Die Tote vom Chiemsee. Gretel Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gretel Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416555
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ja fast obszön hatten die Wellen das dunkle Gewand bis über die Oberschenkel der jungen Frau hochgeschoben, und weiße Flocken fielen auf makellos schlanke schneeweiße Beine. Wirre dunkle, tangverklebte Locken umrahmten ein schmales, fast noch kindliches Gesicht.

      »Bei dem Wetter wirst doch heut nicht nausfahrn?«, fragte die Burgerin ihren Mann, als sich der Fischermeister wie jeden Morgen zur Ausfahrt bereitmachte.

      »Doch, wenigstens nach den Reusen muss ich schauen«, brummelte er unwillig, trank noch einen Schluck von seinem Malzkaffee und steckte sich die Pfeife an. Dann verschwand er, und die Burgerin beschloss, noch einmal für eine halbe Stunde in ihr warmes Bett zurückzukehren. Bei Wetterwechsel taten ihr die Knochen immer besonders weh.

      Sie musste wohl noch einmal für kurze Zeit eingeschlafen sein und schrak deshalb mit klopfendem Herzen hoch, als jemand heftig an ihrer Schulter rüttelte.

      »Da liegt eine draußen im Schilf, da, wo’s zur Bucht einigeht«, vernahm sie die atemlose Stimme ihres Mannes. Schnee lag auf seinen Schultern, Mantel und Stiefel waren tropfnass. »Ich hab sie aufs Ufer zogn. Die is tot.«

      Die Burgerin sprang so rasch aus dem Bett, dass sie sofort wieder jeden einzelnen ihrer alten Knochen spürte. »I lauf glei los und hol den Fanderl!«, rief sie und zog ihren derben Wollmantel direkt über das Nachthemd. »Schenk dir dawei a Zwetschgenwasser ein, des hilft!«

      Nicht einmal eine halbe Stunde später stand der junge Gustav Fanderl frierend und durchnässt vor dem Fund des Fischermeisters Burger. Er war vor Kurzem vom Wachtmeister zur Anstellung zum bestallten Wachtmeister befördert worden und seit einigen Monaten allein für die nahe gelegene kleine Chiemsee-Gemeinde zuständig.

      Der stark fallende Schnee hatte die Gestalt mittlerweile wie mit einem weißen Laken fast vollständig zugedeckt, doch die dunklen, starren Augen des Mädchens blickten noch immer erstaunt in den Himmel.

      Fanderl beugte sich hinab zu der Toten. Am Haaransatz und über dem rechten Ohr war das wirre Haar stark blutverkrustet und der Schädel der Toten heftig eingedrückt. Es war eindeutig, dass diese Verletzungen von einem oder mehreren kräftigen Schlägen herrührten. Das bestätigte auch kurze Zeit später der hinzugekommene Arzt aus Breitbrunn, der, obwohl er stark erkältet war und ständig nieste, seine Arbeit ruhig und sorgfältig verrichtete. Dabei schüttelte er aber immer wieder den Kopf und meinte: »So ein hübsches junges Madl kann man doch nicht einfach so totschlagen!«

      Stichwortartig redete er weiter: »Tod durch Fremdeinwirkung … starke Schläge … vermutlich Stein … nicht ertrunken … kein Wasser in der Lunge … Todeszeitpunkt schwierig zu ermitteln … wahrscheinlich vor sechs bis acht Stunden … Die muss in die Rechtsmedizin Rosenheim, Fanderl!«

      Fanderl kannte im Ort jeden Einwohner, jeden Stein und jeden Dachziegel. Er war hier geboren und aufgewachsen und lebte mit seiner Frau Therese, seinem kleinen Sohn und seiner Mutter etwas außerhalb des Dorfs im alten Forstmeisterhaus. In seiner Kindheit und Jugend hatten ihn die anderen wegen seiner geringen Körpergröße und Magerkeit oft als »Grischperl« gehänselt, doch mit seiner Schlauheit und seinem Charme hatte er immer schon viel ausgleichen können. Mittlerweile war ein »gschtandner«, gut aussehender Mann mit gepflegtem Bart aus ihm geworden, der als Wachtmeister im Ort voll anerkannt war.

      Dass die Tote keine Ortsansässige war, hatte Fanderl sofort gesehen.

      Wär gut, wenn jetzt der Hofer da wär oder besser noch der Benedikt, dachte Fanderl. Doch der Hofer, sein früherer Chef, war seit einem Jahr im Ruhestand, und Benedikt von Lindgruber, der geschätzte Münchner Kollege und Freund, mit dem er vor drei Jahren beim Fall um den Chiemseemaler Sachrang so erfolgreich zusammengearbeitet hatte, befand sich in den Flitterwochen.

      Hier im kalten Schneetreiben, mit durchnässten Schuhen und klammen Fingern, erschien es dem Fanderl wie ein Traum, dass er vor nicht einmal einer Woche mit seiner Frau Therese bei strahlendem Spätsommerwetter jubelnd und Blüten werfend vor der Münchner Theatinerkirche gestanden hatte, wo Benedikt und seine Franzi, eine der bekanntesten Hutmacherinnen Münchens, getraut worden waren.

