mit seinem Arm ab, eine Bewegung, die ihm nach all den Jahren der Übung und des Trainings in Fleisch und Blut übergegangen war. Die Klinge drang durch sein neues Jackett und schnitt in seinen Arm. Nick ließ einen Ellbogenhieb gegen den Schädel des Mannes folgen, der dessen Arm betäubte. Dann formte er die Finger seiner anderen Hand zu einer Art Speer und trieb diese tief ins Zwerchfell des Mannes. Der Angreifer krümmte sich und Nick packte ihn mit beiden Händen am Hinterkopf und rammte ihm gleichzeitig sein Knie ins Gesicht. Der Mann sackte zu Boden. Blut schoss ihm aus der Nase. Das Messer fiel klappernd auf den Gehsteig.
Ein zweiter Mann versuchte Selena das Paket zu entreißen. Sie ließ es los, drehte sich jedoch gleichzeitig herum und setzte zu einem Tritt aus der Hüfte an. Ihr Fuß landete seitlich in der Brust des Mannes. Seine Rippen gaben ein dumpfes, knirschendes Geräusch von sich. Er schrie vor Schmerz auf und fiel zu Boden. Sie trat ihm gegen den Kopf, und dann hörte er auch auf zu schreien.
Nick rieb sich den Ellbogen und sah auf die beiden hinunter. Einer der Männer war bewusstlos, der andere wand sich stöhnend auf dem Gehweg. Der gesamte Kampf hatte weniger als zwanzig Sekunden gedauert. Von der anderen Straßenseite starrte ein älteres Paar zu ihnen herüber.
Selena machte ein angestrengtes Gesicht. Sie atmete schwer, presste die Luft zwischen ihren halb geöffneten Lippen hervor. Dann fiel ihr Blick auf Nicks Arm.
»Du blutest«, sagte sie.
Dunkles Blut sickerte durch den Riss in seinem Ärmel.
»Das ist nur ein Kratzer.«
Selena beugte sich nach unten und hob die Schachtel mit der Nostradamus-Akte auf. Nick blickte die Straße entlang. Dort bildete sich bereits eine kleine Traube von Menschen.
»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte er, »bevor die Cops auftauchen.«
»Was für ein Urlaub«, antwortete sie.
Kapitel 2
Das neue Hauptquartier des PROJECTS befand sich in bester ländlicher Lage auf dreihundert Quadratmetern im Bezirk Fairfax, Virginia, unweit der Hauptstadt Washington.
Ein dreieinhalb Meter hoher Maschendrahtzaun um das gesamte Gelände sorgte dafür, Tiere und Neugierige fernzuhalten. Die eigentlichen Sicherheitsmaßnahmen aber waren automatisiert und unsichtbar. Das Hauptgebäude sah wie ein Wohnhaus aus. Mit seiner von Säulen getragenen Veranda, der weißen Fassade und dem grünen, schrägen Schindeldach erinnerte es entfernt an den Kolonialstil. Künstliche grün angestrichene Fensterläden akzentuierten die Fenster.
Eine breite, gepflasterte Auffahrt führte von dem Zufahrtstor mit Wachhäuschen zu dem Haus hinauf. Gegenüber des Hauses stand ein flacher Betonbau mit Rolltoren. Es war leer und wartete noch auf eine Bestimmung. Die Auffahrt endete an einem betonierten Hubschrauberlandeplatz, der mit einem großen gelben Kreis markiert war. Washington und das Weiße Haus waren mit dem Hubschrauber in nur wenigen Minuten zu erreichen.
Während des Kalten Krieges war das Anwesen ein Startplatz für Nike-Raketen gewesen, mit drei 450-Quadratmeter großen unterirdischen Munitionslagern aus Beton und Stahl. Zwei der Munitionslager waren aufgeschüttet und landschaftlich gestaltet worden, sodass nur noch ein paar Lüftungsrohre, die aus dem Rasen ragten, von ihrer Existenz kündeten. Das Wohnhaus befand sich direkt über dem dritten Lager.
Der Vorbesitzer hatte das Munitionslager unter dem Haus in eine zweite Notfall-Behausung umgebaut. Diese besaß eine Küche, ein Bad, Schlafzimmer, einen Swimmingpool und eine unabhängige Stromversorgung. Der Wohnbereich diente als Operationszentrum. Das zweite unterirdische Lager beherbergte die Cray-Computer des PROJECTS und die gesamte Kommunikationseinrichtung. Im dritten Lager waren ein Trainingsraum, eine Waffenkammer und ein Schießstand untergebracht. Der Zutritt zu den unteren Bereichen erfolgte über eine Wendeltreppe im Wohnhaus. Und der Werkzeugschuppen im Blumengarten vor dem Haus verbarg einen Notausgang aus dem unterirdischen Bereich.
