Teufelsträne - Zeugen des Untergangs. Leodas Kent. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leodas Kent
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960743415
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dachte kurz darüber nach, was er mir sagen wollte. „Es war Raphael, der mir alles erzählte. Du darfst das Kästchen nie wieder öffnen! Etwas Böses lauert darin!“

      Ein unangenehmes Kribbeln wanderte durch meinen Körper. Der Brief, den ich in diesem Behältnis gefunden hatte, befand sich nun auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer. Ich betete, dass der Spuk nicht auch dort haftete.

      Das Erstaunliche war, dass ich meine Gedanken nicht aussprechen musste. Es war, als würde Finn in meinen Gedanken lesen. „Du musst dir keine Sorgen machen. Es war nicht Papas Schreiben, das diese merkwürdigen Ereignisse ausgelöst hat. Es befand sich noch etwas anderes in dem Kästchen.“

      „Finn, darin war nichts anderes. Also wenn es nicht an diesem Stück Papier lag, was soll es dann ausgelöst haben?“

      „Es ist versteckt ...“, erwiderte Finn. „Aber es befindet sich definitiv in dem Kästchen. Lassen wir es dort, dann sind wir sicher!“

      Im Laufe unseres Gesprächs zeigte ich Finn das Schreiben von unserem Vater. Genau wie ich hatte er nicht die geringste Ahnung, was dieser sogenannte Kreis sein sollte, an den die merkwürdigen Befehle gerichtet waren. Auch die Befehle selbst waren für ihn nicht aufschlussreich. Er verwies auf den Namen Raphael. Er freute sich darüber, dass er auch schon unseren Eltern geholfen haben musste. Schließlich hätte Vater ihn sonst nicht kennen können. Finn fragte mich überdies, ob ich ihm nun endlich glauben würde. Seiner Meinung nach bewies das Schreiben schwarz auf weiß, dass Raphael keine Kindheitsfantasie sein konnte.

      Ich sagte ihm, dass ich ihm glaubte.

      Nach unserem Gespräch setzten Finn und ich uns zu unserem Onkel vor den Fernseher. Die ARD brachte außergewöhnliche Nachrichten. Zum ersten Mal war unsere Heimat in der Tagesschau zu sehen. Prof. Dr. Wolfgang Alldorf von der Universität Konstanz und sein Team hatten mithilfe eines U-Boots namens Bukefalos-77 in den Tiefen des Bodensees eine atemberaubende Entdeckung gemacht. Unter einer dicken Schicht von Schlamm und Algen fanden die Forscher die römische Rüstung eines Legionärs. Daneben lagen die Reste einer Eisenkette, die an einer schweren Schatztruhe befestigt war. Die massive Truhe war gefüllt mit goldenen Solidus-Münzen, anhand derer der Fund genauer datiert werden konnte. Er stammte aus der Zeit des Kaisers Augustus, der 31 vor Christus bis 14 nach Christus über das Imperium Romanum regierte. Das wertvollste Objekt des Fundes war ein Diamant von 150 Karat. Der Edelstein war damit wertvoller als der Koh-i-Noor, einem Diamanten von knapp 110 Karat, der über die britische Ostindien-Kompanie zu den britischen Kronjuwelen wanderte.

      Der Diamant aus dem Bodensee besaß die Form einer Träne. Der Name Seeträne lag daher nicht fern. Als genauer Fundort wurde der Teufelstisch angegeben. Dieser ungewöhnliche und bedrohliche Name kam nicht von irgendwoher: Der Teufelstisch war eine unter Wasser liegende Felsformation des Bodensees. Viele Taucher waren dort ertrunken. Die steilen Felswände sorgten für eine gefährliche Orientierungslosigkeit. Zwischen der Marienschlucht und Wallhausen bildete ein gigantischer Gesteinszacken ein Plateau, von dem aus man den Teufelstisch sehen konnte.

      Zu dem Zeitpunkt, als ich von der Seeträne erfuhr, befand sie sich noch in wissenschaftlicher Inspektion. Wochen später sollte der Diamant im Archäologischen Landesmuseum Konstanz ausgestellt werden.

      *

      Bereits einige Nächte nach den aufwühlenden Ereignissen auf dem Dachboden hatte ich wieder diesen Traum. Ich stand auf einer endlosen Wiese. Um mich herum waren Menschen, die für das riesige, metallische Objekt am Himmel etwas suchten. Wieder stach plötzlich dieser fremde Mann aus der Masse hervor. Die altmodische Kleidung, der graue Bart, die große Brille und der Zylinder kennzeichneten ihn eindeutig als Raphael. Er ging auf mich zu. Ich nahm all meinen Mut zusammen. Finn sagte mir, dass er uns immer nur geholfen hatte. Wenn mein Bruder diesem Geschöpf vertraute, dann wollte ich das auch tun. Raphael ergriff meine Hand. Die Menschenmassen um uns herum bemerkten uns nicht. „Das nicht von ihm entdeckt werden, hat höchste Priorität!“

      Ich wusste sehr gut, wen oder was Raphael meinte. Die Rede war von der großen Metallkugel am Himmel, die ihre feinen Sensoren über das ganze Land ausstreckte. Es war schwierig, dieser finsteren Macht zu entgehen. Doch mein geheimnisvoller Helfer wusste einen Ausweg. Er führte mich durch die emotionslos wirkende Menschenmenge hindurch, bis wir vor einer Höhle standen, die wie aus dem Nichts aus der Wiese hervorstach. Hatte Raphael den Eingang entstehen lassen? Wir gingen hinein.

