Wildspitz. Monika Mansour. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Mansour
Издательство: Bookwire
Серия: Zuger-Reihe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416692
Скачать книгу

      Ramirez starrte auf sein halb volles Glas, das er unbeholfen zwischen den Fingern drehte. Sektgläser mit dünnem Stiel waren nicht sein Ding. Er mochte Bier in Dosen.

      Rebecca, Harris Frau, trat zu ihnen, das dunkelhäutige Baby im Arm. «Schatz, Professor Zach fragt nach dir.»

      Sie entschuldigten sich und liessen Ramirez zurück. Er beobachtete die Gäste, bekannte Gesichter, aber fremde Persönlichkeiten. Viel mehr als ein Hallo und Tschüss kam selten über die Lippen der anderen, wenn er ihnen zu den Randstunden über den Weg lief. Er suchte nach Tamara, fand sie aber nicht. Da fiel sein Blick auf Natalie, die Tochter von Harri. Ramirez kannte sie nicht persönlich, aber bei Rivoli wurde viel über sie gesprochen. Er wusste, dass sie ein Schmetterlingskind war. Sie litt an einer genetischen Krankheit, und ihr Vater forschte oft nächtelang im Labor, um eine Heilung zu finden. Natalie war in ihrer Erscheinung ein echter Schmetterling. Sie trug bunte, afrikanische Kleidung, besass aber die blasseste Haut, die Ramirez je gesehen hatte. Sie war gross, sehr dünn und strahlte etwas Magisches aus. Als ob sie seine Blicke spürte, schaute sie zu ihm her und lächelte freundlich. Ramirez grinste zurück, eher unbeholfen, wie er fand.

      Zeit zu gehen, dachte er. Coco, sein Hund, musste raus. Der Arme war schon zu lange in der Wohnung eingesperrt. Ende Juli waren die Nächte perfekt für einen Spaziergang mit seinem Deutschen Schäferhund. Draussen war es auch um zehn Uhr nachts noch hell. Es blieben genug Gäste zurück, um mit Harri seinen Abschied von Rivoli zu feiern. Ende August war sein letzter Arbeitstag, bevor er sich selbstständig machte. Fast zwanzig Jahre war Harri bei Rivoli angestellt gewesen. Eine lange Zeit. Ramirez beschloss, sich heimlich davonzumachen. Nur bei Tamara, seiner Arbeitskollegin bei Safetron, wollte er sich verabschieden. Wo steckte sie bloss? Ramirez suchte Salon, Küche und das Entrée nach ihr ab. Sie war auch nicht auf der Terrasse oder im Papiliorama, das mit tropischen Pflanzen und Tausenden Schmetterlingen bestückt war, zu finden. Ramirez ging zurück in die Villa. Er bemerkte, wie die Tür zu Harris Arbeitszimmer ein Stück offen stand. Von Natur aus war Ramirez ein neugieriger, aber auch vorsichtiger Mensch. Er klopfte kurz an und schob die Tür ein Stück weiter auf. «Hola?»

      Die Frau schoss herum. «Ramirez!»

      «Was machst du denn hier?», fragte er und bekam ein wunderschönes Lächeln geschenkt.

      EINS

      «Ich habe in meiner langen Karriere nie einen solchen mit Leichen übersäten Tatort gesehen. Wie viele sind das? Dutzende? Mir wird schlecht.»

      «Reiss dich zusammen», sagte Sara. «Du bist der Leitende Staatsanwalt in diesem Fall.»

      «Und du die Zuger Kripochefin. Wirst du dich um diese armen Seelen kümmern, die hier tot im Müll liegen?», fragte Lind leichenblass.

      «Nein», sagte Sara. «Mein Job ist es, den Mörder des Nachtwächters zu finden. Diese Kadaver werden fachgerecht entsorgt.»

      «Menschen sind Monster.» Lind fuhr sich mit der Hand durch sein schulterlanges graues Haar.

      Sara wandte sich ab und verliess den engen, gekachelten Raum, in welchem man die Tierkadaver entsorgte. Sie öffnete den oberen Knopf ihrer weissen, gestärkten Bluse und marschierte an den leeren Käfigen vorbei. Es war stickig und heiss, der letzte Samstag im August, und Meteo Schweiz hatte für den September keine Abkühlung versprochen. Viele Tiere waren nicht mehr hier, ein paar Ratten und ein Hund, der seine Zähne zeigte. Alle anderen armen Kreaturen hatten die Täter mitgenommen. Ob das gut war? Darüber hatte Sara bisher keine Meinung gefasst.

      Eckart Lind marschierte neben ihr, für einmal war sein Dauergrinsen weg. Er blickte ernst.

      Menschen waren seltsam, dachte Sara. Lind hatte einige übel zugerichtete Leichen gesehen, aber letztlich waren es die Kadaver der Mäuse und Meerschweinchen und der eines Hundes, die ihn schockierten. Schweigend nahmen sie die Stufen hinunter ins erste Stockwerk.

      Ihr Kollege Bolander kam ihnen entgegen. «Wie sieht es oben aus?»