Selena und Nick waren direkt vom Flughafen aus hierhergekommen. Selena saß am Steuer ihres burgunderroten Mercedes. Nick musterte das Haus, als sie die Einfahrt passierten. Nachdem das alte Hauptquartier zerstört worden war, hatte Harker einen sichereren Standort für sie gesucht.
»Daran werde ich mich erst noch gewöhnen müssen«, sagte er. »Als Harker meinte, wir sollten in den Untergrund verschwinden, dachte ich nicht, dass sie es wortwörtlich meint.«
»Aber du musst zugeben, dass die Tarnung perfekt ist. Lamont liebt den Pool. Und ich auch.« Lamont Cameron, der nach seinem Dienst bei den Navy Seals rekrutiert worden war, war Teil ihres Teams.
Sie parkte vor dem Haus. Gemeinsam betraten sie die Stufen, die zu der Veranda hinaufführten. Eine Kamera über ihren Köpfen folgte ihnen. An der Tür befanden sich ein biometrisches Lesegerät und ein Gesichtserkennungsscanner. Selena legte ihren Daumen auf das Lesegerät und beugte sich an den Scanner heran. Die Tür öffnete sich mit einem geölten Flüstern, als sich die Schließriegel zurückzogen.
Das neue Büro von Direktorin Elizabeth Harker befand sich am anderen Ende des Erdgeschosses. Elizabeth saß an ihrem Schreibtisch und blickte durch eine breite Front aus Verandatüren in einen großen Blumengarten hinaus. Die Fenster sahen wir gewöhnliche Fenster aus, aber selbst Geschosse mit 50mm-Kaliber hätten Schwierigkeiten damit, sie zu durchschlagen. Elizabeth hatte beschlossen, das Risiko einzugehen. In ihrem alten Gebäude hatte sie jahrelang ohne Fenster auskommen müssen.
Harker war eine kleine Frau. Sie trug ihr gewohntes Outfit aus einem schwarzen Kostüm und einer blütenweißen Bluse. Ihre Haut war milchweiß, und die smaragdgrünen Ohrringe griffen die Farbe ihrer Augen auf. Ihr Haar war tiefschwarz, mit grauen und weißen Strähnen. Eine gekräuselte Narbe verlief an der Stelle über ihrem linken Auge, wo die Kugel eines Attentäters sie nur knapp verfehlt hatte.
Für Nick war sie die kompetenteste Frau, die er je kennengelernt hatte. Ihr Aussehen und ihre geringe Körpergröße gab ihren Mitmenschen hin und wieder den Eindruck, dass sie leicht zu manipulieren wäre. Doch für gewöhnlich dauerte es nicht lange, bis sie sich dieses Irrtums bewusst wurden. Denn mit Elizabeth Harker war nicht zu spaßen.
Ein großer Flachbildschirm nahm den größten Teil der Bürozimmerwand ein. In der Nähe des Schreibtischs waren eine Ledercouch und drei Sessel angeordnet. Auf Harkers Schreibtisch befanden sich die Nostradamus-Akte, ein Stift nebst Notizblock und ein Bild ihres Vaters in einem silbernen Rahmen. Das Foto hatte die Aufnahme der Twin Towers am elften September ersetzt, welches zusammen mit der gesamten restlichen Einrichtung am Tag des Angriffs auf ihr altes Hauptquartier zerstört worden war.
Elizabeth schöpfte Kraft aus der Aufnahme ihres Vaters. Er hatte die praktische Angewohnheit besessen, jedem Problem mit einem Zitat oder einer ruhigen Unterhaltung auf den Grund zu gehen. Der Richter war vor Jahren schon gestorben, aber noch immer suchte sie in Gedanken seinen Rat, wenn sie wichtige Entscheidungen treffen musste.
Sie sah auf, als Nick und Selena eintraten. »Die Franzosen sind nicht besonders glücklich«, sagte sie. Harker verschwendete nie ein Wort.
Die beiden ließen sich auf der Couch nieder.
»Ebenfalls Hallo«, sagte Nick. »Wo drückt denen denn der Schuh?«
»Abgesehen von dem Umstand, dass Sie zwei ihrer Staatsbürger ins Krankenhaus geschickt haben und verschwunden