Teufelsträne - Zeugen des Untergangs. Leodas Kent. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leodas Kent
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960743415
Скачать книгу
er gefesselt vor den Bischof geführt. Die Geschichte kam ans Tageslicht. Durch die sechs anderen Christen, die in der Höhle warteten, ließ sie sich bestätigen. Als der Bischof ihnen gegenüberstand, ließ Gott ihr Antlitz erstrahlen, sodass auch die letzten Zweifler jeden Argwohn ablegen mussten. Angeblich wurde über der Höhle eine Kirche errichtet.

      Mich erinnert diese Geschichte nicht nur an meinen Bruder, weil er sie so gerne hörte. Manchmal erscheint es mir, als würde auch er aus einer anderen Zeit stammen, vielleicht sogar aus einer gänzlich anderen Welt. Ich glaube, dass auch Finn irgendwo geschlafen hat, bis er irgendwann zum Leben erweckt wurde. Er passte einfach nicht in diese Welt.

      *

      Am 07. 07. 1984 war es so weit. Mein Bruder wurde sieben Jahre alt. Er war so besessen von der Zahl Sieben, dass mir eigentlich schon im Vornherein klar war, dass an diesem Tag irgendetwas passieren musste. Onkel hatte seine berühmte Bananen-Schokotorte gebacken. Viele bunte Knöpfe aus Lebensmittelfarbe waren darauf. Elmar stellte sie im Wohnzimmer auf den Tisch. Finn hatte Glück. Denn sein Geburtstag fiel in diesem Jahr auf einen Samstag. Er und ich schliefen also erst einmal gemütlich aus, beziehungsweise ich stand etwas früher auf, um Onkel Elmar bei den Vorbereitungen zu helfen. Wir hingen eine große Happy Birthday-Girlande an der Decke auf. Auch an Geschenken geizte Elmar nicht. Er hatte für seinen kleinen Neffen eine wirklich edle Taschenuhr besorgt. Sie war aus Silber. Der feine Glasverschluss auf der Vorderseite wies die Gravur eines Engels auf. Elmar hatte an diesem Tag allerdings noch weitaus persönlichere Geschenke für Finn. Neben dem Tisch mit der Torte lehnte ein großes Holzschwert. Das Holz war mit Mühe bearbeitet worden. Das größte Geschenk wartete allerdings nicht im Haus.

      Finn stapfte leicht verschlafen die Treppe hinunter. Elmar und ich begannen, zugegeben nicht sehr synchron, ein Geburtstagsständchen für ihn zu singen. Kaum hatten wir unsere melodische Folter beendet, stürzte ich mich auf ihn. „Alles Gute für dein neues Lebensjahr, kleiner Bruder!“

      Auch Elmar nahm seinen Neffen herzlich in die Arme. Finns Augen wurden größer, als sein Blick auf das Holzschwert neben der Torte fiel. Euphorisch fasste er nach dem Griff. „Ich bin der Erzengel Michael! Hüter des Gesetzes, Retter der Armen, die rechte Hand des Himmels und ...“ Weiter konnte Finn seine Spinnereien nicht mehr ausbauen.

      Ich unterbrach ihn. „... und allem voran dem Windelalter frisch entwachsen!“ Ich denke, ich weiß, was er eigentlich sagen wollte, hätte ich ihn nicht unterbrochen:

      „Ich bin ein Zeuge des Untergangs.“

      Finn blieb keine Zeit, sich über mich zu ärgern. Denn Onkel Elmar wollte ihm unbedingt das Geschenk zeigen, in das er so viel Mühen gesteckt hatte. Wochenlang arbeitete er heimlich daran, während wir in der Schule waren. Trotz seiner kräfteraubenden Berufung als Landwirt hatte er Finn am Rande des Waldes ein stabiles und meisterlich ausgearbeitetes Baumhaus errichtet. Unglaublich, wenn ich im Nachhinein daran zurückdenke, wie er uns all die Wochen davon abhielt, in Richtung des Waldes zu gehen, nur damit wir das Baumhaus nicht entdeckten. Er hatte uns erzählt, dass ein tollwütiger Wolf dort herumspaziere und wir erst wieder in den Wald gehen dürften, sobald er diesen erlegt hätte. Elmar erfand diese Geschichte natürlich nur. Aber die Mühen hatten sich gelohnt. Nachdem Onkel uns über seine kleine Notlüge aufgeklärt hatte und wir nun endlich vor dem prächtigen Baumhaus standen, strahlten Finns Augen, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Die einzelnen Stufen der Leiter standen weit auseinander, sodass es wirklich anstrengend war, den schönen Holzbau zu erklimmen. Onkel Elmar hatte den Zugang allerdings mit Absicht so beschwerlich angelegt. Er kannte seinen Neffen einfach zu gut. So waren es genau sieben Stufen, die einen ins Baumhaus führten, nicht mehr und nicht weniger.

      Auch von innen hatte Onkel Elmar es liebevoll eingerichtet. In der Mitte stand ein kleiner Tisch. An der Wand befand sich ein Regal, das mit ein paar Plastiktellern und Tassen ausgestattet war. Mit einem Flaschenzug, an dem ein Eimer befestigt war, konnte man kleinere Gegenstände rauf- und runterziehen. Sogar an eine Truhe hatte Elmar gedacht, in der wir Kinder unsere geheimsten Gegenstände verstauen konnten. Das solide Eichenholz, aus dem das Baumhaus angefertigt war, führte dazu, dass man sich sicher fühlte.

