Teufelsträne - Zeugen des Untergangs. Leodas Kent. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leodas Kent
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960743415
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Dach. Gleißendes, weißes Licht flutete für einen Herzschlag das ganze Haus. Ich hatte mich nicht geirrt. Auf der Treppe saß ein Schatten mit großen, gelben Augen. Völlig in Schwärze getaucht, bot dieser eigenartige Körper dennoch Konturen. Er war massiv, kräftig. Das Ding kauerte auf allen vieren, bog das Kreuz jedoch so unnatürlich durch, dass es eigentlich aufrecht gehen musste. Das Schlimmste an der Erscheinung aber waren diese Augen. Sie waren kalt, wenn auch nicht leblos. Sie stierten mich bedrohlich an mit ihren katzenartigen Pupillen. Mir kullerten Tränen über das Gesicht, und als das Licht des Blitzes uns wieder verließ, damit die Dunkelheit ihr Recht einfordern konnte, verlor ich jegliche Kontrolle. Ich fing an zu kreischen. Beinahe zeitgleich versuchte Finn, noch einmal an den fremden Schatten zu appellieren: „VERSCHWINDE!“

      Ich weiß nicht, ob es nur meine Angst war, die meinem Kopf dann einen akustischen Streich spielte. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass die Stimme meines Bruders mit einer weiteren verschmolz. Eine tiefe Männerstimme schien seinen Ausruf zeitgleich auszusprechen.

      „VERSCHWINDE!“

      Die Stimmen verbanden sich mit meinem eigenen Gekreische. Mein Kopf war einer völligen und panischen Reizüberflutung ausgesetzt.

      Jemand polterte die Treppen nach oben. Er hatte eine Taschenlampe in der Hand. „Was ist hier los?“ Es war Onkel Elmar. Mit seinem Auftreten schien der Spuk vorüber zu sein. Weinend hatte ich mich auf den Boden gekauert. Finn stand immer noch wie angewurzelt da.

      „Habt keine Angst, Kinder! Der Strom ist ausgefallen. Der Sturm muss die Leitungen gekappt haben.“ Elmar wandte sich mir zu. Seine Stimme war so beruhigend. „Elli, wovor hast du denn Angst?“

      Finn hatte sich nicht vom Fleck bewegt. Gebannt starrte er die Treppe hinauf. Ein Blitz erhellte das Haus. Der Schatten auf den Stufen war verschwunden.

      Onkel Elmar fing an, mich zu schütteln. Meine Angst hatte mich in einen tranceähnlichen Zustand versetzt. „Mein Gott, Elli, was ist denn nur passiert?“

      „Irgendetwas wollte auf den Dachboden! Es stand direkt auf den Stufen!“, stammelte ich vor mich hin.

      Mit entsetztem Blick fokussierte Onkel nun Finn. „Stimmt das? Hast du gesehen, was deiner Schwester solche Angst gemacht hat?“

      Die Antwort dieses kleinen Jungen ließ meine Furcht weiter wachsen.„Es wollte nicht auf den Dachboden, es wollte hinaus!“ In seiner Stimme lag Angst.

      Onkel Elmar nahm uns beide in den Arm. „Meine Lieben, eure Augen haben euch einen Streich gespielt! Ihr seid hier sicher!“

      Panisch versuchte ich, Elmar zu widersprechen. „Nein, auf der Treppe saß etwas! Es hatte große, gelbe Augen!“

      Onkel reagierte auf meine Antwort amüsiert. „Große Augen sagst du?“ Jetzt fing er sogar an zu lachen. Ich war irritiert. Ich fand das alles gar nicht witzig. Elmar sah meinen Bruder und mich fordernd an. Sein Blick offenbarte, dass er alles tun würde, um uns zu beschützen.

      „Ach, meine beiden Kleinen, ... große Augen ... Das erklärt doch so einiges. Ihr wisst doch, dass wir Katzen auf unserem Hof haben. Es ist schon öfter vorgekommen, dass sich eine von ihnen ins Haus geschlichen hat. Auf den Treppenstufen saß mit Sicherheit nur eine Katze.“ Das war Onkel Elmars Erklärung für die angsteinflößende Erscheinung. Aber der Schatten war zu groß gewesen. Das war keine Katze.

      „Die Augen waren nicht nur groß, sondern auch gelb!“, widersprach ich ihm.

      „Das war die Reflexion, die durch den Blitz ausgelöst wurde.“

      Stundenlang versuchte ich, Elmar klarzumachen, dass wir mit Sicherheit keine Katze gesehen hatten. Er hörte nicht auf mich. Für ihn war die Sache klar.

      Irgendwann legte sich der Sturm. Da im ganzen Haus kein Licht brannte, erlaubte Onkel Elmar uns, den Rest der Nacht bei ihm zu schlafen. In seinen Armen fühlten wir uns sicher.