      Sara verschränkte die Arme und übernahm das Wort. «Identisch. Das absolute Chaos. Durchwühlte Vorrats- und Lagerräume, aufgebrochene Käfige und die meisten Tiere wurden von den Tätern mitgenommen. Sorgen macht mir, dass sie die gut gesicherten Gefrierschränke, wo gefährliche Viren und Bakterien lagern, aufbrachen. Noch wissen wir nicht, ob sie etwas mitgehen liessen oder ob die Täter nur auf Verwüstung aus waren.»

      «Radikale Tierschützer?», fragte Bolander.

      «Das oder wir haben es mit Einbrechern zu tun, die nebenbei ein Herz für Tiere haben. Hast du dich hier umgesehen?»

      «Ich warte auf Dr. Weisshaar. Sie sollte jeden Moment eintreffen. Ohne Zugangsberechtigung kommen wir nicht in die Labors. Der Leiter von Rivoli Biotech Analytics ist soeben eingetroffen und sitzt unten im Büro. Du wolltest ihn gleich sprechen.» Bolander schaute Lind an.

      Dieser spielte mit den bunten, geknüpften Armbändern am Handgelenk. Er sah müde aus. Sie waren mitten in der Nacht aus dem Bett geholt worden. Dementsprechend hatten sie ihre Kleider gewählt. Lind trug eine grüne Cordhose und ein buntes Hawaiihemd in Türkisfarben. Der eher konservative Bolander wäre sonst nie mit einem «I Love Paris»-T-Shirt in der Polizeizentrale aufgetaucht. Sara hoffte, dass ihre Bluse, die sie gestern schon getragen hatte, nicht zu arg zerknittert war und unter den Achseln keine Schweissflecke aufwies.

      «Eckart?»

      Lind war der Liebling im Team der Zuger Polizei und Staatsanwaltschaft. Sara mochte ihn nur bedingt. Bolander holte den Staatsanwalt aus seiner Gedankenwelt zurück. Dieser schreckte auf, war mit den Gedanken vermutlich bei den Kadavern. «Wie heisst der Leiter des Labors noch gleich?»

      «Professor Günter Zach», klärte ihn Bolander auf. «Er kann sich den Einbruch in sein Labor nicht erklären, ist aber erstaunlich kühl und gefasst. Er behauptet, dass sie sehr strenge Sicherheitsvorkehrungen haben, und vermutet deshalb einen Insider, der an der Sache beteiligt sein muss.»

      Lind ging hinunter zum Empfang, und Sara nutzte die ruhige Minute, sich umzusehen. Rechts und links von ihr führte der Korridor zu zwei gläsernen Türen, die nur mit Badge und persönlichem PIN-Code geöffnet werden konnten. Die Türen waren verschlossen. Dahinter sah Sara aber das zerstörte Mobiliar in den weiterführenden Korridoren, in welchen jeweils zu beiden Seiten Türen zu den einzelnen Räumen offen standen. Die Täter hatten reichlich Reagenzgläser, kleinere Apparate und Dinge, die Sara nicht kannte, aus den Räumen in den Flur geschmissen. Sie hatten gnadenlos randaliert. Das Chaos konnte unmöglich eine Person allein veranstaltet haben, nicht in der kurzen Zeitspanne, als der Alarm ausgelöst wurde, bis der erste Wagen der Sicherheitspolizei eintraf. Die Täter waren schnell gewesen.

      Eine junge Frau eilte die Treppe hoch. Sie trug ein kurzes rotes Sommerkleid und hatte die prachtvollsten schwarzen Haare, die Sara je gesehen hatte. Sie reichten ihr bis zu den Hüften. «Das darf doch nicht wahr sein», rief die Frau aus, als sie einen ersten Blick durch die Glastüren warf. «Wer tut so etwas?»

      «Und Sie sind?», fragte Sara harscher als beabsichtigt.

      «Oh, entschuldigen Sie», sagte die Frau. Sie sprach Hochdeutsch. «Ich bin Julia Weisshaar. Dr. Julia Weisshaar. Ich bin die Abteilungsleiterin der Bioverfahrenstechnik.»

      «Wir müssen hinein und uns umsehen.»

      «Natürlich.»

      Sara telefonierte mit Lüscher vom Kriminaltechnischen Dienst, der sich unten um die Leiche des Wachmannes kümmerte. «Schick mir einige deiner Jungs hoch. Wir können reingehen.»

      Eine Minute später hatte Sara ein vier Mann starkes Team zusammen. Sie blickte von der gläsernen Tür rechts zu der zu ihrer Linken. Rechts stand «Bioverfahrenstechnik» geschrieben, links «Zellkulturtechnik». «Bolander, nimm dir zwei Mann und schau dich bei den Zellkulturen um. Ich gehe mit Dr. Schwarz… ähm Weisshaar zum Labor für Bioverfahrenstechnik, was immer das heissen mag.» Sie zeigte auf zwei Kollegen, die ihr folgen sollten.

      Dr. Weisshaar schloss für Bolander die Tür auf. «Bitte, fassen Sie nichts an.»

      Bolander