Teufelsträne - Zeugen des Untergangs. Leodas Kent. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leodas Kent
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960743415
Скачать книгу
in der zweiten Klasse hatte Finn aber Nachmittagsunterricht. Der Unterricht ging um 14:30 Uhr weiter. Mein Bruder verzichtete lieber auf die Mahlzeit, als sie eine Stunde früher zu sich zu nehmen. Es dauerte nicht lange, bis er sich zum absoluten Außenseiter entwickelte. Die Schulkameraden fingen an, ihn zu hänseln. Sie konnten nicht verstehen, dass es nicht einen Tag gab, an dem er mit ihnen gemeinsam zu Mittag aß. Mein Onkel ließ Finn aufgrund seiner Eigenarten auf Asperger testen. Das Ergebnis war negativ. Finn war kein Autist. Er war einfach anders.

      *

      17. März 1983 – dieses Datum hat sich in meinem Gehirn fest eingebrannt. Wenn ich so darüber nachdenke, war es der Tag, an dem alles anfing.

      Ein schrecklicher Sturm drang über die Alpen zu uns herüber. Wie immer brachte Onkel Elmar meinen Bruder und mich um 21:30 Uhr ins Bett. Finns Zimmer lag direkt neben dem meinen. Wir schliefen im ersten Stock, Onkel Elmar im Erdgeschoss. Die Etage, die sich über meinem Bett befand, war nicht ausgebaut. Sie wurde nur als Dachboden genutzt. Manchmal vor dem Einschlafen, wenn nichts zu hören war, glaubte ich, über mir Schritte wahrzunehmen, als würde jemand auf dem Dachboden herumlaufen. Es machte mir Angst, aber Onkel Elmar hatte gesagt, dass das nur der Wind sei. Ich versuchte, seinen Worten zu glauben, aber in jener Nacht vom 17. März überschlugen sich die Ereignisse. Onkel hatte mir noch einen Kuss auf die Stirn gegeben. Dann knipste er das Licht aus und verließ mein Zimmer. Mit dem Schließen der Tür war es dunkel. Draußen regnete es. Die Wassertropfen prasselten so laut gegen mein Fenster, dass man nichts anderes mehr hören konnte. Das Haus knarrte und quietschte unter den Mächten des Sturms so sehr, dass man das Gefühl bekam, der Bau würde gleich in alle Einzelteile zerrissen werden. In der Ferne hörte ich einige Donnerschläge. Sie waren das Einzige, dass das Prasseln des Regens übertönte. Dennoch schien das Gewitter noch weit weg zu sein. Es fühlte sich so an, als wäre das Grollen in den Wolken der Herzschlag einer Bestie, die langsam aber sicher näher kam. Wenigstens war der Sturm in seinem ganzen Umfang so laut, dass ich keine Schritte auf dem Dachboden hören konnte. Mit unruhigem Herzen schlief ich schließlich ein.

      Ich hatte einen sehr intensiven Traum. Ich stand auf einer endlos langen Wiese. Bis an den Horizont konnte man keinen Baum, kein Haus und keinen Berg erblicken. Es gab nur diese endlose Weite und mich. Ein Gefühl von Einsamkeit bildete sich in mir, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Doch plötzlich war etwas am Himmel zu sehen. Langsam kroch es am Firmament empor, als wäre es die Sonne selbst. Aber das war keine Dämmerung. Denn es war Tag und die Sonne stand bereits im Zenit. Es war etwas Bedrohliches, das am Horizont auftauchte. Aus der Erinnerung heraus ist es schwer zu definieren, was genau es war. Es bestand aus einer unglaublich gigantischen, metallenen Masse, die den gesamten Planeten in Schatten hüllte. Das Metallobjekt schob sich vor die Sonne, sodass sie kein Licht mehr spendete. In diesem Moment war die Verzweiflung am größten. Ich versuchte, zu schreien. Meine Stimmbänder schenkten mir nicht einen Ton. Ich schloss die Augen.

      „Wach auf, Elli! Wach auf!“

      Es gelang mir nicht. Dieser Ort ließ mich nicht los.

      Als ich die Augen endlich wieder öffnete, war ich nicht mehr allein. Die endlose Wiese war nun von Menschenmassen besetzt. So viele an der Zahl, dass man glauben mochte, alle Bewohner der Erde hätten sich an diesem Ort versammelt. Das Objekt am Himmel war jetzt deutlicher zu erkennen. Es war eine metallisch glänzende Kugel. Sie schwebte wohl Hunderte von Kilometern über der Erde und dennoch war sie so groß, dass sie den ganzen Himmel bedeckte. Ich richtete mich auf. Schnell musste ich feststellen, dass die vielen Menschen auf der Wiese mich nicht sehen konnten. Aber das Objekt am Himmel, das konnten sie sehen. Es war, als würde mir jemand ins Ohr flüstern, dass die metallene Kugel die Menschen unterdrücken würde. Sie zwang sie, etwas zu suchen. Die Gier, die von diesem fremden Himmelskörper ausging, war förmlich zu spüren.

