Die Tote vom Chiemsee. Gretel Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gretel Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416555
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zu gründen, und als am 30. Januar 1933 Hitler an die Macht kam, marschierte Alfred mit seinem inzwischen schon beträchtlich angewachsenen Tross mit Fahnen und Fackeln durch die Dorfstraße.

      Die meisten Dörfler blieben in ihren Stuben, doch es gab auch einige, die sich ihnen mit der Hoffnung auf nun anbrechende große neue Zeiten anschlossen. Fritz Bergleitner hisste eine kleine rote Fahne an seiner Dachrinne, aber da sein Haus ziemlich außerhalb lag, fiel das niemandem auf.

      Die zweitgeborene Habegger, die Lisi, ähnelte sehr ihrer Mutter und wurde deshalb von den Dorfkindern immer »die dürre Goas« genannt. Seit ihr einmal bei einem Sturz auf dem zugefrorenen See zwischen Dorf und Insel die selige Irmengard mit einer Kerze in der Hand erschienen war und sie gerettet hatte, war sie sonderbar geworden. Alle wussten, dass es sich in Wirklichkeit um die Fischersfrau Gruber mit einer Laterne gehandelt hatte, die ihr aufgeholfen und sie nach Hause gebracht hatte; doch die Lisi war von der Erscheinung fest überzeugt und widmete von da an der Seligen ihr Leben. Mindestens dreimal die Woche und natürlich sonntags ruderte sie hinüber zu ihrer Irmengard, und in der Votivkapelle des Münsters hing gut sichtbar ein Taferl, das die Lisi blutend auf dem Eis zeigte, zusammen mit der seligen Irmengard, die hilfreich über ihr schwebte. Der 16. Juli, der Todestag von Irmengard, der ersten Äbtissin von Frauenchiemsee, die vor nicht allzu langer Zeit vom Papst seliggesprochen worden war, war für viele Gläubige in der Gegend, aber besonders für Lisi Habegger der wichtigste Festtag des Jahres.

      Das jüngste Habegger-Kind, der Sohn Theo, war zwei Jahre nach der Lisi am Fronleichnamstag auf die Welt gekommen. Da der Altar für die Prozession unmittelbar vor dem Seewirt aufgebaut war, hatten sich die Gebete der Prozessionsteilnehmer mit dem Wimmern und Schreien der Gebärenden vermischt.

      Theo hatte weder den typischen Habegger-Kopf noch wie sein Vater eine Neigung zur Korpulenz oder zur Magerkeit wie seine Mutter. Nein, er war ein äußerst ansehnlicher hübscher Kerl, nur seine Lippen waren etwas voll, was ihm aber gut zu Gesichte stand. Er war ein freundlicher, eher zurückhaltender junger Mann und hatte im Gegensatz zu seinem Bruder mit der Partei, ihren Uniformen und Fahnen gar nichts am Hut. Seit er begonnen hatte, politisch zu denken, schwebte ihm eine friedliche, freie Gesellschaft ohne Standesunterschiede und mit gleichen Rechten und Pflichten für alle vor. Natürlich war er wie seine Geschwister sehr in den Betrieb der Gastwirtschaft eingebunden, doch er war der Schöngeist unter ihnen. Er las gerne und spielte schon, seit er fünfzehn war, die Orgel in der Kirche. Gelegentlich sah man ihn bei Anbruch der Dämmerung auch mal im Häusl des roten Bergleitners verschwinden.

      »Mei, die Flora, des arme Madl!«, empfing der Wirt Fanderl und Lindgruber. »Wer macht denn so was? Und Sie sind a wieder mit dabei, Herr von Lindgruber. Des ist ja wunderbar! Was darf ich den Herren anbieten?«

      Benedikt und Gustav bestellten Kaffee und setzten sich an einen Tisch, von dem aus man auf den See blicken konnte. Auch heute schien die Sonne immer wieder durch die grauen Wolken und ließ den aufgewühlten See funkeln. Auf dem Weg zum Dampfersteg blitzten noch die letzten Schneereste.

      »Haben Sie die Flora besser gekannt, Herr Habegger?«, fragte Benedikt.

      »Mei, sie war halt oft herüben zum Einkaufen und hat die Post bracht, immer lustig und freundlich war s’. Mit meinem Jüngsten hat sie sich a bissl angfreundet ghabt. Die haben viel diskutiert, die zwei.«

      »Diskutiert?«, fragte Fanderl ein wenig zweifelnd.

      »Ja, ja, über Politik, übers Theater und über Bücher, die sie glesen haben. Des mit der Politik hab ich nicht so gernghabt. Und vor allem mein ältester Sohn hat sich immer furchtbar aufgregt. Der is nämlich a ganz a Wichtiger in der Partei, müssen S’ wissen.«

      »Und Sie, Herr Habegger?«, unterbrach Benedikt.

      »I?«, meinte der Wirt. »I führ hier mei Geschäft, i komm mit alle gut aus. Mit der Politik hab i nichts am Hut. I les mei Gastwirtszeitung und sonst nix.«

      »Sind denn Ihre Söhne zu sprechen?«, fragte Fanderl.

