Teufelsträne - Zeugen des Untergangs. Leodas Kent. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leodas Kent
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960743415
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nicht!“, beruhigte ich sie, sank jedoch zugleich erschöpft in die Knie.

      Finn legte seine Hand auf meine Schulter. Er lächelte mich an. Irgendetwas Fremdes und Unheimliches verbarg sich hinter seinen braunen Augen. Es machte mir Angst. Finn sagte mit einer Ruhe, als wäre er ein alter, weiser Mann: „Hole einmal tief Luft und zähle bis sieben! Dann zieh noch einmal mit aller Kraft, du wirst es schaffen!“

      Mein Bruder war wirklich erstaunlich. Er musste nichts weiter machen, als mich anzusehen und mir seine Hand auf die Schulter zu legen. Der kurze Moment, in dem ich mich vor Finn gefürchtet hatte, war verschwunden. Erneut griff ich nach der Jacke, reichte sie zu Daiki hinab. Dann holte ich tief Luft, so wie es mein Bruder gesagt hatte. Ich zählte bis sieben. Irgendetwas bewegte sich in mir. Alle Anstrengung war wie weggeblasen. Ich zog an der Jacke. Mit aller Kraft. Tatsächlich gelang es mir. Ich zog Daiki aus der Schlammgrube. Mit einem großen Schrecken, aber auch einer spannenden Geschichte gingen wir zurück zu Elmars Hof.

      Es war bereits Abend, als wir dort ankamen. Daikis Eltern hatten eine halbe Stunde bei uns zu Hause gewartet. Zudem waren unsere Jacken und Hosen voller Schlamm. Es gab richtigen Ärger. Elmar hielt mir eine Predigt darüber, dass ich nicht so unverantwortlich mit Finn umgehen könne. In jenen Tagen verstand ich das noch nicht. Wenn ich jedoch zurückdenke, dann war es damals wie heute mein Bruder, der genug Kraft besaß, Verantwortung zu übernehmen.

      Das Weihnachtsfest, das einige Tage nach dem Vorfall im Wald folgte, war eines der schönsten, an das ich mich erinnern kann. Wir machten es uns mit Onkel Elmar gemütlich. Wenn man aus dem Fenster schaute, sah man eine Schneepracht, wie sie angemessener nicht hätte sein können. Bereits am frühen Morgen standen wir alle gemeinsam in der Küche. Zahlreiche leckere Weihnachtsplätzchen sollten aus unseren Mühen hervorgehen. Wir waren glücklich. Ich denke, ich war sogar so glücklich, wie ich es seit dem Tod unserer Eltern nicht mehr gewesen war. Das, was Onkel Elmar für Heiligabend vorbereitet hatte, war kaum in Worte zu fassen. Die Ungeduld von Finn und mir stieg ins Unermessliche. Irgendwie ahnten wir bereits, dass Elmar sich viel Mühe gegeben hatte. Wie Kinder nun mal so sind, begannen wir bereits am Nachmittag damit, unaufhörlich nachzufragen. Wir wollten endlich unsere Geschenke haben.

      „Nein, ein bisschen müsst ihr euch noch gedulden“, sagte Onkel darauf. Wir quengelten stundenlang herum, doch er ließ sich nicht überzeugen. „Ich mache euch auch einen schönen, heißen Kakao. Ist das nicht ein Angebot?“

      Eine Sekunde später fing er an, uns durchzukitzeln. Zuerst befreite sich Finn aus seinen großen, starken Händen und sprang vergnügt auf seinen breiten Rücken.

      Onkel Elmar geriet ins Taumeln. „Ach, Kinder, was macht ihr nur mit mir?“

      Mit einem Kampfschrei umklammerte ich sein Bein. Das brachte Elmar endgültig zu Fall. Kichernd landeten wir allesamt auf der Couch.

      Nachdem wir unsere Bäuche mit Plätzchen und Kakao gefüllt hatten, ging Elmar vor die Tür. „Ich muss noch schnell etwas erledigen. Ihr wartet hier. Ich bin bald zurück, dann gehen wir an die Geschenke.“

      Es gefiel uns überhaupt nicht, dass Onkel Elmar die Bescherung noch weiter hinauszögerte. Im Nachhinein hätte er uns aber keine größere Überraschung machen können. Als er zurückkam, bat er uns darum, unsere Schuhe anzuziehen. Nörgelnd, wann wir denn endlich unsere Geschenke erhalten würden, kamen wir seiner Bitte nach. Er führte uns zur kleinsten Scheune seines Hofes. Als er das Tor öffnete, waren Finn und ich überwältigt. Es war beinahe so, als wäre Onkel mit uns durch die Zeit gereist – bis zur Geburt Jesu Christi.

      Im Inneren der Scheune waren überall Kerzen aufgebaut. Hinter einigen gemütlichen Sitzgelegenheiten aus Stroh standen ein Ochse und ein Esel. Es waren die zahmsten Tiere, die Elmar besaß. Niemals hätte er uns Kinder einer Situation ausgesetzt, die hätte gefährlich werden können. Die Tiere fraßen genüsslich aus einer Futterkrippe und ließen sich ohne Probleme streicheln. Einige Geschenke lagen verstreut auf dem Boden. Sie waren aber nebensächlich. Das größte Geschenk, das Onkel uns machte, war der schöne Abend mit ihm in diesem Stall. In der Mitte stand ein großer Schokoladenbrunnen. Elmar hatte Früchte vorbereitet, die wir dort hinein tunken konnten. Zuvor gab es zum Hauptgang Kartoffelsalat und Würstchen. Der ganze Raum war mit Lametta und Glitzerkugeln ausgeschmückt. Es roch nach Weihrauch.

