Wildspitz. Monika Mansour. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Mansour
Издательство: Bookwire
Серия: Zuger-Reihe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416692
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zu entstammen. Das Gesicht war zart und fast mädchenhaft. Tom gab sich als Journalist aus, der über den Einbruch bei Rivoli schreiben wollte und die Meinung einer Tierschützerin für seinen Bericht brauchte. Er hielt Zeitung und Zeitschrift hoch.

      «Ich lasse keine Fremden in meine Wohnung», sagte sie, ihre Stimme klang erstaunlich tief und herrisch.

      «Nicht nötig», sagte Tom und setzte sein bestes Lächeln auf. Er wusste um die Wirkung seiner Grübchen in den Wangen. Rasch zog er den Notizblock aus seiner Hosentasche, den er vorhin mit den Schuhen entsprechend bearbeitet hatte, damit er abgenutzt und gebraucht wirkte. «Ich will nur wissen, wie eine Tierschutzorganisation darüber denkt, dass Tiere aus einem Versuchslabor befreit werden. Billigen Sie die Aktion?»

      «Sie wollen wissen, ob Wild ’n Free Animal Rescue es getan hat?»

      Tom grinste und lehnte sich lässig an den Türrahmen. «Ich denke, das waren Profis und keine Tierschützer. Mich interessiert Ihre Meinung. Sie setzen sich für Versuchstiere ein.»

      Ohne Vorwarnung schlug sie Tom die Tür vor der Nase zu.

      Hatte er sich zu weit vorgewagt? Er wollte erneut den Klingelknopf drücken, als sie die Tür wieder aufriss. Eine grosse Tasche hing Linn De Luca um die Schulter. «Gehen wir.»

      Schweigend führte sie Tom hinunter an den See. Es war unmöglich, ihre Gedanken zu entschlüsseln. Weder lächelte sie, noch blickte sie mürrisch oder verschreckt. Sie wirkte ruhig und gefasst. Kaum waren sie am Ufer unter sich und ausser Hörweite von anderen Spaziergängern, explodierte sie wie eine gezündete Rakete. Schweigend hörte sich Tom die emotionalste und leidenschaftlichste Rede über Tierschutz und den Schwerverbrecher Mensch an, die er je gehört hatte. Selbst ihre äussersten Haarspitzen wogen mit jeder Welle der Entrüstung, die aus ihrem Mund kam. Das Blau ihrer Augen bekam einen satten Unterton und schimmerte tiefer und hypnotisierender als zuvor. Sie packte Tom unvermittelt am Arm. Ihr Griff war fest, an der Grenze zu schmerzhaft. «Das sind Bestien ohne Gewissen. Sie quälen aus Lust, aus Profitgier. Erinnern Sie sich an den Fall mit dem Labor bei Hamburg? Es war überall in den Medien. Wenn Versuche hier in der Schweiz nicht durchgeführt werden dürfen, lagert man sie einfach ins Ausland aus. Kommt die Sache dann ans Licht, gibt man sich unschuldig. Als hätte man nicht davon gewusst. Diesen Geiern geht es nicht um Medikamente, um Menschenleben zu retten, ihnen geht es um Experimente, um die hohen Medikamentenpreise zu rechtfertigen. Sie verkaufen Tierversuche mit geschickten Marketinginstrumenten, erzählen Lügenmärchen von wegen zwingend notwendig. Zivilisiert? Ha! Wir nennen uns zivilisiert? In den Tausenden von Jahren, in denen es Menschen gibt, haben wir nie so grausam und unnötig Millionen von Tierleben verschwendet, nur um unsere Neugier zu befriedigen.»

      Tom wagte nicht, gegen Linn das Wort zu ergreifen. Bei ihrem Temperament hätte er seine Chance schnell verspielt. Er versuchte, das Thema zu wechseln. «Rivoli, was wissen Sie über dieses Labor?»

      Sie zuckte mit den Schultern, etwas zu gespielt, wie Tom fand. Dann zeigte sie mit der Hand hinüber zum Schloss Buonas, das auf einer Halbinsel lag. Hinter ihm konnte Tom die Skyline der Stadt Zug sehen, wenn man der so sagen wollte. «Bereits seit bald tausend Jahren steht das Schloss dort. Nicht dieses, aber eines seiner vielen Vorgänger. Wissen Sie, dass es heute in Privatbesitz ist? Ein grosser Chemiekonzern nutzt es als Ausbildungszentrum. Dreimal im Jahr ist der Park für uns Einheimische geöffnet. Ist das nicht ein Witz? In unserem kleinen Kanton regieren die Unternehmen, die Firmen und die Scheinfirmen. Einige der weltgrössten Konzerne haben hier ihren Sitz. Wir Bürger können kaum die horrenden Wohnungsmieten bezahlen. Wer profitiert von den tiefen Steuern? Diejenigen, die eh genug Geld haben und kein echtes Bedürfnis, sich um die Armen und Schwachen unter uns zu kümmern. Tierschutz und Wohltätigkeitsveranstaltungen sind reine Werbeveranstaltungen, um den Schein vom Gutmenschen unter den Reichen zu wahren.»