      »Der Groß ist am Schlachthof, aber der Kloane hilft grad meiner Frau in der Küch. Mir habn heut Abend a Vereinsfeier. Da gibt’s viel vorzubereiten.«

      So machten sich Fanderl und Benedikt auf in die Küche. Am großen Herd stand vor einer Menge von Töpfen die Frau des Hauses.

      Ohne einen Gruß sagte sie mit äußerst unfreundlicher Stimme: »Mir ham vui Arbeit und gar koa Zeit!«

      Neben ihr stand eine jüngere Frau, die genauso dünn war, ebenso mürrisch blickte und ein goldenes Kettchen mit einem Anhänger der seligen Irmengard um den Hals trug. Sie würdigte die beiden Ermittler keines Blickes.

      Aus einem Nebenraum trat ein junger Mann mit einem großen Korb Kartoffeln. Das musste Theo, der Jüngste, sein.

      »Wir müssten uns mal mit dir unterhalten, Theo«, sagte Fanderl.

      »Wegen der Flora?«, erkundigte sich Theo, und Tränen traten ihm in die Augen.

      Unter den missbilligenden Blicken der beiden Frauen folgte er den beiden Polizisten zum Tisch in der Wirtsstube. Da die Gaststätte am frühen Vormittag noch leer war und der alte Wirt im Nebenraum herumräumte, konnten sie sich ungestört unterhalten.

      »Die Flora war die Liebste, Schönste und Gescheiteste, die ich bisher kennengelernt habe«, sagte Theo, und wieder schwammen seine Augen in Tränen. »Mit ihr konnte ich über alles reden.«

      »Hatten Sie denn auch eine Liebesbeziehung?«, erkundigte sich Benedikt.

      Theo zögerte. »Ja, schon so a bisserl.«

      »Also wie jetzt, des musst uns schon genauer erklären«, bohrte Fanderl nach.

      Theo errötete und wand sich ein wenig. »Sie wollte sich niemandem ganz hingeben, sie wollte sie selbst bleiben. Erst wolle sie sich selbst genau kennenlernen, bevor sie sich auf jemanden einlässt, hat sie gemeint. Geküsst haben wir uns schon, und ich hätt schon auch ganz gern mehr wollen, aber da ist sie hart geblieben. Dabei war sie sonst so fortschrittlich, sie war ja schließlich früher beim Theater, und da geht’s bekanntlich locker zu. Aber vielleicht hat sie da auch schlechte Erfahrungen gemacht. Sie is ja auch wegen ihrem Vater weg vom Theater, weil der unbedingt eine große Schauspielerin aus ihr machen wollt.«

      »Wie war sie denn politisch eingestellt, die Flora?«, erkundigte sich Benedikt.

      Theo zögerte abermals.

      »Wenn Sie sich in allem so gut verstanden haben, haben Sie doch bestimmt auch in dieser Hinsicht Ansichten geteilt?«, bohrte Benedikt noch einmal nach.

      Theo straffte sich. »Wenn Sie’s genau wissen wollen, wir haben die Hitlerschen ganz und gar abgelehnt. Ab und zu haben wir uns mitm Bergleitner und mitm Xaver, dem Knecht vom Huberbauern, unterhalten. Das sind ja noch die Einzigen hier im Dorf mit vernünftigen Ansichten.«

      »Und deine Eltern und Geschwister? Was haben die dazu gemeint?«, wollte jetzt der Fanderl wissen.

      »Ach, meinen Eltern war das eigentlich egal. Mein Vater hat manchmal gmeint, so eine aus der Stadt wär nichts für mich. Meine Mutter hat gar nichts gsagt, nur grantig gschaut wie immer, und die Lisi hat zu ihrer Irmengard gebetet. Bloß mein großer Bruder, der Alfred, der hat furchtbar gschimpft. Der ist ja sehr aktiv in der Partei, für den gilt ja nichts anderes mehr. Der will ja schon seit Jahren, dass ich da mitmach, und mit der Erna, der Tochter von der Vorsitzenden der NS-Kreisbäuerinnen, will er mich auch immer verkuppeln. Der war einfach stocksauer auf die Flora, vor allem, weil sie nie mit ihrer Meinung hinterm Berg ghalten hat.«

      Theo schüttelte den Kopf. »Der Alfred hat nur Angst ghabt vor die berühmten Theaterleut in München und vor der Äbtissin, sonst hätt er die Flora womöglich noch anzeigt. Vollkommen ausgerastet ist er, als die Flora dann noch auf die Idee kam, eine Laienschauspieltruppe zu gründen und jeden Monat im Seewirt was aufzuführen. Von wegen ›subversivem Gedankengut‹ hat er rumgeschrien und dass er sie zum Teufel jagen wird!«

      Theo liefen nun die Tränen über die Wangen.

      »Sie war mein Lebensmensch«, stammelte er schluchzend.