      Nachdem wir das Werk unseres Onkels genaustens inspiziert hatten, aßen wir im Haus Elmars Torte. Wir aßen alle zu viel. Jedenfalls war nicht mehr viel von der Torte übrig, als wir fertig waren. Ich weiß nicht, ob mir jemals zuvor so schlecht gewesen war. Elmar hatte sich voll und ganz Zeit für uns genommen. Er spielte mit uns Verstecken, gab seinen Rücken für ganze Huckepack-Rundgänge her und er erlaubte uns sogar, das halbe Mobiliar im Haus umzustellen, damit sich eine Couch besser als Insel und so mancher Schreibtischstuhl besser als Boot eignete.

      Gegen Mittag musste Onkel aber noch einigen Verpflichtungen bezüglich des Hofs nachgehen, weshalb er uns für mehrere Stunden alleine ließ. Wir saßen ungeduldig und leicht erschöpft vom Vormittag am Tisch. Mein Bruder war dabei, seine neue Taschenuhr hin und her zu pendeln. In seinen Augen lag eine verborgene Trauer. Sie kämpfte mit dem Glück, das der schöne Tag bisher hervorgebracht hatte.

      „Was ist los?“, fragte ich Finn schließlich.

      Er blickte zu mir auf. Seine großen, braunen Augen hatten noch nicht entschieden, ob sie mir vertrauen wollten.

      „Finn, bitte, ich bin deine große Schwester. Ich würde sehr gerne erfahren, was dich bedrückt.“

      Auf den Lippen meines Bruders zeichnete sich ein Lächeln ab. Er war froh, dass ich endlich darum bemüht war, meinen Platz in seinem Leben einzunehmen. „Ach, Elli, ich habe dir so vieles noch nicht erzählt!“

      Ich nahm seine Hand. „Was auch immer du für eine Bürde trägst, lass mich dir etwas davon abnehmen!“

      „Raphael ist gegangen!“ Diese Worte kamen meinem Bruder nur schwer über die Lippen.

      Aus irgendeinem Grund schockierte auch mich seine Aussage. „Wie meinst du das: Er ist gegangen?“

      „Raphael hatte es mir immer wieder gesagt ...“, antwortete Finn. „Er würde nur bis zu meinem siebten Lebensjahr in der Lage sein, mir zu helfen. Und jetzt ist er tatsächlich weg. In keinem Element vermag ich ihn noch zu erblicken ...“

      Ich nahm meinen Bruder in den Arm. „Wobei wollte er dir denn helfen?“, fragte ich Finn.

      Sein Blick wanderte verträumt zu jenem Fenster, das die Sicht auf unser Grundstück preisgab. Es war stürmisch draußen. Der Wind bog die Äste der Bäume durch und die Schaukel in unserem Garten wippte hin und her. Dahinter war Onkel Elmar zusammen mit zwei Aushilfskräften zu sehen. Sie beackerten eines der Felder.

      „Wobei wollte Raphael dir helfen?“, fragte ich noch einmal.

      Etwas lastete schwer auf der Seele meines Bruders. Er sah mich mit seinen verträumten Augen an. Nein, er sah mich nicht nur an. Er blickte bis in mein Innerstes hinein. Doch dieses Mal blieb ich stark. „Ich denke, es ist das Beste, wenn ich es dir zeige!“ Kaum hatte er dies gesagt, ging er entschlossen die Treppen hinauf. Ich folgte ihm. Wir blieben vor dem Dachboden stehen.

      „Ich dachte die ganze Zeit über, dass Raphael uns beschützen wollte. In Wahrheit gibt es dort oben eine Aufgabe, die erfüllt werden muss.“ Finn hielt kurz inne und schluckte. Dann blickte er mich flehend an. „Alleine bringe ich nicht den Mut auf, nach dem zu suchen, was Raphael mir aufgetragen hat.“ Finn streckte mir seine Hand entgegen. „Hilfst du mir?“ Seine Stimme zitterte vor Furcht.

      Es war erstaunlich, welchen Mut mein kleiner Bruder bereits mit seinen sieben Jahren aufbringen konnte. Er hatte wohl so vieles mehr gesehen als wir anderen. Er nahm Dinge wahr, die niemand sonst sehen konnte. Teilweise waren es Dinge, bei deren Anblick selbst der mutigste Erwachsene den Verstand verloren hätte. Ich ahnte irgendwie schon damals, was auf mich zukommen würde. Dennoch ergriff ich an diesem Tag die Hand meines Bruders. Er sollte seine schwere Bürde nicht alleine tragen müssen. Das hatte er nicht verdient. So kam es, dass wir tatsächlich noch einmal diese Treppenstufen hinaufgingen. Die furchtbaren Erinnerungen kamen wieder hoch. Jeglicher Kontakt zu Daiki wurde mir seit dem Vorfall, als sie auf diesem verfluchten Dachboden mit etwas Unaussprechlichem konfrontiert worden war, von ihren Eltern verweigert.