Teufelsträne - Zeugen des Untergangs. Leodas Kent. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leodas Kent
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960743415
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Mit zackigen Bewegungen blickte sie auf den See hinaus.

      „Was meinst du damit?“, fragte ich ihn.

      „Ich spreche von den sieben Wächtern!“

      Ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte.

      „Ist dir noch nie aufgefallen, dass es Menschen gibt, die du nicht kennst und dennoch laufen sie dir immer wieder über den Weg?“ Finn sah mich fragend an. Dann beugte er sich zu mir vor und flüsterte mir ins Ohr: „Das sind sie!“ Sofort flatterte die Möwe davon, als hätten Finns Worte dem Vogel Angst eingejagt.

      „Wen meinst du?“, fragte ich ihn immer noch sichtlich verwirrt.

      „Ich sehe immer wieder einen kleinen, dicken Mann mit einer riesengroßen, runden Brille und einem langen, grauen Bart. Ein großer Zylinderhut sitzt auf seinem Kopf. Er stammt aus einer anderen Zeit, glaube ich ...“

      Ich sah meinen Bruder mit großen Augen an. „Und dieser Mann ist einer der sieben Wächter?“

      Finns Gesicht formte sich zu einem Ausdruck, als wäre ich die Person, die wirres Zeug redete. „Wie kommst du denn auf eine solche Idee? Die sieben Wächter sind ein Seefahrer, ein Schmied, eine Magd, ein Ritter, ein Inselbewohner und ein Römer.“

      Ich musste lachen. „Ein Inselbewohner und ein Römer? Alles klar, kleiner Bruder ...“

      Finn sah mich verärgert an. Er mochte es nicht, wenn ich mich über ihn lustig machte. Ich versuchte also, ernst zu bleiben. „Du sagtest, es wären sieben ...“ Ich zählte an meinen Fingern ab, wie viele Wächter er erwähnt hatte. „Meiner Meinung nach hast du nur sechs Wächter genannt.“

      Finn zuckte mit den Schultern. „Ja, wer der Letzte ist, das weiß ich auch nicht so genau.“

      Ich unterdrückte ein Lachen. Ich war selbst noch ein kleines Kind. Meinen Freunden hätte ich vermutlich jedes Wort sofort geglaubt. Bezüglich meines kleinen Bruders war ich allerdings voreingenommen. Ich war seine große Schwester. Ich musste dafür sorgen, dass wir beide auf dem Boden der Tatsachen blieben. „Und dieser dicke Mann mit der runden Brille? Wer ist das?“

      Der kleine Lockenkopf musste selbst erst einmal darüber nachdenken. Schließlich sagte er aber: „Ich denke, er leitet die sieben Wächter.“

      *

      Es hat lange gedauert, bis ich begriff, wer Finn von diesen sieben Wächtern erzählt hatte. Aber die Zahl Sieben spielte in all seinen mysteriösen Handlungen eine wichtige Rolle. Er war geradezu besessen von dieser Zahl. Mathematisch betrachtet ist die Sieben eine Primzahl und ist nur durch sich selbst oder die Eins teilbar. Überall tritt sie in Erscheinung und die Geschichte zeigt, dass nicht nur Finn von ihr besessen war. Die sieben Hügel Roms und die sieben Weltwunder der Antike, diese Zahl war bereits vor Christus mit einer starken Symbolik versehen. Die sieben Zwerge aus dem Schneewittchen-Märchen, die sieben Raben und die sieben Geißlein, die Werke der Gebrüder Grimm zeigen, dass sie auch in der Literatur zuhause ist. Und auch im christlichen Glauben ist diese Zahl fest verankert. So wurde die Welt in sieben Tagen erschaffen. Zudem besteht auch jede Woche aus sieben Tagen. Superbia, Avaritia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia und Acedia, die sieben Todsünden. 1267 verfasste der Theologe Bonaventura sein Werk zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes. Und warum spricht man in langjährigen Beziehungen vom verflixten siebten Jahr?

      Fest steht, Finn erzählte mir damals an der Promenade zum ersten Mal von den sieben Wächtern. Er behauptete immer wieder, einen von ihnen zu sehen. Der dicke Mann aus einer anderen Zeit war angeblich sogar permanent in seiner Nähe.

       Ich aber glaubte Finn nicht. Ich hielt die Wächter und ihren Leiter für eine Fiktion, die nur durch kindliche Einbildungskraft ausgelöst wurde. Doch auch, wenn offensichtlich nichts von alldem existieren konnte, sollten diese Dinge in Zukunft nicht nur meinen Bruder beeinflussen. Vielleicht eignet sich ein Erlebnis des folgenden Winters, um zu erläutern, was ich damit meine.