      Einen kurzen Augenblick umhüllte mich tiefste Dunkelheit, doch bevor sich ein Gefühl von Angst in meinem Herzen ausbreiten konnte, stand ich an einem neuen Ort. Es war helllichter Tag und doch sah man einen so klaren und schwarzen Sternenhimmel, wie man ihn wohl nur an den Küsten des Meeres oder in den Bergen sehen konnte. Ein Mond, tausend Mal größer als der unsere, kam hinter dem Firmament hervor. Dieser Ort besaß offenbar keine Atmosphäre. Vor mir breitete sich ein weites Tal aus. Doch anstatt Wiesen, Flüsse, Berge oder Wälder sah ich eine karge Gesteinslandschaft. Sie wirkte wie die Oberfläche eines Asteroiden. Jedenfalls stellte ich mir so die Struktur eines solchen Himmelskörpers vor.

      Vor mir spielte sich ein schreckliches Schauspiel ab. Es herrschte Krieg. Merkwürdige Schattengestalten stürmten aufeinander los. Sie besaßen keine erkennbare Form. Ihr Äußeres bestand nur aus einem tiefschwarzen Umriss. Es ertönten keine Geräusche. Das Schauspiel war nur ein Echo aus einer längst vergangenen Zeit. Hinter dem Schlachtfeld zeichnete sich die Skyline einer Stadt ab. Die Wolkenkratzer dieser Metropole schienen aus purem Kristall zu bestehen. Das Sonnenlicht spiegelte sich blendend in ihnen wider. Nie hatte ich etwas Vergleichbares gesehen. Raphael beobachtete, wie ich diese fremde Welt bestaunte, bis ich mich ihm zuwendete. Doch gerade als er mir etwas Wichtiges mitteilen wollte, blickte ich in das Gesicht meines Bruders.

      Finn stand weinend vor mir. Er hatte mich aus dem Schlaf gerüttelt.„Du darfst dich nicht mit Raphael befassen! Er will dich nur einweihen, damit ich ihm gehorche!“ Finns Worte verstörten mich. Bisher hatte Raphael uns doch immer geholfen. Woher wusste Finn überhaupt, dass ich soeben von ihm geträumt hatte? Was auch immer hier in unser Leben eingedrungen war, zum ersten Mal war ich dazu bereit, mich nicht vor meinem Bruder zu verschließen. Ohne seine rätselhaften Worte noch weiter auf die Probe zu stellen, nahm ich Finn in den Arm und tröstete ihn.

      *

      Finn hatte eine Lieblingsgeschichte. Onkel Elmar musste sie ihm immer und immer wieder erzählen. Ich spreche von der Siebenschläfer-Legende. Die Erzählung besitzt im Christentum wie auch im Islam Tradition. So trug es sich angeblich zu, dass im Jahre 251 nach Christus der römische Kaiser Gaius Decius nach Ephesos kam, um der Christenverfolgung nachzugehen. Dieser Anhänger alter Traditionen sah die Herrschaft seiner heidnischen Götter bedroht und ließ jeden Menschen hinrichten, der dem neuen Gott nicht abschwor. Es war ein Massaker. Es heißt, dass Decius die vielen Toten auf den Stadtmauern stapeln ließ, bis selbst der massive Stein nachzugeben drohte. Doch sieben Christen, die als Palastdiener bei Decius angestellt waren, überlebten diesen Massenmord. Decius zwang sie, vor seinen Augen den heidnischen Göttern ein Opfer darzubringen. Als die sieben Palastdiener sich weigerten, wurden sie aufgrund ihres jugendlichen Alters nicht sofort hingerichtet. Der Kaiser gab ihnen Bedenkzeit. Die sieben nutzten die Gelegenheit und versteckten sich in einer Höhle des Berges Anchilus. Dort wollten sie, abgeschieden von der Zivilisation, zu Gott beten.

      Als Kaiser Decius feststellte, dass seine Palastdiener geflohen waren, ließ er nach ihnen suchen. Erst durch ihre Eltern, denen er die schlimmste Folter androhte, erfuhr er den Aufenthaltsort der Christen. Er ließ daraufhin den Eingang der Höhle zumauern, auf dass die Christen in diesem Gefängnis verhungern sollten. Doch 197 Jahre später, nachdem sich das Christentum voll etabliert hatte, nahm das Wunder seinen Lauf. Beim Bau eines Viehstalls verwendeten einige Arbeiter das Gestein, das den Höhleneingang versperrte und die sieben Christen gefangen hielt. Gott ließ seine Schutzsuchenden daraufhin aus dem ewigen Schlaf erwachen. Keiner der sieben erkannte, dass er fast zweihundert Jahre geschlafen hatte.

      So machte sich der Jüngste unter ihnen auf den Weg in die Stadt, um etwas Essbares zu kaufen. Schnell wurde ihm bewusst, dass dies nicht seine Zeit war. Denn in dieser Welt hatten die Menschen endlich zum christlichen Glauben gefunden. Vor den Stadttoren von Ephesus waren Kreuze zu erkennen und überall