Er zieht den Wohnungsschlüssel aus dem Schloss, öffnet die Tür und stürmt mit offenem Bademantel und wirren Haaren in den Vorraum. Vier Parteien hat das Haus, aber außer ihm ist niemand daheim, die sind alle bei der Arbeit, die werden erwartet und gebraucht. Ohne Schuhe und unter dem Frottee nackt, flitzt Wenger hinaus zum Briefkasten. Ein einzelner Brief liegt darin, sonst nichts, und Wenger weiß sofort, das ist wieder so einer.
März 2017
Als Kind wollte ich Marlena heißen. Etwas Schwungvolles, mit Rhythmus, ein Name, der nachklingt. Aber meine Eltern haben sich nicht die Zeit genommen. Und so fühle ich mich wie eine, bei der es nicht gereicht hat. Marlen. Abgehackt, abgeschnitten. Jemand, der nicht wichtig ist, nicht bis zum Ende. Da bleibt es stumm, da ist eine Lücke, die ich nicht füllen kann. Die Abenteuer, die ich nicht erlebt habe, sind in dieser Lücke. Die Liebe, die mich nicht gefunden hat, die Kinder, die ich nicht bekommen habe. Sie sind alle in dieser Lücke.
Ich habe noch keinen Ort in San Remo, ich suche danach. Ich gehe jeden zweiten Tag ins La Vita è Bella am Corso Inglese, ein hässliches Restaurant voll von jener Geschmacklosigkeit, die typisch ist für Italien, grauer Fliesenboden und dunkles, lebloses Holz, viel zu dünne Servietten, Plastik überall. Sie bemühen sich nicht oder nur zum Teil, stärken zwar die Tischdecken, polieren die Weingläser, aber sind nachlässig in allem, was sie tun, als wollten sie sagen: Das ist nicht, was uns ausmacht, das ist nicht unser Leben. Dann berechnen sie dir coperto, allein dafür, dass du an ihrem Tisch sitzen darfst, musst du etwas bezahlen, als Entschuldigung, weil du ihnen Umstände bereitet hast.
Jeden zweiten Tag komme ich hierher, an den anderen Tagen esse ich nicht, das gibt der Woche einen Rhythmus, der anders ist als jener, den ich kannte, sieben Tage, sechs davon in der Buchhandlung, einer frei. Ich gehe ins La Vita è Bella, weil es zu den wenigen Restaurants gehört, die offen haben, jetzt, außerhalb der Saison, und weil ich das Gefühl habe: Ja, ich bin ein Tourist. Ich habe es mir noch nicht verdient, vorzudringen in jene Lokale, die keine englische Speisekarte haben, die vielleicht nicht einmal eine Speisekarte haben.
Außerdem behauptet dieses Restaurant, das Leben sei schön. Das hat einen melancholischen Beigeschmack, er würzt meine Spaghetti alle vongole veraci, das Tiramisu, den Espresso, und natürlich: Da ist der Film von Roberto Benigni. Es geht um den Holocaust darin, und das ist per se traurig, aber diese Geschichte, sie ist komprimierte Traurigkeit, in Form gegossene Traurigkeit, die dich würgt und herfotzt. Du kannst kein Mensch sein, wenn du nicht weinst bei diesem Film. All das denke ich, und dabei ist es nur ein Gasthaus irgendwo in Italien, fast leer, es ist März, das Meer ein garstiger Abgrund, gefüllt mit Eis. Schön ist mein Leben nicht mehr. Er stinkt, mein Zorn, er beißt und ätzt, frisst sich mit winzigen Zähnen durch meine Adern, schuppt sich wieder und wieder, ohne je kleiner zu werden.
