Wildspitz. Monika Mansour. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Mansour
Издательство: Bookwire
Серия: Zuger-Reihe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416692
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ihrer Taschen und ging zu Coco, hob ihn hoch und trug ihn mit nach draussen. Der Hund galt somit offiziell als entführt, dachte Sara. Sie seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück. Sie wusste, dass sie sich diese Bilder noch oft ansehen würde, zusammen mit ihren Kollegen, den Technikern und Analytikern der Zuger Polizei. Euch kriege ich hinter Gitter, dachte Sara.

      Sie stand auf und verliess den Überwachungsraum. Tamara lehnte draussen an der Wand und weinte leise. Sara räusperte sich. «Für den Augenblick habe ich genug gesehen. Ich muss wissen, mit welchem Badge die Türen geöffnet wurden.»

      Tamara wischte sich die Augen trocken. «Das Programm sollte jetzt laufen. Lassen Sie mich nachsehen.»

      Sara behielt Tamara im Auge. Sie wollte einer weinenden Frau nicht leichtgläubig vertrauen. Immerhin war das hier ein Tatort, und nachträglich Spuren zu verwischen, wäre für Tamara ein Leichtes. Aber sie konnte nicht die Frau sein, die eingebrochen war. Tamara war wesentlich kleiner und muskulöser gebaut. «Weshalb haben die Täter hier drinnen nichts verwüstet?»

      «Der Überwachungsraum ist mit einem Schnappschloss versehen. Einzig wir von Safetron und natürlich der Leiter von Rivoli, Professor Zach, haben einen Schlüssel.» Tamara setzte sich vor den Computer.

      Sara winkte Lüscher heran, ohne die Augen von Tamara zu nehmen. «Es gibt Blut auf dem Boden, richtig?», flüsterte sie ihm die Frage zu.

      «Ja. Der Schlag hat eine üble Platzwunde auf der Stirn aufgerissen, die für kurze Zeit stark blutete.»

      «Es könnte anderes Blut dabei sein. Coco hat einen der Einbrecher in den Arm gebissen. Nimm Proben vom Blut nahe der Flügeltür.»

      Lüscher machte sich gleich an die Arbeit. Sara ging zurück in den Überwachungsraum. Tamara druckte eine Liste aus, die mehrere Einträge enthielt. Es war genau dokumentiert, wer mit welchem Badge und PIN-Code wann welche der Labortüren öffnete. Sara nahm die Liste entgegen.

      In diesem Moment stürmte Lind herein. Auch er hielt ein Papier in der Hand. «Weisst du, wer gestern hier seinen letzten Arbeitstag hatte?»

      Sara drehte sich der Magen um. Sie starrte auf ihre eigene Liste. Ganz unten fand sie die Zeilen, nach denen sie suchte:

      29-08 01:32 Gate 1 Badge 784197 Code 9377 H. Krieger

      29-08 01:38 Gate 4 Badge 784197 Code 9377 H. Krieger

      29-08 01:43 Gate 3 Badge 784197 Code 9377 H. Krieger

      29-08 01:44 Gate 2 Badge 784197 Code 9377 H. Krieger

      29-08 01:49 Gate 1 Badge 784197 Code 9377 H. Krieger

      ZWEI

      «Dir entgeht ein traumhafter Sonnenaufgang.» Musa, ihr Pfleger, trat in ihr Geheimzimmer. «Hier drinnen ist es dunkel wie in einer Grabkammer. Hast du die Nacht durchgearbeitet?» Er setzte sich neben Natalie an den Tisch und starrte auf die Monitore. «Du kannst die Welt nicht retten. Auch Superheldinnen stossen an ihre Grenzen.»

      Natalie zeigte mit ihrer einbandagierten Hand auf den mittleren der drei Monitore. Die Bildqualität war schlecht, der Livestream kam über eine Handykamera. «José hat es fast geschafft. Eine letzte Tür und sie sind frei.»

      «Wie viele diesmal?»

      «Drei Frauen, zwei Mädchen, keine zwölf Jahre alt, die beiden.» Es rauschte durch die Lautsprecher. Zwei Hacker und Mitglieder ihrer Organisation waren ebenfalls zugeschaltet. Natascha hatte sich von Minsk aus in das als Konservenfabrik getarnte Unternehmen in Monterrey gehackt und kontrollierte die Aufnahmen der Aussenkamera. «Two minutes. José, get out. Now!»

      «¡Qué mierda!», fluchte José in Mexiko. «¡Ándale!»

      Natalie sah, wie er die fünf befreiten Opfer vor sich hertrieb. Eine Frau humpelte stark. Die Tür am Ende des dunklen Korridors war der Weg in die Freiheit.

