Die Worte des Windes. Mechthild Glaser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mechthild Glaser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014545
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      Zur Antwort unterdrückte Louisa ein Gähnen und Fiona verließ wortlos den Raum. Auch ich erhob mich, allerdings hatten sich meine Pläne inzwischen geändert. Sooo furchtbar war das aufgezwungene Mau-Mau nämlich ehrlich gesagt nicht gewesen. Wir alle hatten während des Spielens kaum miteinander gesprochen und das sich immer wiederholende Legen und Ziehen von Karten hatte irgendwie etwas Meditatives gehabt. Zumindest waren meine Gedanken für eine Weile abgeschweift und das hatte mich wohl endgültig vor einer Kurzschlussreaktion bewahrt.

      Meine Panik war innerhalb der letzten Stunde sogar beinahe wieder auf ihr übliches Level gesunken. Offensichtlich hatte ich ein Leben, in dem ich Mau-Mau spielen und mich mit einem unsympathischen Sozialarbeiter streiten konnte! War ich nicht inzwischen wirklich nur noch Robin, das Menschenmädchen? Damian hatte nicht eine Sekunde daran gezweifelt, oder? Er hatte mir meine Ahnungslosigkeit zu einhundert Prozent abgekauft.

      Und auch wenn dieser Aaron die Überreste der Hexe in mir bemerkt hatte, er war verletzt und vermutlich verwirrt gewesen. Zusätzlich zum Blutverlust hatte er die halbe Nacht unter diesem Betonblock gelegen. Bestimmt hatte dabei auch sein Schädel etwas abbekommen. War es angesichts all dessen nicht sogar sehr wahrscheinlich, dass er mich mittlerweile längst wieder vergessen hatte?

      Außerdem würden wir einander eh nie wiedersehen.

      Statt also kopflos in mein Zimmer zu hasten und meine Sachen aus den Schränken zu rupfen, angelte ich mir nun, kaum dass Andreas uns entlassen hatte, einen Apfel aus der Schale auf der Anrichte und meinen Schal von der Garderobe, dann war ich auch schon an der Wohnungstür.

      »Nanu?«, murmelte Andreas. »Ich dachte, du wolltest unbedingt auf deinem Bett liegen und traurige Liebesgedichte schreiben?«

      »Hab’s mir anders überlegt.« Ich zuckte mit den Achseln. »Du weißt doch, wir Teenager ändern unsere Stimmung quasi im Minutentakt.«

      »Haha«, machte Andreas und tippte auf seinem Handy, während ich ins Treppenhaus hinaustrat.

      Draußen hatte es wieder angefangen zu nieseln und der Wind blies frisch aus nordöstlicher Richtung. Aber das störte mich kaum. Ich biss in den Apfel und schlug den sandigen Pfad ein, der vom ehemaligen Pfarrhaus aus durch die Dünen bis zum Strand hinunterführte. Das Grollen der Wellen war dabei wie immer Musik in meinen Ohren und der süßliche Geschmack des Apfels in meinem Mund beruhigte mich zusätzlich.

      Obwohl das Novemberwetter eigentlich nicht dazu einlud, zog ich Schuhe und Strümpfe aus, noch bevor die See in Sichtweite kam. Das letzte Stück des geschlängelten Weges rannte ich barfuß über hölzerne Bohlen und Grasbüschel. Dann versanken meine Zehen endlich im Sand und mein Blick hing an den schiefergrauen Wogen des Ozeans.

      Heimat.

      Der Geruch von Salz und Seetang stieg mir in die Nase und winzige Tröpfchen der aufgepeitschten Gischt prickelten auf meinen Wangen. Ich konnte das Wasser gar nicht schnell genug erreichen. Wie immer lockte mich das Meer zu sich, rief in mir den Drang hervor, mich einfach hineinzustürzen. Jetzt sofort. In Jeans und Anorak, obwohl die Wellen eisig sein mussten.

      Wann immer ich die See erblickte, hatte ich das Gefühl, die Kuppelstädte meiner Mutter unter den wogenden, schillernden Wassern erahnen zu können. Das stimmte natürlich nicht. Die Paläste der Tiefe waren kilometerweit von der Küste entfernt, lagen gut verborgen in den Schluchten und Abgründen des Meeresbodens und die Reise nach Atlantis dauerte selbst in den besten Kesselbooten mehrere Tage. Dennoch bedeckten dieselben Fluten, die hier über den Sand tanzten, auch Fels, Korallen und Muschelkristall des versunkenen Königreichs. Dieselben Fluten, die den Eisglashimmel über den Köpfen meiner Schwestern schützten, kitzelten jetzt gerade vorwitzig die Spitzen meiner Zehen.