      Plötzlich stach ein Mann aus der Reihe. Er konnte mich sehen. Als er mich entdeckte, schritt er langsam auf mich zu. Er war ein älterer Herr, vielleicht Mitte sechzig. Allerdings war das schwer einzuschätzen. Der Mann war sehr klein, kaum größer als ich mit meinen acht Jahren. Auffällig waren seine massiven Körpermaße. Er war kugelrund wie ein Luftballon, der gleich zu platzen drohte. Eine große, runde Brille mit starken, optischen Gläsern ließ seine Augen hinter der Nase vergrößert emporschießen. Ein langer, grauer Bart bedeckte sein halbes Gesicht. Ich bekam Angst. Dieser Mann ähnelte verblüffend einer Beschreibung, der ich bisher kein Gewicht gegeben hatte. Sogar der Zylinder saß auf dem Kopf des merkwürdigen Mannes. Es gab keinen Zweifel. Er war Raphael, der Mann, von dem Finn immerzu sprach. Ich wollte wegrennen, doch das gelang mir nicht. Mein Körper war auf einmal unglaublich schwer. Ich kam keinen Zentimeter mehr vom Fleck. Kraftlos brach ich zusammen. Der fremde Mann griff mit seiner Hand nach mir. Ich wollte schreien, doch in diesem Moment erwachte ich. Schweißgebadet saß ich aufrecht im Bett meines Kinderzimmers. Mein Herz pumpte so laut, dass es noch im Kopf zu hören war. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Es war schließlich nur ein Traum gewesen. Der Regen prasselte immer noch mit aller Wucht gegen das Glas der Fensterscheiben. In meiner kindlichen Fantasie bildeten sich grauenhafte Fratzen in den schwemmenden Tropfen, die sich am Glas entlangzogen. Das Gewitter musste sich nun direkt über uns befinden. Ein gleißender Blitz erhellte für einen kleinen Augenblick das Zimmer. Anschließend donnerte es so laut, dass ich glaubte, der Himmel selbst würde über mir zusammenstürzen. Die Balken des alten Hauses knarrten. Der Boden vibrierte. Der Wind bohrte sich mit solcher Kraft in die Ritzen und Spalten der Fassade, dass ein unheimlicher Pfeifton entstand. Die Welt hatte sich verändert in dieser Nacht – oder zumindest für diese Nacht. Krampfhaft versuchte ich, meinen Traum abzuschütteln, um mich auf die Realität zu konzentrieren. Ich sah auf meinen Wecker: Es war 23:56 Uhr. Fast zweieinhalb Stunden waren vergangen, seitdem Onkel Elmar mich ins Bett gebracht hatte. Tief durchatmend rückte ich mir mein Kissen zurecht und legte mich wieder schlafen.

      Ich schloss die Augen. Doch bereits nach kurzer Zeit hörte ich seltsame Schritte. Sie kamen nicht vom Dachboden. Jemand ging an meiner Tür vorbei. Zuerst dachte ich, dass es Finn wäre. Die Toilette befand sich am Ende des Gangs. Er musste an meinem Zimmer vorbeigehen, um sie zu erreichen. Allerdings hörte ich weder die WC-Tür knarren noch kamen die Schritte zurück.

      Nach ein paar Minuten machte ich mir Gedanken. „Vielleicht ist der prasselnde Regen zu laut gewesen“, dachte ich mir. „Vielleicht habe ich Finn deshalb nicht in sein Zimmer zurückkehren hören.“

      Ein weiterer Blitz durchbrach die Wolkendecke. Ein erneuter Knall erschütterte die Wände des Hauses. Ich zuckte zusammen. Mein Herz beschleunigte wieder. Vielleicht war es nur meine Angst, die mir einen Streich spielte. Schließlich war ich momentan umgeben von Geräuschen, die dieses schreckliche Unwetter hervorbrachte. Vielleicht brachte der Sturm aber auch noch etwas ganz anderes hervor.

      Erneut hörte ich das Knarren der Dielen, als ob Füße umherwandern würden. Dieses Mal klang es so, als würde jemand in das zweite Obergeschoss wollen. Als es erneut knackte, war ich mir sicher: Jemand ging leisen Schrittes die Treppe zum Dachboden hinauf. Mit zitternden Beinen stieg ich aus meinem Bett. Ich wollte das Licht anknipsen. Doch es tat sich nichts. Mein digitaler Wecker war die einzige Lichtquelle. Es war genau Mitternacht. Was auch immer da in unserem Flur war, es erklomm eine weitere Stufe. Dieses Knarren der Dielen ließ mich zusammenfahren. Jedes Haar auf meinem Körper bäumte sich auf und sträubte sich dagegen, die Tür meines Zimmers zu öffnen. Aber was sollte schon passieren? Ich nahm all meinen Mut zusammen und ergriff die Türklinke. Direkt dahinter lag der Aufgang zum Dachboden. Ich würde mich also nicht einmal wegbewegen müssen. Nur einen winzigen Spalt öffnete ich.

      Es war schwierig, in dieser Dunkelheit etwas zu erkennen. Eine kleine Gestalt stand direkt vor den Treppenstufen. Es war Finn. Seine Konturen waren mir vertraut genug, um das zu erkennen.

      „Verschwinde!“, sagte er bloß, ohne sich zu mir umzudrehen.

      „Hallo? Was machst du denn da, bitte?“, fragte ich ihn schroff. Was dann geschah, erschütterte mich bis ins tiefste Mark. Denn Finns Worte galten nicht mir.

      „Verschwinde!“, wiederholte er mit mehr Nachdruck.

      Ich blickte die Treppenstufen hinauf. Für eine Sekunde glaubte ich, die Reflexion zweier gelber Augen wahrzunehmen. Ich schnappte nach Luft. Eigentlich wusste