Die Worte des Windes. Mechthild Glaser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mechthild Glaser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014545
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mir hatte sie für einen Augenblick aus dem Konzept gebracht, vielleicht sogar eingeschüchtert. Aber bestimmt konnten sie sich keinen Reim darauf machen, was genau das sein sollte. Sie ahnten ja nicht einmal, wer und was ich bis zu meinem zwölften Geburtstag gewesen war, geschweige denn, dass Hexen überhaupt existierten.

      Und so langsam dämmerte ihnen wohl, dass sie mich genauso leicht verprügeln könnten, wie sie es mit Louisa vorgehabt hatten. Man sah beinahe, wie es hinter ihren schlichten Stirnen arbeitete. Noch ein paar Sekunden und … Unsere einzige Chance war die Überraschung. Wir mussten von hier verschwinden.

      Und zwar rasch.

      »Lauf!«, raunte ich Louisa zu und gab ihr einen leichten Schubs. »Jetzt!«

      Sie setzte sich in Bewegung, tat erst zögerlich einen Schritt nach vorn, dann stürzte sie plötzlich los, an den Mädchen vorbei und blindlings aus der Gasse.

      Ich machte es ihr nach, drängte mich zwischen der Mauer und Vivien hindurch, die nach mir hieb, mich allerdings verfehlte. Einen Herzschlag später nahm sie bereits die Verfolgung auf. So schnell mich meine Beine trugen, flitzte ich um die nächste Ecke.

      Ich war noch nie eine gute Läuferin gewesen. In meinen nunmehr fast viereinhalb Jahren unter den Menschen hatte ich mich weder fürs Joggen noch für sonst eine Sportart großartig begeistern können, weil meine Füße an Land dummerweise ziemlich schmerzten. Dementsprechend war es leider auch um meine Kondition bestellt. Lange würde ich das definitiv nicht durchhalten können. Allerdings besaß ich eine gewisse Wendigkeit und verlegte mich daher darauf, möglichst viele Haken zu schlagen.

      Zuerst zwängte ich mich an einem parkenden Auto vorbei, dann tauchte ich unter einem Geländer hindurch. Als Nächstes rannte ich im Zickzack über eine der seltenen Wiesen in diesem Stadtteil, um kurz darauf ohne Vorwarnung auf einen Spielplatz abzubiegen. Nach einer Runde um das Klettergerüst, den Mülleimer und die Bänke gab Vivien es endgültig auf und auch Marie, die in ihren Plateauschuhen sowieso Probleme hatte mitzuhalten, war die Lust vergangen, mich zu jagen. Einmal versuchte sie noch, mir den Weg abzuschneiden. Doch als ich einen weiteren Haken schlug, wurde es auch ihr zu bunt. Mit einer letzten wüsten Beschimpfung schleuderte sie Louisas Trinkpäckchen in meine Richtung.

      »Volltreffer!«, johlte sie, als mir das Ding gegen die Schläfe klatschte und dort aufplatzte. Der klebrige Inhalt rann über mein Gesicht, wobei meine Kopfschmerzen sich zu neuen Höhen aufschwangen.

      Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Ganz toll«, zischte ich. »Gar nicht albern oder so.«

      Vivien prustete, während Marie mich mit ihrem Blick durchbohrte. »Du kannst froh sein, dass wir es dabei belassen«, sagte sie. »Für heute.«

      Dann hakte sie sich bei Vivien unter und zusammen verließen sie den Spielplatz.

      Wütend sah ich ihnen nach.

      Alles in mir schrie danach, den Ostwind zu rufen und ihnen auf den Hals zu hetzen. Nur ganz kurz. Bloß, um sie etwas Respekt zu lehren. Früher in meiner Heimat hatte es kaum jemand gewagt, auch nur den Blick in meiner Gegenwart zu heben. Und nun stand ich hier und musste mir so etwas gefallen lassen?

      Wieder spürte ich das übermächtige Rauschen der Brandung und mit ihm den Gesang der See. Wild und stark. Aber nein, ich unterdrückte den Impuls, wie ich es immer tat. Vermutlich würde mein geliebter Ostwind mir ohnehin nicht mehr gehorchen, oder? Ich seufzte.

      Selbst wenn, ich würde es nie herausfinden und das war auch besser so. Ich hatte es nicht anders verdient. Und ich sollte dankbar für das Leben sein, das ich nun führte. Dafür, überhaupt noch lebendig zu sein!

      Mit dem Ärmel wischte ich mir den Saft aus den Augen. Immer noch ein wenig außer Atem schlurfte ich zu den Schaukeln und ließ mich auf einer davon nieder. Dass die Sitzfläche nass war, kümmerte mich nicht. Der Himmel sah aus, als wollte er sich jeden Augenblick erneut auswringen, doch ich fürchtete mich nicht vor ein paar Regentropfen. Diese Wolken waren zwar einen Hauch zu dunkel, aber bestimmt bildete ich mir das nur ein.

