Die Worte des Windes. Mechthild Glaser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mechthild Glaser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014545
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      Eine simple Lösung.

      Ein klarer Schnitt.

      Punkt.

      Nur so konnte ich meine Tarnung aufrechterhalten. Nur so würde ich am Leben bleiben.

      Entschlossen marschierte ich ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Anschließend kehrte ich in mein Zimmer zurück, zog meinen Schlafanzug an und legte mich ins Bett. Kurz darauf ging ich im Geiste bereits den Stoff für die nächste Mathearbeit durch und obwohl meine Gedanken natürlich doch immer wieder abzuschweifen drohten, war Mathe zumindest so langweilig, dass ich allmählich ruhiger wurde …

      Beinahe wäre ich schon weggedöst, da fiel mir allerdings ein, dass ich Bo nicht gefüttert hatte. Ächzend rollte ich mich auf den Bauch und tastete nach seinem Goldfischglas unter dem Bett. (Wir durften in der Wohngruppe offiziell keine Haustiere halten, doch er war das Einzige, das mir von meiner Vergangenheit geblieben war, also scherte ich mich nicht im Geringsten um diese dämliche Regel.)

      »Sorry«, murmelte ich, während ich im Halbschlaf die Dose mit dem Fischfutter suchte. »Du musst hungrig sein.«

      Bo schwamm ein wenig ärgerlich von innen gegen das Glas. Wasser schwappte über den Rand und bildete einen kleinen dunklen Fleck auf dem Teppich.

      »Ich weiß, tut mir leid«, sagte ich, fand endlich, was ich brauchte, und zerbröselte ein paar der bunten Flocken auf der Wasseroberfläche. Dann schob ich das Glas zurück in das Versteck unter dem Bett und glitt fast im gleichen Moment endgültig in ein Meer aus wirbelnden, wirren Träumen.

      Träume, die vollkommen frei von Donnerdrachen waren. Immerhin.

      Stattdessen befand ich mich darin, wie so oft, im Reich meiner Mutter. Ich war zu Hause im Schloss und lief einen der langen Felsenkorridore entlang, deren Wände mit Muscheln und den versteinerten Resten bizarrer Urzeitwesen verziert waren. Erhellt wurde der Gang von Leuchtquallen, die in den in regelmäßigen Abständen angebrachten Glaskugeln schwammen und das Perlmutt des Fußbodens geheimnisvoll schimmern ließen.

      Wie damals an meinem zwölften Geburtstag trug ich auch im Traum ein funkelndes Diadem auf dem Kopf. Dazu lag das Amulett der Winde, einst aus dem Metall des Urkessels der Götter geschmiedet, zu Ehren meines besonderen Tages um meinen Hals. Und genau wie damals raschelte mein Kleid verdächtig, als ich mich an den Wachen vorbei zur Treppe schlich, die zu den Kellergewölben hinabführte … Doch heute klang dieses Rascheln irgendwie anders, als wäre da nicht bloß Meerseide, die über ausgetretene Stufen strich, sondern noch etwas … Das Wispern, Summen und Heulen des Ostwinds, der mich warnen wollte?

      Aber das konnte natürlich nicht sein. Ich erinnerte mich an jede Einzelheit jener schrecklichen Nacht und der Ostwind war nicht –

      Ich hastete weiter in die Tiefe. Obwohl ich diesen Traum bereits viele Male geträumt hatte, konnte ich nicht anhalten. Sosehr ich auch versuchte, auf den Absätzen meiner samtenen Pantöffelchen kehrtzumachen, den Kerkern den Rücken zuzuwenden und einfach weiter die Prinzessin zu sein, die mein Volk sich wünschte – es ging nicht. Als würde ein unsichtbares Band mich weiter und weiter voranziehen. Als wäre die Erinnerung an damals unausweichlich.

      Vermutlich wollte irgendetwas in meinem Innern mich dazu zwingen, meine dunkelste Stunde wieder und wieder und wieder zu erleben. Und nun hatte sich wohl auch noch die Stimme des Ostwindes vorgenommen, mich zu schikanieren. Na super!

      Unaufhaltsam bahnte ich mir also auch heute meinen Weg durch das Labyrinth aus Zellen und Wachstuben, in dem es weder Quallen noch andere Lichtquellen gab. Stattdessen hing der Geruch von Verzweiflung in der stickigen Luft und das Rauschen der See klang hier unten seltsam dumpf und bedrohlich.

      Wie grauenhaft musste es sein, sein gesamtes Leben in einer dieser Zellen zu verbringen!

