Die Worte des Windes. Mechthild Glaser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mechthild Glaser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014545
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eindeutig … anders.

      Doch das konnte nicht sein!

      Es war lange her, dass mir ein Geräusch wie dieses begegnet war. Sehr, sehr lange. Und das war selbstverständlich weit draußen geschehen, mitten auf dem Meer. Hunderte von Kilometern entfernt von der Zivilisation, an einem Ort, an dem man leider jederzeit mit solchen Stürmen rechnen musste.

      Dies hier allerdings war eine Stadt. Eine bewohnte Stadt!

      Menschengebiet.

      Meine Hände krallten sich fester um die Ketten der Schaukel, denn so unmöglich mir das alles auch erscheinen mochte, leider bestand kein Zweifel:

      Das Böse hatte mich gefunden.

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      2

      Donnerdrache

      Stürme der anderen Art sind tückisch. Nicht umsonst bemerkt man sie meistens erst, wenn man sich bereits mitten in ihnen befindet. Die meisten Leute sind vermutlich sogar schon tot, noch bevor ihnen klar wird, was überhaupt vor sich geht. Ich hingegen war einst dazu trainiert worden, die Anderen zu finden. Sie schon an den kleinsten Anzeichen zu erkennen und ihnen die Stirn zu bieten.

      Und ein Überbleibsel dieses Trainings war wohl das Einzige, das mich heute davor bewahrte, auf der Stelle zu sterben. Die Tatsache, dass mir der Nachhall des Donners in die Glieder fuhr und mich von der Schaukel springen ließ, noch bevor –

      Der Aufprall war hart, meine Fußsohlen kribbelten. Ich ignorierte den Schmerz und stürzte los. Ohne Blitzklinge blieb mir nämlich wohl oder übel nur eines – und das war die Flucht. Ich musste so viel Abstand wie möglich zwischen mich und ihn bringen. Und ich betete zum Gott des Schicksals, dass meine Unaufmerksamkeit mich nicht den Kopf kosten würde.

      Ich rannte.

      Der Spielplatz befand sich am Rande eines Parks. Doch auf der Grünfläche wäre ich vollkommen schutzlos. Stattdessen wandte ich mich in Richtung Straße. Meine Schuhe platschten durch Pfützen, das Blut rauschte mir in den Ohren und das Gewicht meiner nassen Kleider schien mich zurückzuhalten. Aber ich preschte voran, stolperte mehr vorwärts, als dass ich lief.

      Weg!

      Ich musste weg.

      Wieder durchfuhr das grelle Leuchten eines Blitzes den Himmel. Fast im gleichen Augenblick donnerte es und der Klang fraß sich in jede Faser meines Körpers. Dieses tiefe Dröhnen, das einem den Atem stocken ließ. Gleich darauf wandelte es sich: Das Rauschen der See mischte sich hinein, laut und zornig. Und der Geruch von fauligem Fisch. Wie aus dem Nichts erschienen Muschelsplitter und wirbelten durch die Luft, zerkratzten meine Haut.

      Ich konnte es nicht glauben. Wirklich nicht. Das war doch ganz und gar verrückt! Seit tausend Jahren war keiner der Anderen in einer Stadt aufgetaucht. Oder überhaupt an Land!

      Vielleicht täuschte ich mich ja doch. Auf jeden Fall wagte ich nicht innezuhalten, um mich umzudrehen und mich mit eigenen Augen zu vergewissern.

      Erneut beschleunigte ich meine Schritte, stürzte den Gehweg entlang. Wenn ich es bis zur Ampel schaffte … Dort war eine Fußgängerunterführung. Schmal und dunkel …

      Meine Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft, hinter mir meinte ich, eiskalten Atem zu spüren, während grüngraue Nebelschwaden mich umflossen.

      War mein Kopfschmerz in Wahrheit ein Hirntumor, der zu Wahnvorstellungen führte?

      Verdammt, verdammt, verdammt!

      Endlich tauchte die Unterführung vor mir auf. Ich warf mich die Stufen hinab in die Dunkelheit, doch Nebel und Muschelscherben folgten mir. In das Rauschen mischte sich das Geräusch von … etwas anderem. Gleichzeitig schwoll das Dröhnen zu einem ohrenbetäubenden Grollen an, das die steinernen Platten unter meinen Füßen vibrieren ließ.

      Die Erde erbebte vom Kampfschrei des Donnerdrachen, jenes Wesens, das im Herzen dieses Sturms lebte.

