Teufelsträne - Zeugen des Untergangs. Leodas Kent. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leodas Kent
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960743415
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gut. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er alle Speisekarten der Stadt auswendig kennen würde. So wie er aber als Feinschmecker einen offenen Mund für alles Essbare hatte, besaß er ein offenes Ohr für alle Mitglieder seiner Gemeinde. Ich mochte Pastor Sampson.

      Im Gegensatz zu mir ging Finn nicht gerne in den Gottesdienst. Ich glaube sogar, dass er sich regelrecht vor der Kirche fürchtete. Jedes Mal saß er mit gesenktem Kopf auf der harten Beichtbank. Bei keinem Lied sang er mit und während die anderen das Vaterunser sprachen, schwieg er.

      Pfarrer Sampson hielt an diesem Sonntag eine Predigt über David und Goliath. Er wollte anhand dieses biblischen Beispiels aufzeigen, dass man alles schaffen kann, auch wenn es noch so schlecht für einen aussah. An jenem Tag standen Finn und ich erst ganz am Anfang der schwierigen Aufgaben, die uns noch bevorstehen würden. Dennoch hatten die letzten Ereignisse meiner Psyche schwer zugesetzt. Deshalb blieb ich nach dem Gottesdienst noch etwas in der Kirche. Ich suchte den Rat von Pfarrer Sampson. Finn und Elmar warteten draußen. Zumindest Onkel hatte Verständnis dafür, dass ich mich der Kirche öffnete.

      Der dicke Mann stand vor dem prächtigen Altar. Er lächelte mich an. „Was hast du auf dem Herzen, mein Kind?“ Seine auffällig hohe Stimme klang fürsorglich.

      „Was bedeutet die Zahl Sieben für das Christentum?“

      Pfarrer Sampson kratzte sich stirnrunzelnd den Kopf. Er hatte wohl erwartet, dass ich ihm mein Herz ausschütten würde. Dennoch gab er mir eine ausführliche Antwort. „Nun, Elisabeth, die Sieben setzt sich zusammen aus der Drei und der Vier. Die Drei steht gleichwohl für Gott, Jesus Christus und den Heiligen Geist. Die Vier spiegelt hingegen die vier Elemente wieder. Wasser, Feuer, Wind und Erde – ohne diese Naturgewalten gäbe es für uns Menschen kein Morgen und kein Gestern. Was also bedeutet die Sieben für dich?“

      Ich brauchte einen Moment, um auf die Frage des Pastors richtig eingehen zu können. „Wenn diese Zahl die vier Elemente und die Dreieinigkeit verbindet, dann steht sie für das Leben an sich. Sie scheint beinahe das Leben selbst zu verkörpern.“

      Als der Pastor sah, wie sehr mich diese Antwort schockierte, kniete er sich nieder, um auf gleicher Augenhöhe mit mir zu sein. „Dein Onkel hat mir von Finns Verhalten erzählt. Aber dein Bruder ist noch ein kleiner Junge. Gib ihm etwas Zeit. Ich bin mir sicher, dass er sich prächtig entwickeln wird.“

      Ursprünglich hatte ich vorgehabt, Sampson auch von unserem Dachboden zu erzählen. Doch mich überkam das Gefühl, er würde mir nicht helfen können.

      In den folgenden Wochen wurde das Verhältnis zu meinem Bruder zusehends schlechter. Er vertraute mir nicht mehr. Meine ständigen negativen Reaktionen auf seine Beobachtungen und Entdeckungen hatten seine Kinderseele schwer getroffen. Doch das Band zwischen Finn und mir war zu stark, als das es sich durch eine schwere Phase hätte zerreißen lassen können. Ich erinnere mich genau an den Tag, als die Verhärtung unserer Fronten ihren Höhepunkt erreichte. Meine Freundin Daiki war nach der Schule mit zu mir gekommen. Finn besuchte inzwischen die erste Klasse. Als wir mit dem Schulbus nach Hause fuhren, setzte er sich so weit weg von mir, wie er konnte.

      Meine Freundin saß neben mir. Sie bemerkte sofort, dass zwischen mir und meinem Bruder etwas nicht stimmte. „Bist du irgendwie sauer auf Finn?“, tastete sie sich heran. Daiki war schon damals eine echte Freundin. Mein Wohlergehen lag ihr am Herzen.

      „Ach ... er erzählt immer dummes Zeug und er ist jetzt sauer, weil ich ihm nicht jedes Wort glaube!“ Im Folgenden erzählte ich Daiki im Bus lauthals von Finns sieben Wächtern und von Raphael. Nur den Dachboden erwähnte ich nicht, dafür war ich zu feige.

      Als wir am Hof meines Onkels ankamen, warteten wir wie gewohnt bis 14:30 Uhr auf das Mittagessen. Daiki kam oft nach der Schule mit zu mir, weil ihre Eltern durch ihr Restaurant so eingebunden waren, dass sie kaum Zeit für sie hatten.

      An diesem Tag bekam Finn keinen Bissen runter. Er war sichtlich bedrückt.

      „Was ist denn los, Finn? Haben sie dich in der Schule wieder geärgert?“, fragte Onkel Elmar besorgt.