      Tom musste an Natalie denken, an ihre schlaflose Nacht. Nicht alle, die Geld hatten, waren deshalb böse und machtgierig. Vorurteile gegenüber den Reichen waren genauso schlimm wie Vorurteile gegenüber anderen Gruppierungen oder Menschen. Linns Ideale waren nicht ungefährlich. Sie meinte es gut, doch Tom verabscheute Extremismus in jeglicher Art.

      «Wow», sagte er gespielt bewundernd. Auch wenn Linn nicht direkt etwas mit dem Einbruch zu tun hatte, so könnte sie dennoch hilfreich sein, eine heisse Spur zu finden. Er musste sich auf ihre Seite schlagen. «Selten habe ich eine Frau getroffen, die so überzeugend reden kann. Schon mal überlegt, in die Politik zu gehen?»

      «Ich bin Tierarzthelferin und habe in der Politik nichts verloren. Pah, das sind alles verlogene Heuchler, die vor den Pharmafirmen und Grosskonzernen hier in Zug kuschen.»

      Tom strahlte sie an. «Es ist Samstag. Darf ich dich zum Abendessen einladen? Ich würde gern mehr über deinen Tierschutzverein erfahren.»

      «Etwas früh für ein Essen, nicht? Und das Du habe ich dir nicht angeboten.»

      «Magst du Italienisch? Pizza?»

      «Du bist hartnäckig, echt. Aber kein Interesse. Ich habe einen festen Freund.»

      Tom war erleichtert. Er wusste, dass er kein Flirttalent besass, und die Schauspielerei war nicht sein Ding. In der Ferne sah er, wie eine Frau auf sie zukam. Der energische Schritt verriet sie, bevor er ihre Gesichtszüge erkennen konnte. Woher zum Kuckuck wusste sie, dass er mit Linn hier am See war? Mit zwei explosiven Frauen wollte er es nicht aufnehmen. «Sorry, wenn ich zu aufdringlich war. Ich werde gehen und meinen Bericht tippen. Du hast mir weitergeholfen. Danke.» Er tippte sich kurz an die Stirn und machte sich schleunigst davon, ging direkt auf Sara zu. Ohne dass Linn es sehen konnte, hielt er sich den Zeigefinger vor die Lippen und gab Sara ein Zeichen, an ihm vorbeizugehen. Sie verstand seinen Wink, hielt sich aber nicht zurück, ihm einen bitterbösen Blick zuzuwerfen. Tom griff nach dem Handy und rief Musa an. «Hey, Kumpel, ist Natalie wach?»

      «Steht neben mir.»

      «Tom?» Er konnte fühlen, dass sie Musa das Telefon regelrecht aus der Hand riss. «Wie geht es Paps? Hast du ihn gesehen? Sie lassen mich nicht zu ihm.»

      «Keine Sorge, der Drache geht im Moment gerade auf eine weitere Verdächtige los.» Tom blickte über die Schulter zurück, ohne stehen zu bleiben, und sah, wie Sara Linn ihren Polizeiausweis unter die Nase hielt. Linn trat defensiv einen Schritt zurück. Gut möglich, dass Tom sich täuschte, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass Linn wichtig sein konnte.

      «Was hast du vor?», fragte Natalie am Telefon.

      Tom grinste und ging zurück zu seinem Wagen. «Du könntest mich zum Essen ins Papiliorama einladen. Ich verhungere.»

      Er hörte, wie Natalie kurz durchatmete. «Alexandra hat Früchtewähe gebacken. Ich stell dir ein Stück beiseite.»

      ***

      Natalie starrte auf den blauen Schmetterling, der auf ihrer Hand sass und die prachtvollen Flügel ausbreitete. Sie wagte es nicht, in Toms Augen zu blicken. Ihr Herz würde platzen. Blöde Göre, dachte sie. Du weisst genau, dass er nichts von dir will. Der Mistkerl ist zu alt und nicht interessiert an einem Flirt mit einem verkrüppelten Mädchen wie mir. Sie wusste genau, dass er sie wie eine seiner Töchter ansah. Na ja, fast so.

      «Ich habe vorhin mit Rebecca telefoniert», sagte Tom, «und sie informiert. Sie ist auf dem Rückweg und sollte in einer guten Stunde hier sein.»

      Natalie nickte erleichtert.

      «Du bist ungewohnt still», sagte Tom und verschlang den letzten Bissen von Alexandras Kirschwähe. «Alles okay? Mach dich nicht verrückt wegen deines Vaters. Er schlägt sich gut. Diese Linn De Luca steht bei mir auf der Verdächtigenliste ganz oben. Ist ein Anfang.»

      Der Schmetterling flog von Natalies Hand. Sie sass mit Tom im Papiliorama, in ihrem gläsernen Käfig, wie sie ihn nannte. Das runde Glashaus war üppig mit tropischen Pflanzen bepflanzt. In der Mitte stand ein kleiner schmiedeeiserner Tisch mit zwei Stühlen und an der Seite ein Schlafsofa. Im Sommer verbrachte Natalie die Nächte oft hier. Tagsüber war es ihr zu warm. Ihrer Haut tat die Hitze nicht gut. Die Schmetterlinge und Insekten, die hier lebten, waren ihre Haustiere. Es gab auch zwei Madagaskar-Taggeckos und ein paar Kronengeckos im