Die Worte des Windes. Mechthild Glaser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mechthild Glaser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014545
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bleiches, spitzes Gesicht im Badezimmerspiegel, während ich versuchte, einen halbwegs ordentlichen Pferdeschwanz zu binden.

      Eigentlich war ich rotblond, doch natürlich wäre diese Farbe viel zu auffällig. Eine derart helle, bis fast zur Hüfte reichende Mähne wäre quasi einem Leuchtfeuer gleichgekommen und hätte meine Verfolger sicher im Handumdrehen auf mich aufmerksam gemacht. Also hatte ich schon kurz nach meiner Ankunft an der Oberfläche zu einem Haarfärbemittel gegriffen und damit nicht nur meinen Schopf, sondern auch meine Brauen in einen kräftigen Ebenholzton getaucht. Doch die Farbe stand mir nicht wirklich, sie ließ mich blass aussehen wie eine wandelnde Leiche, fand ich manchmal. Wenn ich hingegen einen rötlichen Kurzhaarschnitt trüge –

      »Brauchst du noch lang?« Louisa klopfte an die Badezimmertür. »Der Bus kommt gleich und ich muss mal.«

      Seufzend gab ich es auf und legte die Bürste beiseite. Solange mich niemand erkannte, war es sowieso egal, wie ich aussah, oder? Ich räumte meinen Platz vorm Waschbecken.

      Kurz darauf hasteten Fiona, Louisa und ich zur Haltestelle am Ende der Straße. Wir waren alle drei keine Frühaufsteherinnen und um diese Uhrzeit daher meistens etwas miesepetrig drauf. Dass der Bus heute auch noch auf sich warten ließ, machte es leider nicht besser.

      »Toll, da hätten wir gar nicht so zu rennen brauchen«, beschwerte sich Louisa.

      Wir lehnten mit dem Rücken gegen die Wand des Wartehäuschens. Während Fiona auf ihr Handy starrte und vermutlich mit Jonas (der Liebe ihres Lebens und dem auserwählten Wäscher unserer Schmutzwäsche im nächsten Monat) textete, glitt mein Blick die neblige Straße vor uns entlang. Der Sturm war wohl doch ein bisschen heftiger gewesen, als ich zunächst angenommen hatte. Überall hatten sich Pfützen auf dem Asphalt gebildet und dazwischen lagen abgerissene Äste herum. Ein Stück von uns entfernt versperrte eine umgekippte Mülltonne eine Einfahrt. Ihr Inhalt schien sich gleichmäßig über die Vorgärten der Nachbarschaft verteilt zu haben.

      »Vielleicht kommt er schlecht durch«, murmelte ich. »Die Straßen sehen nicht gerade frei aus.«

      Tatsächlich schienen sogar die Autos Mühe zu haben, eine freie Spur zu finden, und tuckerten nur langsam an uns vorbei.

      »Hmpf«, machte Louisa und zog den Reißverschluss ihrer Jacke weiter nach oben. »Ist das Wetter hier im Herbst eigentlich immer so grauenhaft? Oder liegt das am Klimawandel? Ich dachte, ich ziehe in einen Badeort …«

      Ich zuckte mit den Achseln. »Kein Ahnung«, log ich.

      Selbstverständlich wusste ich genau, welches Wetter diese Stadt an jedem einzelnen Tag der letzten viereinhalb Jahre gehabt hatte. Ja, die globale Erwärmung bereitete meiner Mutter schon seit geraumer Zeit Probleme, aber die seit einer knappen Woche anhaltenden Stürme und Regengüsse waren dennoch ungewöhnlich. An der See schlug das Wetter normalerweise recht schnell um, so nah an den Kesseln meines Volkes wechselten sich Wolkenbrüche quasi im Minutentakt mit sonnigen Phasen ab und der Wind wehte zwar oft kräftig, aber das hier … So schlimm war es noch nie gewesen. Seit meiner Begegnung mit dem Anderen beschlich mich ohnehin das Gefühl, dass irgendetwas vor sich ging. Etwas Wichtiges, das mit den Hexen zu tun haben musste …

      Als der Bus schließlich mit viertelstündiger Verspätung auftauchte und ächzend vor dem Wartehäuschen hielt, schoben wir uns rasch zwischen die anderen Schüler. Unsere Erleichterung über das Auftauchen des Busses hielt sich jedoch in Grenzen, als wir feststellten, dass es im Gedränge des überfüllten Innenraumes kaum noch Sauerstoff gab. Die Scheiben waren bereits komplett beschlagen. Noch dazu stand ich eingequetscht zwischen Fiona und einem Typen aus dem Basketball-Team, sodass ich selbst bei klarer Sicht nicht hätte rausgucken können.