      Eine Gänsehaut kroch über meinen Nacken, während ich mich zum gefühlt tausendsten Mal am schlaksigen neuen Lehrling des Kerkermeisters vorbeischlich, der in einer Ecke jenes finsteren Gangs eingenickt war und leise schnarchte. Jenes Gangs, an dessen Ende ein seit Generationen gequälter Gefangener darauf hoffte, von mir befreit zu werden …

      Was ich da tat, war natürlich Hochverrat. Sogar viel mehr als das.

      Aber ich konnte es nicht länger zulassen.

      Eilig raffte ich meine Röcke noch ein bisschen mehr zusammen, um sie am Rascheln zu hindern, und beschleunigte meine Schritte. Das verbotene Verlies lag vor mir und schließlich griff ich nach dem Amulett der Winde und schob es in das erste der zahlreichen Schlösser. Es ließ sich tatsächlich wie ein Schlüssel darin herumdrehen. Schon vibrierte der Boden unter meinen Füßen.

      Ich hasste dieses Gefühl, hasste diese Erinnerung. Mein Unterbewusstsein würde mir wieder einmal alles haarklein vor Augen führen: wie ich die Tür öffnete und das Orakel befreite. Wie ich dabei versehentlich die Schutzflüche Ihrer Majestät aktivierte und eine Kettenreaktion auslöste, die den halben Kerker in Schutt und Asche legte. Und natürlich auch, wie das Amulett der Winde bei alledem irgendwie abhandenkam.

      Ich umklammerte den Talisman mit beiden Händen, gerade so, als bestünde noch eine Chance, ihn meiner Mutter zurückzugeben.

      Da ertönte plötzlich ein weiteres Geräusch, das es zuvor in keinem meiner Träume gegeben hatte: Es war ein Knall, und zwar ein so lauter, dass ich erschrocken aus dem Schlaf fuhr. Fröstelnd blinzelte ich in die Dunkelheit.

      Dies war definitiv die Menschenwelt und nicht der düstere Palast von Atlantis. Ich lag in meinem Bett in der WG, kein Zweifel. Bloß, wieso war es so kalt?

      »Ist alles in Ordnung?«, rief Louisa von nebenan.

      »Mir geht’s gut«, murmelte ich, noch immer verwirrt und frierend und –

      »Krasser Sturm, was?«, fuhr Louisa fort. »Ist irgendwas bei dir kaputtgegangen?«

      »Äh …« Noch einmal blinzelte ich, dann fiel mein Blick auf das Fenster und ich war endgültig wach.

      Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett, im nächsten Moment lehnte ich mich bereits über das Fensterbrett in die Nacht hinaus und angelte nach dem Griff. Die Scheiben klirrten, als ich den Flügel wieder zuzog, während eine weitere Bö daran zerrte.

      »Der Wind hat bloß mein Fenster aufschlagen lassen«, erklärte ich Louisa durch die Wand. »Aber ich hab’s wieder geschlossen. Alles okay.«

      »Und mein Besuch soll gestern zu laut gewesen sein?«, beschwerte sich derweil Fiona durch die Wand der gegenüberliegenden Zimmerseite, während Andreas plötzlich in meiner Tür stand und mir mit einer Taschenlampe direkt ins Gesicht leuchtete.

      »Was ist hier los?«, wollte er wissen. Er trug einen gestreiften Schlafanzug und Badeschlappen und schien wild entschlossen, jedweden männlichen Gast mitten hinaus ins Unwetter zu treiben.

      »Sorry«, murmelte ich. »Der Wind.« Ich nickte in Richtung des uralten Fensters, gegen das nun prasselnder Regen peitschte.

      »Aha.«

      Andreas ließ den Lichtkegel der Taschenlampe zur Sicherheit trotzdem noch einmal durchs Zimmer gleiten, schaute in alle Ecken und kurz sogar unters Bett (zum Glück nicht bis in die hinterste Ecke, wo Bos Goldfischglas stand), dann endlich verzog er sich wieder und ich warf mich erschöpft zurück in die Kissen.

      Wenigstens das Wetter da draußen war kein weiterer Grund zur Aufregung. Nur ein kleiner, allenfalls ein mittlerer Sturm, nichts Ungewöhnliches in dieser Region.

      Aber der Wind kam in dieser Nacht eindeutig von Osten und in seinem Wispern und Summen und Heulen schien tatsächlich so etwas wie eine Warnung zu liegen.

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      4

      Entwurzelt

      Am nächsten Morgen kämpfte ich volle zehn Minuten mit meinem