      »Die kommt von drübn«, meinte der Fischermeister Burger, auf die Tote weisend, und Fanderl konnte ganz deutlich seine Schnapsfahne riechen. »Des is die Junge aus München, die Flora, die war doch immer zum Einkaufen und für d’Post herüben.«

      »Fahr nüber zum Kloster, Burger, und gib Bescheid«, trug ihm der Fanderl auf, und der Burger entfernte sich bereitwillig, sichtlich erleichtert, dass er diesen grausigen Ort endlich hinter sich lassen konnte.

      Zwei Stunden später, es schneite und stürmte weiterhin heftig und die Tote war mittlerweile schon unterwegs nach Rosenheim zur Gerichtlichen Medizin, fand der Fanderl kurz Zeit, zum Frühstück nach Hause zu gehen. Therese empfing ihn noch schlafwarm im Morgenmantel, schlang die vollen weißen Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund.

      »Ich hab uns an echten Kaffee gemacht, an starken«, sagte sie. »Ich kann auch einen brauchen, der Korbinian war so unruhig heut Nacht. Der kriegt sicher seinen nächsten Zahn.«

      »Danke, meine liebe Polizistenfrau«, erwiderte Fanderl, küsste sie auf den Haaransatz und warf, bevor er sich dem Kaffee zuwandte, einen liebevollen Blick in das Bettchen seines nun fest schlafenden Sohnes.

      Dann rief er Oberamtsrat Dreissiger, seinen Chef in Rosenheim, an, um Bericht zu erstatten und um Unterstützung durch die Rosenheimer Kollegen vom »Mord« zu bitten. Doch der Dreissiger seufzte schwer und teilte ihm mit, dass zwei Drittel der Rosenheimer Kollegen an einer hartnäckigen Darmgrippe litten.

      Fanderl konnte es nicht fassen, schon beim letzten Fall hatten ihn die Rosenheimer im Stich gelassen. Wenn damals nicht der Benedikt aus München gekommen wäre, er wäre hoffnungslos verloren gewesen!

      »Ich werd sehen, was ich machen kann«, versprach der Dreissiger. »Vielleicht kann der Huber aus Landshut kommen … oder wie wär’s denn wieder mit dem von Lindgruber aus München? Mit dem haben S’ doch beim letzten Fall so gut zusammengearbeitet!«

      »Der ist in den Flitterwochen, den können wir vergessen«, antwortete Fanderl.

      Der Dreissiger versprach, sich umgehend zu melden, machte aber einen etwas ratlosen Eindruck.

      »Jetzt komm ich um die Gerichtliche Medizin in Rosenheim wohl nicht mehr herum«, meinte Fanderl schaudernd zu Therese und dachte an den Fall vor drei Jahren. Damals hatte er sich gerade noch vor der Leichenschau drücken können.

      »Schenk dir vorher a Zwetschgenwasser ein, das hilft!«, empfahl ihm die Therese besorgt.

      Unterdessen telefonierte der Dreissiger hektisch durch die Gegend. Da der Huber aus Landshut unabkömmlich war, rief er in München an und gelangte prompt zum neuen Chef des »Mord«, einem gewissen Paschke aus Berlin. Er hatte schon gehört, dass das ein Hundertprozentiger war, der in München ein strenges Regiment eingeführt hatte.

      »Heil Hitler, werter Herr Kollege«, dröhnte Paschke aus dem Apparat. »Eine Mordermittlung am Chiemsee? Aber das ist doch klar, wen wir da schicken. Den von Lindgruber. Der kommt schließlich von da. Flitterwochen? Na ja, ist schon bitter, aber der Dienst geht doch selbstverständlich vor! Wissen Sie, ich überlege gerade, ob ich Ihnen den von Lindgruber nicht für unbestimmte Zeit ausleihe. Sie haben ja ständig Personalengpass, nicht wahr! Ein fähiger Kollege, etwas eigenwillig, politisch noch nicht ganz auf der Linie. Aber das kriegen Sie mit Ihrer großen Erfahrung schon noch hin. Ja, gut, das muss natürlich erst den amtlichen Weg gehen, aber da sehe ich keine Schwierigkeiten. Ich habe da ein paar sehr gute Verbindungen. Jedenfalls gebe ich dem von Lindgruber Anweisung, sich sofort in diesem Dörfchen bei dem jungen Kollegen einzufinden. Heil Hitler, schönen Tag noch, Herr Kollege.«

      Der Dreissiger in Rosenheim war äußerst zufrieden, und der Paschke in München rieb sich die Hände. Jetzt hatte er ihn vorerst mal los, diesen von Lindgruber. Er wäre ihm ja in der Vergangenheit gern schon viel mehr auf die Füße getreten, diesem eigensinnigen Menschen, der immer eigene Wege ging, sich um die Anweisungen seines Vorgesetzten in keinster Weise scherte und immer noch kein Parteimitglied war. Doch der Polizeipräsident höchstpersönlich hatte ihn gebeten,