      Abgesehen davon war die Kälte des Wassers eine Wohltat für meine geschundenen Füße. Auch wenn wir immer noch Menschen waren, unsere Hexenkörper hatten im Laufe der Jahrhunderte ganz langsam angefangen, sich an die Lebensbedingungen unter dem Meer anzupassen. Die Evolution war bereits am Werk. Noch waren es natürlich winzige Veränderungen, kaum der Rede wert, aber doch spürbar: Kälte und Dunkelheit machten uns von Generation zu Generation weniger aus, ebenso wie der Wasserdruck uns nicht mehr schadete. Im Gegenteil: Wenn wir uns zu lange an Land aufhielten, begannen unsere Füße sogar dann und wann zu bluten, weil unsere Haut viel zu dünn und zart war.

      In der Regel gab es daher stets irgendeine Stelle an meinen Fersen oder meinen Sohlen, die ich mir wundgescheuert hatte. Als bekäme ich andauernd Blasen von neuen Schuhen, obwohl ich immer nur meine ausgetretenen Sneakers trug. Wie gesagt, es war nichts Dramatisches, man konnte damit leben. Aber es tat so gut, nun durch die Brandung zu laufen!

      Ich hatte meine Hosenbeine hochgekrempelt und wanderte langsam am Ufer entlang Richtung stadtauswärts. Irgendwo hinter mir, wo die Dünen zu felsigen Klippen anstiegen und zum Glück längst nicht in Sichtweite, thronte der alte Leuchtturm. Ob Aaron und Damian gerade dort waren und um ein Muschelhorn voller gefrorenen Meerschaums feilschten? Wenn sie schlau waren, verbargen sie Aarons Wunde vor den Händlern, damit die nicht erkannten, wie dringend er auf das Heilmittel angewiesen war. Aber da die beiden behauptet hatten, Sturmjäger zu sein, verstanden sie sich vermutlich aufs Handeln.

      Und ich, ich verstand mich darauf, im Verborgenen zu bleiben.

      Die Wellen umspielten meine Knöchel und meine Zehen gruben sich bei jedem Schritt in die glitschige Mischung aus nassem Sand, Algen und Muschelscherben. Ich saugte die Seeluft gierig in meine Lunge und spürte förmlich, wie sich der Sturm meiner Ängste und Gedanken bei jedem Atemzug weiter legte.

      Ich würde also hier bleiben.

      Das Wasser um mich herum glitzerte, wo vereinzelte Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen, als begrüßte es meine Entscheidung.

      Das Ganze war selbstverständlich nicht ungefährlich. Der Gebrauch meiner Magie stellte den bisherigen Tiefpunkt meines neuen Lebens dar. Eine unverzeihliche Dummheit, ein Verstoß gegen die wichtigste Regel von allen. Doch wie ich es auch drehte und wendete, die Vorstellung, erneut alles aufzugeben und zu fliehen, erschien mir beinahe genauso grausam wie die Möglichkeit, nach all den Jahren von meiner Familie gefunden zu werden. Und außerdem … Das heute war das erste Mal seit meiner Flucht aus dem Palast gewesen, dass ich mit meinesgleichen gesprochen hatte. Die beiden Hexer hatten mir direkt ins Gesicht gesehen, waren nur eine Armeslänge von mir entfernt gewesen. Aber keiner von ihnen hatte in mir Undina, die siebte Prinzessin, erkannt.

      Es kam mir vor wie ein Wunder, doch womöglich war ich mit der Zeit einfach ein bisschen paranoid geworden. Überraschend wäre das bei meiner Vergangenheit jedenfalls nicht.

      Ich wirbelte mehr und mehr Wasser auf, während ich nun zügiger voranschritt, als wäre mir plötzlich eine Last von den Schultern gefallen. Weil da eine Hoffnung in mir wuchs, mit der ich nie gerechnet hätte.

      Bisher hatte ich immer angenommen, dass selbst die Haarfärbung und die Tatsache, dass ich in den letzten Jahren etwa dreißig Zentimeter gewachsen war, niemanden wirklich täuschen könnten. Mein Gesicht war schließlich für eine lange Zeit auf jede Hagelmünze und jeden ozeanischen Orden geprägt worden. Aber ich hatte mich wohl stärker verändert, als ich geglaubt hatte, und vermutlich –

      Etwas Spitzes bohrte sich in meinen rechten Fußballen.

      Erschrocken machte ich einen Satz nach hinten, doch zu spät: Blut färbte das Wasser für einen Moment rötlich, meine empfindliche Sohle brannte trotz des kühlen Meeres und das, was da vor mir aus dem Schlick ragte, als sich die Brandung zurückzog, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Mit einem Mal begann ich doch zu frieren. Eine Kälte, die nichts mit dem Wasser oder dem Wind zu tun hatte, fraß sich in meine Magengrube.

      Auf den ersten Blick hätte man das Ding für ein Bündel Seetang halten können, in dem sich ein paar Muscheln und Stücke von Treibholz verfangen hatten. Die Menschen wären wohl einfach daran vorbeigegangen. Doch die Algen hatten sich nicht bloß in den Strömungen der Tiefe ineinander verheddert: Sie waren sehr sorgfältig miteinander verknotet worden. Sieben mal sieben Knoten, darauf wettete ich, auch ohne nachzuzählen. Und das waren auch keine Muscheln oder Holzsplitter, die jemand wie