      *

      Seit Finns erster Erwähnung bezüglich der Wächter waren einige Monate vergangen. Es musste wohl um den 20. Dezember herum gewesen sein. Jedenfalls stand Weihnachten kurz vor der Tür. Es geschah in meinem ersten Schuljahr und im Gegensatz zu meinem Bruder fiel es mir nie sehr schwer, Freunde zu finden. So kam es, dass ich mit meiner Freundin Daiki auf den gefrorenen Feldern umherspazierte. Auch Finn war dabei. Ich musste immer auf ihn aufpassen, wenn Onkel Elmar mit dem Hof beschäftigt war. Damals nervte mich dieser kleine familiäre Job. Daiki und ich wollten eigentlich ungestört darüber reden, welche Jungs in der Klasse die blöden waren und welche wir süß fanden. Gespräche, wie sie kleine Mädchen eben führen. Stattdessen hing uns Finn an der Backe. Er war damals ein kleiner, pausbäckiger Junge. Nie werde ich diese tiefgründigen, dunkelbraunen Augen vergessen. Sie strahlten als Kind dieselbe Weisheit aus, die er auch als junger Mann einmal haben sollte. Daiki Saitoh war ein liebes, japanisches Mädchen mit einer überaus spannenden Herkunftsgeschichte. Sie hatte einen deutschen Pass, war auch in Deutschland geboren worden, genau wie ihre Eltern. Das war keineswegs selbstverständlich. Unter der Herrschaft der Tokugawa, einer Shogun-Dynastie, war es der japanischen Bevölkerung untersagt, das eigene Land zu verlassen. Mehr als 160 Jahre herrschte das Tokugawa-Shogunat über das Land, machte eine Ausreise zwischen 1603 und 1868 nahezu unmöglich. Erst durch den Seeoffizier Matthew Calbraith Perry kam es im Jahre 1853 zu einer Öffnung Japans hin zu Europa und 1865 gründete der Kaufmann Louis Kniffler in Düsseldorf das erste Japangeschäft. Es war eben dieses Geschäft, das den ersten Japanern eine Übersiedlung nach Deutschland ermöglichte, nicht zuletzt deshalb, weil der Kaufmann in Japan die Stellung als preußischer Konsul innehatte und genug Macht besaß, um eine Auswanderung zu fördern. 1905 wurde der erste Japaner in Düsseldorf offiziell registriert. Daikis Aussage nach war dieser erste Japaner ihr Urgroßvater. So kamen auch ihre Eltern ursprünglich aus Düsseldorf, hatten sich aber ein neues Leben am Bodensee aufgebaut. Sie leiteten in Meersburg ein kleines Restaurant.

      An jenem Nachmittag beschlossen Daiki und ich, zusammen mit Finn Verstecken zu spielen. Wir rannten am Hof und den Feldern vorbei in den anliegenden Wald hinein. Die Bäume waren kahl, der Boden von Schnee bedeckt. Einzelne Flocken wehten durch den seichten Wind. Es war kalt, aber das störte uns Kinder nicht. Wir waren in unserer eigenen Welt. Im Wechsel musste immer einer von uns seine Augen verdecken und zählen, während die beiden anderen sich versteckten. Nach einer ganzen Weile wurden Daiki und ich vor die Aufgabe gestellt, nicht entdeckt zu werden. Mit seinen nicht einmal fünf Jahren konnte Finn natürlich gerade mal bis zehn zählen. Ich sagte ihm, er solle seine Zählung einfach zehn Mal wiederholen und uns dann suchen kommen. Meine Freundin und ich rannten so tief in den Wald hinein, wie wir nur konnten. Doch kurz nachdem wir uns trennten, um ein sicheres Versteck zu finden, hallte ein Schrei durch die Bäume hindurch. Es war Daikis Stimme. Sofort rannte ich dem Hilferuf entgegen. Meine Freundin lag weinend in einer Senke. Sie war abgerutscht. Der Schnee hatte den Boden so aufgeweicht, dass sich Daiki in einer unüberwindbaren Grube aus feuchtem Schlamm befand. Mehrmals wollte sie hochklettern, doch jeder Versuch war vergebens. Immer wieder rutschte sie ab. Es dauerte nicht lange, bis sie vollends in Panik geriet. „Elli, bitte hole mich hier heraus!“ Ich setzte schon zum Sprint an, um Hilfe zu holen, aber Daiki wollte nicht, dass ich sie alleine ließ. Ich legte mich auf den Boden und versuchte, ihr meine Hand zu reichen. Ich kam einfach nicht tief genug, ohne selbst abzurutschen.

      Plötzlich stand Finn hinter mir. Verwundert starrte er die Senke hinunter. „Raphael sagt, dass du deine Jacke ausziehen sollst, um sie als Seil zu verwenden!“

      Wieder einmal sah ich Finn mit jenem irritierten Blick an, den ich stets bekam, wenn er damit begann, in Rätseln zu sprechen. „Raphael? Wer soll das sein?“

      Finn bestätigte meine Vermutung. „Raphael ist der Leiter der sieben Wächter. Er hat mir seinen Namen verraten.“

      Ich mochte es nicht, dass mein Bruder von Dingen sprach, die ganz offensichtlich nicht existierten. Dennoch war seine Idee gut. Ich zog meine Jacke aus und reichte sie hinab in die Senke.

      „Keine Angst, Daiki! Halt dich einfach fest und ich hole dich da heraus!“ Das Vorhaben war jedoch leichter gesagt, als getan. Ich war einfach nicht