Mein Italienisch ist schwer und alt und rostig, wie ein Rechen aus dem Werkzeugkeller, dessen Zacken braun sind und locker. Ich benutze es vorsichtig. Die Wohnung ist eng wie alles in der Pigna, in diesem Gewirr aus Gassen und Durchgängen, das einer orientalischen Kasbah ähnelt. Die Häuser dicht an dicht und dazwischen wenig Platz, weniger und weniger, bis du das Gefühl hast, stecken zu bleiben, aber das geschieht nicht, gerade nicht. Auf meinem Stadtplan finde ich die Straßennamen nicht, und dann haben die Straßen gar keine Namen mehr, es ist dunkel, die Sonne dringt nicht durch, auch kein Lufthauch. Ich gehe und weiß nicht, was vor mir ist und was hinter mir, es gibt keine Nummern, keine Bezeichnungen, ich bleibe stehen. Ich fühle mich nicht sicher, doch das spielt keine Rolle. Ich fühle mich nirgends mehr sicher. Ich stelle mir vor, wie das von oben aussieht, ich, dieser kleine Punkt, genau an diesem einen Ort auf der Welt, zwischen engen, engen Häusern, fast am Ersticken, ausgerechnet hier, hier bin ich. Die Pigna wurde auf einem Hügel erbaut, im Mittelalter, als Verteidigung gegen die Piraten, die Sarazenen und Korsaren, deshalb sind die Straßen so steil, deshalb sind die Durchgänge überdacht und düster, die Häuser übereinandergestapelt. In der Pigna kann man sich verstecken, denn sie wurde zum Verstecken errichtet.
Hier hätten sie mich nicht gefunden.
Ich bin zurückgekehrt zu Papier und Stift, zum Analogen, meine Finger schmerzen, sie sind das Schreiben nicht mehr gewohnt. Und doch ist es gut, wieder Buchstaben mit der Hand zu malen, ich kann nichts löschen. Was ich schreibe, steht da, es ist wirr, denn ich ordne das Denken dabei. Das ist etwas, das wir verlernt haben durch unsere Computer, die so viele Möglichkeiten bieten, um zuschreiben, neu anzufangen, Fehler auszumerzen. Die Fehler, die wir gemacht haben, du und ich, die lassen sich nicht ausmerzen.
Ich weiß nicht, ob du diese Briefe erhältst, ob du sie liest, ob du die kleine Wohnung noch hast. Aber vielleicht schreibe ich sie gar nicht für dich. Sondern weil die Wut etwas zu fressen braucht, und es ist besser, sie frisst das Papier statt mich. Ich will auch nicht, dass du mir antworten kannst, ich werde dir meine Adresse nicht nennen. Oder nein, ich werde ehrlich sein, zu groß ist meine Angst, dass ich sie dir nenne und du trotzdem nicht antwortest.
Der Kellner im La Vita è Bella starrt mich an. Manchmal lächelt er, meistens nicht. Er hat einen Schnurrbart, einen Tom-Selleck-Schnauzer, und ich gefalle ihm. Ich bin blond und groß, tough, mit grauen Augen, er weiß nicht, dass ich eine Landschaft bin mit tiefen Furchen, von Menschenhand verursacht. Er nimmt meine Bestellungen mit einem Lächeln entgegen, er schaut mir beim Schreiben zu. Manchmal wischt er über den Holztresen in einer ewig gleichen Bewegung.
In San Remo begann alles mit einem Roman, und das passt. Auch zwischen uns begann alles mit einem Roman. Giovanni Domenico Ruffini schrieb 1855 ein Buch, das in San Remo spielt, es lockte die ersten Gäste an. Sie kamen, um die Wintermonate im milden Klima Liguriens zu verbringen, und in der Belle Époque wurde aus dem kleinen Fischerdorf ein Kurort, ein elegantes Touristenzentrum mit Hotels und Villen. Die Reichen wollten nach San Remo und die Berühmten, das waren Kaiser Friedrich III., die russische Zarin und natürlich Sisi. Die adeligen Müßiggänger, was hatten sie schon zu tun? Geld wie Heu und diese riesengroße Leere, die gefüllt werden musste. Ich spaziere durch die Stadt und stelle mir Damen in weiten Röcken vor, die an der Promenade flanieren, sie halten ihre Stoffschirme mit weißen Handschuhen und sind sehr blass. Ich stelle mir Männer vor, die diesen Damen Briefe schreiben, die ihnen die Koffer tragen und die Kutschentüren öffnen. Und sie dann ein Leben lang unterdrücken, sobald die Tinte auf dem Ehepapier trocken ist.
San Remo ist eine Stadt, der man ihre Geschichte ansieht. Die Erinnerung ist noch da, die Erinnerung an die Piraten, an die kaiserlichen Zofen, an das Gold und den Champagner. Sie hatte ihre Zeit, diese Stadt, und diese Zeit ist vorüber. Vielleicht bin ich deshalb hier, vielleicht bin ich auch so. Mit dem Schmutz meiner Geschichte auf der Haut und am Ende meiner Zeit angelangt.
Der Kellner hat aufgehört, den Tresen zu wischen. Sobald