      Ja, ganz sicher.

      Hätte ich mich auf hoher See befunden … Hier hingegen? Das mussten die Kopfschmerzen sein, ich begann wohl schon zu halluzinieren.

      Wenigstens hatte ich den Spielplatz bei diesem Wetter für mich allein. Ich machte einen Moment lang die Augen zu, stieß mich mit den Füßen vom Sand ab und stellte mir vor, dass es Wellen wären, die mich sanft auf und ab schaukelten.

      Louisa war am Ende der Gasse in die entgegengesetzte Richtung gelaufen und vermutlich längst zu Hause. Jedenfalls hoffte ich das. Es war schon das dritte Mal diese Woche, dass ich sie vor einer Schulhofschlägerei hatte retten müssen! Wie schaffte sie das bloß immer wieder? Zwar kümmerte ich mich wirklich gerne um sie, aber eine kleine Pause wäre definitiv nicht schlecht.

      Ich massierte meine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. Die Lider hielt ich geschlossen. Wenn bloß dieses verdammte Kopfweh nicht dafür sorgen würde, dass ich seit Tagen kaum geradeaus gucken konnte! Ob es am Luftdruck lag?

      Das Atmen an Land war stets schwierig für mich. Bei jedem Zug plagte mich dieses Gefühl, dass irgendetwas Entscheidendes fehlte. Ich würde mich wohl niemals daran gewöhnen, den Himmel statt des Ozeans über mir zu spüren. Dieser erschreckend leere Raum über meinem Kopf, diese grauenvolle Abwesenheit von … allem! Da konnte man auf die Dauer ja nur krank werden. Freiwillig hielt sich jedenfalls keine Hexe länger als nötig hier oben auf. Niemand von uns verließ die von gläsernen Kuppeln geschützten Siedlungen der Tiefsee, wenn wir es irgendwie vermeiden konnten.

      Und genau deshalb war die Oberfläche so ein gutes Versteck.

      Auch in dieser Stadt gab es natürlich Außenposten der Meerhexen. Die Regelung des Wetters, das Brauen und Köcheln und Sieden mussten schließlich außerhalb des Wassers stattfinden und hin und wieder entdeckte ich meinesgleichen tatsächlich am Strand oder in den Wellen. Ich wusste, dass sie den alten Leuchtturm oben auf den Klippen als Geheimversteck nutzten. Doch keiner von ihnen hatte mich bisher auch nur eines Blickes gewürdigt. Mich, Robin, das Menschenmädchen. Das in einer Wohngruppe für Jugendliche mit sozialen Problemen lebte und unter chronischem Kopfschmerz litt, vermutlich vom Schulstress. Nun ja, ich war so langweilig geworden, um im Chaos der oberflächigen Welt unterzutauchen.

      Je langweiliger, desto besser, lautete meine Devise.

      Wieder traf etwas Nasses mein Gesicht, doch dieses Mal war es ein Regentropfen, kühl und prall, nicht so klebrig wie der Orangensaft. Angenehm. Ich schaukelte schneller und schneller und genoss das Gefühl von weiteren Tropfen, die auf meinen Wangen zerplatzten und sich in mein langes, zotteliges Haar verirrten. Der Wind zerrte an meinen Kleidern und selbst durch die geschlossenen Lider erkannte ich den Blitz, der über den Himmel zuckte. Hell und scharf, eine Klinge bester Qualität würde man daraus schmieden können.

      Was mich natürlich nicht mehr im Geringsten interessierte. Mich, eine normale Teenagerin, die hier bloß in Ruhe im Regen schaukeln wollte …

      Schon nach kurzer Zeit war ich vollkommen durchnässt. Meine Jeans klebten an meinen Oberschenkeln und meine Jacke hing schwer an meinen Schultern. Aber die Kopfschmerzen verflüchtigten sich etwas. Ich lächelte in mich hinein. Es waren Momente wie diese, die mir eine gewisse Linderung verschafften. Die mich vergessen ließen, was ich verloren hatte. Wasser! Wasser, das über mein Gesicht perlte, in meinen Ohren rauschte und jeden einzelnen meiner Gedanken durchflutete. Wasser, das sich für einen Augenblick so sehr nach zu Hause anfühlte, dass ich nicht einmal die offensichtlichsten Anzeichen erkannte.

      Denn als ich das nächste Mal blinzelte, war es bereits zu spät. Das Gewitter hatte sich verändert. Nicht der Regen, der prasselte weiter auf die Erde, als wäre es das Gewöhnlichste auf der Welt.

      Aber die Wolken.

      Die Blitze.

      Der Nachhall des Donners!

      Plötzlich durchpflügte dieses Dröhnen den Himmel, ein dumpfes, wütendes Grollen von der Art, die man nicht hören, sondern nur tief im Bauch spüren konnte. Wütend. Bedrohlich.