      Der Drache war nun beinahe bei mir.

      Und er griff an.

      Ich verfluchte meine Hilflosigkeit. In Atlantis, dem Reich meiner Mutter, hatte ich stets gleich mehrere Blitzklingen in einem Holster aus Samt bei mir getragen. Meine Exemplare waren kunstvoll verziert gewesen und so scharf, dass man selbst Perlen damit spalten konnte.

      Jetzt hatte ich bloß einen gammeligen Rucksack voller Hefte und Stifte dabei. Möglicherweise fand sich irgendwo darin noch eine Bastelschere. Doch allein der Gedanke, mit einem Spielzeug aus Plastik und Stahl gegen einen Drachen zu kämpfen, war geradezu lächerlich!

      Die Nebelschwaden verdichteten sich derweil zusehends und nahmen mir den Atem, während der Tornado aus Muschelscherben sich kaum merklich verlangsamte. Das Auge des Sturms war nahe. Jeden Moment würde der Donnerdrache –

      Wenn ich jetzt anhielt, wäre ich tot, bevor ich auch nur den Reißverschluss des Rucksacks geöffnet hätte.

      Blindlings stürzte ich die letzten Stufen hinab, mitten ins Dämmerlicht der Unterführung. Der Nebel verschleierte noch immer meine Sicht, sodass ich die beiden Gestalten, die an der Betonwand lehnten und rauchten, erst erkannte, als ich beinahe an ihnen vorbeirannte.

      »Was zur Hölle?«, rief Vivien, als eine Scherbe ihre Wange traf. Sie starrte mich an, vermutlich, weil meine Haare im Nebel wehten, als führten sie ein Eigenleben.

      »Was macht ihr denn hier?«, keuchte ich.

      »Na, uns vor dem Regen unterstellen«, schrie Marie gegen das Rauschen an. »Was soll die Scheiße? Was ist das?« Sie deutete auf das schmutzig grüne Licht und die Muschelscherben, von denen sich nicht wenige in meiner Kleidung verfangen hatten.

      »Bah, Alter, wieso stinkt das plötzlich nach verwester –«, setzte derweil Vivien an.

      Da bebte die Erde so stark, dass wir alle drei taumelten und ich gegen die beiden prallte.

      Marie versuchte, sich an der Tunnelwand festzuhalten. Vivien fiel auf die Knie und schrie auf.

      Unterdessen standen mir meine Optionen binnen eines Herzschlags plötzlich ganz klar vor Augen: Entweder ich rannte weiterhin um mein Leben und überließ Vivien und Marie ihrem Schicksal. Oder ich versuchte, den Donnerdrachen aufzuhalten, damit wenigstens die beiden eine Chance hatten. So oder so, es sah nicht gut für mich aus. Ich biss mir auf die Unterlippe. Auch wenn ich diese Mädchen nicht leiden konnte und sie sich benahmen, als wäre ihnen alles und jeder auf der Welt egal außer ihnen selbst, sie waren immer noch Menschen. Und einst hatte ich wie alle Hexen einen Eid geleistet …

      Der Eingang verfinsterte sich, als sich etwas mit dunkel geschuppten Beinen und messerscharfen Krallen um die Ecke schob.

      Etwas … Gewaltiges.

      »Was für ein Freak bist du eigentlich, Schlafwandler-Schlampe?«, kreischte Marie. Ihre Plastikfingernägel krallten sich in die Betonwand.

      »Lauft einfach, okay?«, brüllte ich. »LAUFT WEG!«

      »Aber da draußen ist ein krasses Gewitter«, stammelte Vivien.

      »Ja, was, wenn wir vom Blitz –«

      Der Drache gab ein gurgelndes, zischendes Fauchen von sich, das wie tausend tosende Mahlströme auf einmal klang. Gleichzeitig schnellte eine Schnauze von der Größe eines Autos in die Unterführung. Mit geblähten Nüstern schob sich das Maul über den Beton auf uns zu. Eine weitere Welle aus Gestank und Muschelsplittern rollte über uns hinweg, noch viel übler als die erste.

      Ich unterdrückte ein Würgen. Marie und Vivien waren inzwischen bleich wie Gespenster. Ihre Münder klappten auf, doch kein Ton kam heraus. Sie waren viel zu geschockt, um zu schreien, weil sie ja noch nicht einmal an die Existenz von Drachen glaubten! Herrje! Falls wir es doch irgendwie hier herausschafften, konnte ich nur hoffen,