      Stattdessen blieb mir nichts anderes übrig, als an der Achsel der Sportskanone vorbei auf den schmalen Gang zwischen den Sitzreihen zu spähen, wo ich schließlich Vivien und Marie entdeckte. Beide waren ziemlich bleich um die Nase und zuckten bei jedem Stoppen und Schlingern des Busses (der Fahrer hatte offenbar Schwierigkeiten, seiner Route zu folgen) alarmiert zusammen. Tatsächlich schienen sie so sehr in ihren Gedanken gefangen zu sein, dass sie nicht einmal den Fünftklässlern um sich herum das Taschengeld abknöpften oder sie wenigstens so lange in die Rippen boxten, bis diese ihnen ihre Sitzplätze überließen.

      Als Vivien dann, kurz bevor wir endlich die Schule erreichten, zufällig in meine Richtung schaute, wurde sie noch eine Spur blasser und hakte sich schutzsuchend bei Marie unter. Mit gesenkten Köpfen hasteten die beiden schließlich an mir vorbei ins Freie und ich wollte schon die Verfolgung aufnehmen, um ihnen irgendeine fadenscheinige Geschichte aufzutischen. Zum Beispiel von halluzinogenhaltigen Zigaretten, die ich ihnen gestern bei unserer Auseinandersetzung angeblich untergejubelt hätte oder so.

      Doch dann bog ich um die Ecke und verschwendete plötzlich keinen einzigen Gedanken mehr an Marie oder Vivien, sondern blieb vor lauter Überraschung einfach stehen. Genau wie meine Mitschüler, die sich schockiert vor dem Schultor versammelt hatten.

      Denn uns bot sich ein Bild der totalen Verwüstung.

      Offenbar musste der Schulhof das Zentrum des Sturms gewesen sein. Überall lagen die zerbrochenen Schindeln des zur Hälfte abgedeckten Schuldachs herum, unzählige Bäume waren entwurzelt worden und wie Mikadostäbchen übereinandergepurzelt. Dazwischen ragten Teile der Fensterrahmen und eine aus den Angeln gerissene Tür hervor. Jemand, vermutlich der Hausmeister, hatte das gesamte Gelände notdürftig mit rot-weiß gestreiftem Flatterband abgesperrt. Daran hing ein Schild, auf dem stand, dass der Unterricht bis auf Weiteres leider entfallen müsse und die Sekretärin noch dabei sei, alle Eltern zu benachrichtigen.

      In der Ferne war eine Sirene zu hören, die langsam lauter wurde.

      »Vielleicht ist irgendwas explodiert«, vermutete ein Junge mit Kopfhörern in den Ohren und Kaugummi im Mund inmitten einer Gruppe Sechstklässler, die sich in einer Traube um das Flatterband gedrängt hatten. »Megacool, es dauert bestimmt Wochen, das alles zu reparieren.«

      »Ob Schwimmen im Südbad dann auch nicht stattfindet?«, wollte ein Mädchen zu seiner Linken wissen und schlenkerte einen Sportbeutel.

      »Eine defekte Gasleitung?«, überlegte derweil ein anderer Junge. »Oder kann das der Sturm gewesen sein?«

      Ich nickte. »Sollte man nicht meinen, oder?«, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu den rätselnden Unterstufenschülern. Noch immer starrte ich fassungslos auf das Chaos vor uns. Das konnte doch nicht wirklich passiert sein! Stand denn seit gestern die ganze Welt kopf? Diese Bäume waren jedenfalls nicht einfach nur von einer kräftigen Bö aus dem Erdreich gerissen worden. Ihre Rinden trugen Einkerbungen, wo etwas sie gepackt haben musste. Tiefe Striemen waren das, Spuren von … Klauen!

      »Okay«, sagte Louisa zu mir und seufzte. »Wenn wir uns beeilen, erwischen wir den Bus zurück in zwei Minuten.« Fiona hatte sich natürlich längst zusammen mit Jonas aus dem Staub gemacht und auch Louisa hielt nichts an diesem Ort der Zerstörung. »Wie wäre es mit einem zweiten Frühstück und dann legen wir uns noch ein wenig hin?« Sie gähnte und versuchte, mich hinter sich herzuziehen.

      Doch ich rührte mich nicht vom Fleck.

      Auch nicht, als in diesem Moment unmittelbar hinter uns ein Löschzug der Feuerwehr hielt und die mit Motorsägen bewaffnete Mannschaft kurz darauf begann, alle versammelten Schüler fortzuscheuchen.

      »Ich brauche noch ein bisschen frische Luft«, erklärte ich Louisa. »Fahr du ruhig schon, ich komme dann zu Fuß hinterher, ja?«

      Louisa hob eine Augenbraue, als wollte sie etwas fragen. Mir war klar, dass ich noch ungesünder als sonst aussehen musste. Doch dann nickte sie und ließ mich los. »Sicher, bis später«, sagte sie. »Aber ruf mich an, falls dir wieder schwindelig wird oder so.«

      Einen Herzschlag später verschwand sie in der Menge meiner menschlichen Mitschülerinnen und Mitschüler, die sich nun geballt auf die beiden ramponierten Bushaltestellen um die Ecke zuschoben.

      Ich wandte mich erneut dem Unfassbaren zu.

      Auch der Asphalt des Schulhofs trug tiefe Kratzspuren und