      Bis zum nächsten Morgengrauen geschah nichts Ungewöhnliches mehr. Das Erlebte war jedoch nicht vom Tisch. Bedrückt verließen Finn und ich Elmars Bett. Dann machten wir uns für die Schule fertig. Ich putzte mir die Zähne und ging in mein Zimmer, um mich passend zu kleiden. Meine Tür stand offen, während ich mich anzog. Der Aufgang zum Dachboden lag in einem guten Sichtbereich. Eine Bedrohung ging von ihm aus. Das hatte ich schon vor dieser stürmischen Nacht gespürt. Nun war es anders. Es war klarer. Der Dachboden verbarg ein dunkles Geheimnis, etwas, das ich niemals hätte aufdecken wollen. Aber manchmal hatte man keine Wahl. Ich konnte einfach nicht vergessen, was ich auf den Stufen gesehen hatte, obwohl ich eigentlich ja nicht einmal sagen konnte, was ich gesehen hatte.

      Elmar befand sich bereits im Hof und wartete darauf, Finn und mich zur Schule zu fahren.

      Mein Bruder wollte schweigend an mir vorbeigehen, doch ich hatte eine Frage. „Halt, warte mal kurz! Was war das für eine Stimme? Sie hat zeitgleich mit dir gesprochen ...“

      Finn war die Situation unangenehm und ihm war deutlich anzusehen, dass ihn die letzte Nacht mitgenommen hatte. Seinen Mund wollte er allerdings nicht öffnen.

      „Hey, Finn! Ich hab mir das nicht eingebildet!“

      Auf mein Flehen hin war mein kleiner Bruder bereit, auf das Gespräch einzugehen. „Ich denke, du weißt genau, wessen Stimme das war ... Aber du magst es ja nicht, wenn ich von ihm rede. Ich denke, er hat uns letzte Nacht beschützt.“ Traurig und enttäuscht wandte sich Finn von mir ab. Ich hielt ihn an der Schulter fest. Mir kam der seltsame Traum in den Sinn. Auch ich hatte Raphael gesehen. Träumte ich vielleicht nur von ihm, weil Finn ihn mir beschrieben hatte? Ich wusste es nicht. Die Geschehnisse der letzten Nacht ließen mich zweifeln.

      „Finn, es tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe.“ Der Lockenkopf befreite sich trotzig aus meinem Griff und ging. „Ich habe Raphael womöglich auch gesehen!“, sagte ich hastig hinterher.

      Mein Bruder drehte sich zu mir um und wirkte irritiert. „Das kann nicht sein! Nur ich kann ihn sehen!“

      Als ich Finn daraufhin von meinem merkwürdigen Traum erzählte, hatte ich das Gefühl, ihm damit irgendein Puzzleteil zuzuspielen. Er verstand jetzt etwas Grundlegendes, etwas, dass ich noch lange nicht begreifen würde. Schweigend setzten wir uns in die Mercedes E-Klasse von Onkel Elmar. Der grüne Lack des alten Pkw blätterte bereits ab. Wie jeden Tag fuhr Elmar uns zur Schule.

      Das folgende Wochenende verlief ruhig, abgesehen davon, dass zwischen Finn und mir dicke Luft herrschte. Am Sonntagmorgen fuhren wir in die Kirche. Wir gehörten zur katholischen Münstergemeinde St. Nikolaus. Eine Viertelstunde musste für die Fahrt eingeplant werden, nicht mehr. Elmar fand, dass das Überlinger Münster die prächtigste Kirche in unserer Region war.

      „Nach dem Gottesdienst werde ich mir mal die Leitungen ansehen. Auch wenn der Elektriker keinen Schaden feststellen konnte, gehe ich lieber noch einmal auf Nummer sicher“, sagte Onkel Elmar, während er sich auf die Straße konzentrierte. Finn und ich gingen nicht auf den Gesprächseinstieg ein. Wir schwiegen und blickten aus dem Fenster des Autos. „Na hört mal: Diese Nacht macht euch immer noch zu schaffen, oder?“, fragte Elmar in den Rückspiegel guckend.

      „Auf der Treppe zum Dachboden saß keine Katze! Es war etwas anderes“, erwiderte ich schmollend.

      Elmar schüttelte den Kopf. „Was soll es denn bitte gewesen sein? Ich habe euch schon oft gesagt, es gibt keine Geister oder Monster. Wenn da also etwas war, dann kommt nicht allzu vieles dafür infrage.“

      Den Rest der Fahrt schwiegen wir.

      Das Münster St. Nikolaus von Überlingen war ein prächtiges Gebäude. Die fünfschiffige Basilika wurde wohl im 14. Jahrhundert erbaut. Der spätgotische Stil der Kirche beeindruckte jedes Jahr von neuem die Touristen. Vor allem der Innenraum mit Blick Richtung Hochaltar, der vom Bildhauer Jörg Zürn errichtet wurde, vermochte einen durch seine hohen und verzierten Decken zu begeistern. Der Altar selbst entstand Anfang des 17. Jahrhunderts und galt als ein bedeutendes Werk der Spätrenaissance. Der Leiter dieser wundervollen Kirche war Pastor Sampson, ein gutmütiger Mann. Sein kurzes, katholisch gesittetes