      Natalie fuchtelte mit der Hand vor dem Monitor hin und her, so als wollte sie die Flüchtigen antreiben. Ihr Blut pochte hart durch die Halsschlagader. «Wenn sie es nicht schaffen, sind die Frauen tot. Mensch, Musa, wenn die Menschenhändler José in die Finger kriegen, ist es vorbei. Die machen kurzen Prozess mit ihm. Da kann ihn auch sein korrupter Vater nicht rauskaufen.» Natalie schaltete das Mikrofon ein. «They need more time. Jimmy, do something.» Jimmy war der zweite Hacker, der sich zusammen mit Natascha ins System des Unternehmens in Mexiko gehackt hatte. Er war aus Detroit zugeschaltet.

      «Damn, I’m working on it. Yeah, that’s it. I’m gonna fuck the bastards! Just keep watching. Three. Two. One. Party!»

      Musa beugte sich vor, und auch Natalie starrte gebannt auf den Monitor. José und die Frauen waren fast an der Tür. Es war der Korridor auf der rechten Seite, der Natalie Sorgen machte. Sie wussten, dass die Wachmänner auf ihrer Runde in wenigen Sekunden um die Ecke biegen würden, direkt zwischen José und der rettenden Tür. Die Neonröhren, die den kahlen, unterirdischen Gang spärlich beleuchteten, flackerten. Durch das auf Lautsprecher gestellte Handy von José hörte Natalie einen ohrenbetäubenden Alarm. Die Sprinkleranlage sprang an. Jimmy hatte den Feueralarm ausgelöst. Natalie konnte nur hoffen, dass dieser die Wachmänner überzeugte, ihre Runde abzubrechen und zurück zur Zentrale zu laufen. «José», rief sie ins Mikrofon, «la puerta!» Er kam nicht dazu, zu antworten. Es wurde schwarz auf dem Bildschirm.

      «Was ist los?», fragte Musa.

      Das Wasser, ging es Natalie durch den Kopf. Josés Handy musste kaputtgegangen sein. Sie nahm Kontakt mit Natascha auf, auch diese bestätigte die Funkstille. «We have to wait.»

      Draussen wartete der Fluchtwagen. Nacho sass am Steuer. Sie mussten warten, bis dieser sich meldete. Natalie atmete tief durch und lehnte sich im Stuhl zurück. Ihr linkes Bein schmerzte.

      Musa legte ihr die Hand auf die Schulter. «Du tust dir und deinem Körper mit schlaflosen Nächten nichts Gutes.»

      «Ha, ich bin bereits ein Wrack. Besser ein Wrack, das diesen Frauen das Leben rettet, als ein Wrack, das jammernd in weichen Daunen liegt.»

      «Wenn sie draussen sind, loggst du dich aus dem Darknet aus, und wir gehen hoch ins Beautyzimmer. Ich muss mich um deine Wunden kümmern. Und du brauchst einen Beutel Powerfood. Besser zwei.»

      Natalie fasste sich an den Bauch, dort, wo der Zugang zur Magensonde lag. «Ich muss erst mit Julien –»

      «Nein. Julien kann warten.»

      Natalie starrte Musa an. Er war wie der grosse Bruder, den sie nie hatte, obwohl sie äusserlich nicht unterschiedlicher hätten sein können. Musa war dunkel wie Milchschokolade, mit kurz rasierten schwarzen Haaren, braunen Augen und strahlend schöner Haut. Er trug ein schlichtes T-Shirt und weisse Shorts. Musa strotzte vor Energie, Natalie hingegen war ein Hauch bleiches Elend. Dünn und schwächlich, mit verkrüppelten Händen und Füssen, unzähligen Wunden auf ihrer Haut, die so zerbrechlich war wie die Flügel eines Schmetterlings. Man nannte sie Schmetterlingskinder, die unglücklichen Seelen, die mit dem Gendefekt EB, dem Epidermolysis bullosa, geboren wurden. Die Haut haftete nicht am Körper an und platzte bereits bei einem kleinen Stoss auf, was schmerzende, brandnarbenähnliche Wunden hinterliess. Natalie war erst vierundzwanzig, doch ihre Speiseröhre war bereits so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass sich eine teilweise Ernährung durch die Magensonde nicht mehr vermeiden liess.

      «Amigos», rief eine Stimme durch die Lautsprecher.

      «Das ist Nacho!» Natalie hörte, wie sich Jimmy mit ihm unterhielt. Geschafft. Die Frauen und José waren im Wagen. Nacho fuhr in diesem Moment auf die Autobahn. Natalie fiel Musa in die Arme und konnte nur schwer die Tränen zurückhalten.

      «Kipekapeka bringt dich eines Tages um», flüsterte Musa in ihr Ohr.

      Kipekapeka war die internationale Organisation, die Natalie vor einigen Jahren gegründet hatte und fast ausschliesslich im Darknet operierte. Freunde auf der ganzen Welt hatten sich angeschlossen. Junge, oft vermögende Frauen und Männer, die etwas bewirken wollten und Verbrechen an den Schwächsten auf dieser Welt nicht tolerierten. Die meisten Aktionen waren illegal und gefährlich. Sich mit Drogenkartellen,