Die Worte des Windes. Mechthild Glaser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mechthild Glaser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014545
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unser Sozialarbeiter und hing die meiste Zeit mit seinem Smartphone im Wohnzimmer herum, wo er Nachrichten an wer weiß wen tippte (vielleicht auf einer Onlinedating-App?) und sich die Haare raufte, wenn er es wieder einmal nicht schaffte, den Touchscreen korrekt zu bedienen. Außer zu den gemeinsamen Mahlzeiten oder um (so wie jetzt) Strafen zu verhängen, bewegte er sich eigentlich kaum von seinem Platz auf der Couch weg.

      »Einen ganzen Monat?«, empörte sich Fiona und knallte die Teekanne auf die Arbeitsfläche.

      Ich verteilte weiter Besteck und Teller und hoffte, dass sie sich bald einkriegen würde. Was Andreas verfügte, war in diesem Haus nun einmal Gesetz. Gerecht oder nicht, da würden auch Diskussionen nichts bringen.

      Leider sah Fiona das anders. Als wir zwanzig Minuten später alle am Tisch saßen, redete sie immer noch auf ihn ein. Louisa und ich widmeten uns derweil schweigend unseren Käsebroten und versuchten, die beiden zu ignorieren.

      Seit ihrem Zusammenstoß mit den Handy-Zerstörerinnen wirkte Louisa ein bisschen mitgenommen. Ihr war wohl genauso wenig nach einer Unterhaltung zumute wie mir.

      So gesehen war es eigentlich ganz praktisch, dass alle gerade ihre eigenen Probleme hatten und niemandem aufzufallen schien, wie meine Hand zitterte, als ich nach dem Käsemesser griff.

      Der Donnerdrache hatte mich viel zu sehr aus dem Konzept gebracht. Meine Kräfte einzusetzen, war so leichtsinnig gewesen! Definitiv die größte Dummheit, zu der ich mich in den letzten viereinhalb Jahren hatte hinreißen lassen. Was, wenn die beiden Hexer mich bemerkt hätten? Wenn sie mich gesehen und womöglich sogar erkannt hätten? Obwohl ich mein Haar inzwischen dunkel färbte, die Gefahr war längst nicht gebannt. Und wenn meine Familie mich jemals in die Finger bekommen sollte …

      Ich schluckte.

      Wer unter dem Meer Verrat beging, konnte nicht auf Gnade hoffen. Egal, wie leid mir tat, was damals an meinem zwölften Geburtstag so schiefgelaufen war, die Königin verzieh niemals. Selbst mit ihrem Gemahl, meinem Vater, dem abtrünnigen Herzog, hatte sie, so hieß es, kurzen Prozess gemacht.

      Doch was, bei Neptuns Bart, hatte einen ausgewachsenen Anderen überhaupt an Land verschlagen? Die Hexen taten seit Tausenden von Jahren alles, um die Menschen vor diesen Biestern zu schützen. Im Mittelalter hatte es so manchen Zwischenfall gegeben. Damals waren sogar nicht wenige der großen Handelsschiffe dabei draufgegangen, okay. Aber das war meistens fernab der Küsten inmitten der Weiten der See geschehen und –

      »Robin?«, riss Louisa mich aus meinen Gedanken.

      Ich blinzelte. Erst jetzt fiel mir auf, dass Fiona und Andreas gar nicht mehr stritten. Stattdessen sahen alle am Tisch mich erwartungsvoll an.

      »Äh … «, stammelte ich. »Wie bitte?«

      Andreas hob die Brauen. »Was du nach der Schule noch getrieben hast, habe ich gefragt. Irgendwelche … na ja … Aktivitäten? Ein neues Hobby oder so?«

      »Hä?«, machte ich wenig geistreich.

      »Du warst spät zu Hause. Bist in den Regen gekommen, oder?«, versuchte Andreas es weiter, schielte jedoch unverkennbar auf sein Handy, wobei er so tat, als zupfte er nur den Saum seines blau-grün gemusterten Fleecepullovers zurecht (wenn er wirklich online datete, hatte er auf seinem Profilbild hoffentlich ein anderes Outfit an).

      Ich blinzelte. Neuerdings versuchte er es leider häufiger mit diesem komischen aufgesetzten Smalltalk bei mir. Louisas Theorie dazu war, dass er mich als Übungsobjekt für seine zukünftigen Flirts auserkoren hatte (wobei er noch seeeehr viel Training brauchen würde). Fiona hingegen behauptete, Andreas wäre schlicht nicht in der Lage, sozial zu interagieren, und wegen meiner schweigsamen Art fiele es ihm bei mir von uns dreien noch am leichtesten, Interesse vorzuheucheln. Ich für meinen Teil fand das Ganze einfach nur nervig.