      Nach der Bescherung setzten wir uns gemütlich ins Stroh, während Onkel Elmar uns Weihnachtsgeschichten vorlas. Es war angenehm warm. Erst als die beiden Stalltiere ihr Geschäft verrichteten, gingen wir wieder ins Haus, denn der Geruch wurde unerträglich. Den Rest des Abends verbrachten wir am Kaminfeuer. Es dürfte gegen 21 Uhr gewesen sein, als es plötzlich an der Haustür klingelte.

      „Wer mag das denn um diese Uhrzeit noch sein?“, fragte Onkel Elmar und wollte sich gerade aus seinem Sessel erheben.

      Doch Finn kam ihm zuvor. „Ich gehe schon!“

      Onkel und ich blieben sitzen. Wir hörten, wie sich die Tür öffnete. Kalter Wind strömte herein. Dann nahmen wir Finns Stimme wahr. „Alles klar! Ich werde es ihnen ausrichten! Wir wünschen Ihnen auch ein schönes Weihnachtsfest!“ Die Haustür schloss sich wieder. Mein Bruder kam zurückgerannt und sprang auf das Sofa.

      „Wer war das?“, fragte Onkel.

      „Ach, das war nur Raphael. Er wollte uns ein frohes Fest wünschen.“

      „Du musst endlich aufhören, dir ständig diese Geschichten auszudenken!“, fuhr ich Finn wütend an.

      Er zuckte zusammen. Er gab jedoch nicht so schnell auf. „Raphael existiert!“, sagte er spitz.

      „Nein, es gibt ihn nicht!“

      „DOCH!“

      „HÖR ENDLICH AUF, DIR SO EINEN SCHWACHSINN EINFALLEN ZU LASSEN!“, schrie ich ihn an.

      Der kleine Junge war den Tränen nahe.

      Onkel Elmar reagierte behutsamer. „Moment mal, wer ist denn dieser Raphael, Finnchen?“ Mein kleiner Bruder fing an zu weinen. Onkel Elmar wischte ihm zärtlich die Tränen aus dem Gesicht. „Ach, Finn, du brauchst doch nicht zu weinen! Wenn du sagst, dass Raphael existiert, dann glauben wir dir das selbstverständlich.“ Mit den Worten, die dann folgten, sah Elmar mich vorwurfsvoll an. „Auch Elli glaubt dir! Sie hat es nicht so gemeint!“

      Ich schmollte noch ein wenig. Dann kuschelte ich mich an Onkel Elmar und Finn.

      Eine Frage blieb jedoch offen. Niemand wusste, wer wirklich an diesem Abend an der Haustüre geklingelt hatte. Onkel Elmar versuchte zwar, vorsichtig nachzufragen, ob vielleicht neben Raphael noch jemand anderes an der Tür gestanden hatte, doch Finn blieb bei seiner Aussage.

      Mein Bruder erzählte uns an diesem Abend noch mehr über seinen mysteriösen Freund. Er sagte, dass er für alle Menschen da wäre und besonders denen helfe, die in Not geraten. Finn glaubte daran, dass Raphael über uns wachte. Er erschuf sich regelrecht eine eigene Mythologie um ihn herum. So kam er von einer weit entfernten Welt. Er war aber nicht in der Lage, in seine Heimat zurückzukehren. Deshalb lebte er unter den Menschen und beobachtete jeden Einzelnen von ihnen. Wann immer ein Mensch den Mut fasste, etwas Gutes zu tun, war er es, der ihn dazu animierte. Selbst als Finn in die Schule kam, erzählte er noch Geschichten über ihn. Diese Erzählungen waren sein Lebensinhalt. Aber auch die sieben Wächter waren ein Teil seines Kosmos. So fand er in fast jeder Geschichtsstunde einen Grund, die Vergangenheit mit ihnen in Verbindung zu bringen.

      *

      Zuerst einmal möchte ich aber fokussieren, wie sich Finns Besessenheit nach der Zahl Sieben immer weiter zuspitzte. Ungelogen, Finn kam am 07.07.1977 um Punkt sieben Uhr morgens zur Welt. Wahrscheinlich stammte daher sein Wahn. Als der Junge begann, zur Schule zu gehen, mussten in seinem Mäppchen immer exakt sieben Stifte liegen und in seiner Tasche ebenso viele Hefte, nicht mehr und nicht weniger. Gegessen werden durfte nur alle sieben Stunden. Das war dramatischer, als es sich zunächst anhörte. Die Schule begann immer um 07:55 Uhr. Zum Glück war der Schulweg nicht weit. Er ging auf die Dorfschule in Hödingen. Da er allerdings bereits um 07:30 Uhr sein Frühstück zu sich nahm, musste er, seiner Ansicht nach,