      Mein Bruder schüttelte bloß den Kopf. Nach einer Weile sprach er über ein Thema, dass ich am liebsten verdrängt hätte. „Onkel, was befindet sich eigentlich auf dem Dachboden?“

      Ich hasste dieses Thema. Es war schlimm genug, dass mein Zimmer direkt am Aufgang zu dieser unheimlichen Etage lag. Onkel Elmar wirkte erstaunt. Doch bevor er etwas sagen konnte, giftete ich meinen Bruder an. „Warum fragst du nicht deinen Freund Raphael? Ich dachte, der weiß alles ...“ Ich konnte es in Finns Augen sehen. Er hielt es kaum noch aus, dass ich nicht auf seiner Seite stand.

      Onkels Blicke wanderten zu mir. Ein Vorwurf lag in seinem Gesichtsausdruck. „Elli, du könntest wirklich netter zu deinem Bruder sein!“, sagte er. Dann wandte er sich liebevoll Finn zu. „Nun ... auf dem Dachboden ist eigentlich nichts Besonderes.“ Doch kaum hatte er seinen Satz beendet, fiel ihm etwas ein. Es war ein Gedanke, der schwere Erinnerungen mit sich brachte. Er kam so plötzlich in ihm auf, dass man fast glauben mochte, er wäre ihm erst in diesem Augenblick eingeflößt worden. „Eigentlich wollte ich euch das erst später sagen, wenn ihr alt genug seid für dieses Thema. Auf dem Dachboden befinden sich Kisten, Hinterlassenschaften eurer Eltern. Die meisten Sachen sind nach ihrem Tod allerdings weggekommen. Das, was sich auf dem Dachboden befindet, sind nur ein paar Reste.“

      Nie zuvor war ich so sauer auf Onkel Elmar gewesen. Ich konnte nicht verstehen, wie er uns so etwas vorenthalten konnte. „Wieso hast du uns nichts von diesen Sachen erzählt?“

      „Elli, bitte glaube mir“, sagte Onkel Elmar, „ich wollte nicht, dass ihr an den Verlust erinnert werdet. Meiner Meinung nach war die Zeit dafür einfach noch nicht reif. Wenn ihr alt genug seid, dann dürft ihr die Sachen haben. Das meiste sind wahrscheinlich Klamotten ... Ich weiß nicht, ob ihr dort etwas findet, was von Wert ist.“

      Finn blieb während der gesamten Auseinandersetzung ruhig. Ich hingegen war am Explodieren. „Was von Wert ist? ALLES VON UNSEREN ELTERN IST VON WERT!“, schrie ich ihn an. Dann sprang ich auf und rannte hoch in mein Zimmer.

      Ich saß auf meinem Bett. Tränen flossen über meine Wangen. Das Trauma meiner Kindheit war wieder präsent. Meine Eltern waren im Wattenmeer ertrunken, das hatte ich schon erwähnt. Aber unter welchen Umständen das Ganze geschehen war, das habe ich noch nicht erzählt. Genau genommen stammt auch alles, was ich weiß, aus Erzählungen. Finn und ich waren zu diesem Zeitpunkt ja bei Onkel Elmar. So viel mir bekannt ist, sollte es ein normaler Urlaub auf der Insel Föhr werden. Mama und Papa hatten in ein Hotel der Gemeinde Nieblum eingecheckt. Die beiden nahmen an einer Wattwanderung von Föhr nach Amrum teil. Sie gehörten zu einer Gruppe von Touristen, die einen Leiter hatte, der sich im Watt gut auskannte. Wie konnten sie also ertrinken? Der Leiter sagte nach dem tragischen Vorfall, dass meine Eltern plötzlich nicht mehr bei der Gruppe waren. Sie suchten sie, solange sie konnten, aber die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt. Als das Wasser wieder stieg, war die Gruppe gezwungen, ihren Marsch fortzusetzen. Wie konnte so etwas nur geschehen? Ihre Leichen wurden nie gefunden.

      Und auf einmal erfuhr ich davon, dass es Dinge gab, die sie hinterlassen hatten. Ich war sauer auf Onkel Elmar, dass er mir das vorenthalten hatte.

      Daiki kam nach oben und nahm mich in den Arm. Sie war verständnisvoll. Das war ihre größte Gabe, wenn man ihr damaliges Alter in Betracht zieht. „Ich denke, dein Onkel wollte dich mit Sicherheit nicht verletzen. Er dachte, es wäre besser so, und beschloss deshalb, dich vorerst nicht mit der Vergangenheit zu konfrontieren.“

      Eine Weile saß Daiki neben mir und tröstete mich. Irgendwann hatte ich mich beruhigt. Schließlich war ich sogar bereit, mich mit Onkel Elmar auszusprechen. Wir setzten uns alle gemeinsam ins Wohnzimmer, Daiki, Finn, Onkel und ich. Das Resultat des Gesprächs war, dass wir alle gemeinsam auf den Dachboden gehen wollten, um nachzusehen, was unsere Eltern Finn und mir hinterlassen hatten. Onkel Elmar sah ein, dass die Zeit dafür reif war.

      Natürlich fürchtete ich mich noch immer vor dem Dachboden. Dennoch wollte ich es. Vielleicht würde ich endlich meine Ängste ablegen können.

      Es war