      »Schon gut. Anscheinend träumst du mal wieder von fernen Welten, was?« Er lachte gekünstelt und schenkte sich Tee nach.

      »Sorry, ich bin echt müde. Hab letzte Nacht total schlecht geschlafen«, log ich und wollte mich wieder meinem Brot zuwenden.

      »Mhm.« Andreas bedachte Fiona mit einem weiteren strafenden Blick.

      »Also so laut waren Jonas und ich garantiert nicht.«

      »Nun …«, murmelte Andreas.

      Fiona presste die Lippen aufeinander. »Robin? Wir haben dich nicht geweckt, oder?«

      »Nein«, sagte ich. »Es lag an einem Albtraum.« Jetzt schob ich meinen Teller doch von mir.

      Das Pochen hinter meinen Augen verstärkte sich, während eine Sturmbö vor dem Fenster heulte, die verdächtig nach dem Ostwind klang. Dazu kamen das Locken der See und die Last all der Erinnerungen an meine Kindheit in einem fernen, grausamen Königreich, die sich bereits wieder emporkämpfen wollten …

      Es reichte, ich hatte genug. Nach diesem Nachmittag kostete es schon viel zu viel Kraft, allein hier zu sitzen und einfach nur so zu tun, als wäre ich Robin. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich spürte, wie mir Schweißperlen auf die Stirn traten.

      »Du bist aber ganz schön blass, ist alles okay?«, fragte Louisa.

      Auch Andreas’ Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er musterte mich prüfend, als ob er sich fragte, wen ich heute in meinem Zimmer versteckt haben mochte.

      Oder war ihm meine Verletzung vorhin etwa doch nicht entgangen?

      »Ich glaube, ich muss mich hinlegen. Mein, äh, Kreislauf spielt verrückt. Darf ich bitte aufstehen?«

      »Eigentlich –«, begann Andreas, doch Louisa fiel ihm ins Wort.

      »Ich übernehme die Spülmaschine«, bot sie an. Louisa, die normalerweise jeder Form von Hausarbeit aus dem Weg zu gehen versuchte. Offenbar wollte sie sich revanchieren.

      »Dann ausnahmsweise«, sagte Andreas.

      »Danke«, nuschelte ich und stand auf. Mit langen Schritten durchquerte ich den Flur zu meinem Zimmer. Ich musste mich anstrengen, nicht zu rennen.

      Aber auch, als ich die Tür hinter mir ins Schloss drückte und daran mit dem Rücken zu Boden sank, hämmerte mein Herz noch in meiner Brust. Als wollte es davongaloppieren und mich dazu überreden, mit ihm zu fliehen. Bloß, wohin hätte ich gehen sollen? Ich konzentrierte mich darauf, so langsam wie möglich ein- und wieder auszuatmen. Ein und wieder aus …

      Ich konnte das hier, ich … musste mich nur beruhigen und mich auf meine Wurzeln besinnen. Ja, genau!

      Einst hatten wir Hexen schließlich ganz selbstverständlich unter den Menschen gelebt. Wir waren Menschen, auch wenn wir es uns nur ungern eingestanden. Menschen mit magischer Begabung, die Ernten beschützten und das Wetter lenkten – aber immer noch Menschen. In die Untiefen der Meere waren wir erst viel später gesiedelt, damals, als die Zivilisation sich entwickelte und diejenigen ohne Magie plötzlich danach lechzten, jedes Phänomen genau erklären und die Natur kontrollieren zu können. Als man uns zu jagen und zu foltern begann und auf grauenvollen Scheiterhaufen verbrannte.

      Eines Tages hatten die Vorfahren meiner Familie keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als unser Volk ein für alle Mal in Sicherheit zu bringen. Fort, an den unerforschtesten aller unerforschten Orte dieser Erde: hinab in die Städte der Tiefsee. Ein radikaler, aber notwendiger Schritt. Doch wie gesagt, obwohl viele Jahrhunderte vergangen waren, in denen mein Volk sich an das Leben im Verborgenen, an Dunkelheit, Kälte und den Gesang der See gewöhnt hatte, konnten Hexen nach wie vor in der Menschenwelt leben.

      Das hier war nun mein Zuhause.

      Und dieser Zwischenfall mit dem Donnerdrachen würde daran nicht das Geringste ändern. Falls Marie und Vivien wirklich jemandem davon erzählten, was sie gesehen hatten, konnte ich immer noch das Gerücht in die Welt setzen, sie wären völlig high gewesen. Jeder wusste schließlich, dass sie kifften …

      Ich nahm einen weiteren tiefen Atemzug, dann rappelte ich mich auf und entschied, diesen kompletten Nachmittag so rasch wie möglich zu vergessen.