Die Tote vom Chiemsee. Gretel Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gretel Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416555
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      Hilda Rossgoderer, wie sich die kräftigere und größere der beiden vorstellte, wischte sich noch einmal über das rotwangige, runde Bauerngesicht und erzählte, dass sie seit fast zwei Jahren im Kloster sei, dass sie von einem Bauernhof in Brannenburg stamme und sehr gerne draußen arbeite. Auch die Flora, so berichtete sie mit wieder zitternder Stimme, habe, obwohl sie ja ein Stadtmensch war, gerne im Klostergarten gearbeitet. Sie selbst habe ihr alles gezeigt.

      »Sie war immer so fröhlich und guter Dinge«, sagte Hilda, und schon wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Ich kann’s einfach nicht glauben, dass sie nimmer da is!«

      Sophie von Arnstetten, die zweite Novizin, war das gerade Gegenteil der bäuerlichen Hilda. Sie war dünn und blass, ihre dunklen, ein wenig stechenden Augen schienen zu groß für ihr schmales Gesicht.

      »Der Herr hat sie von uns genommen. Auch wenn es uns schmerzt und wir es nicht verstehen, es war Sein Wille, und diesen müssen wir annehmen. Sie ist nun beim Herrn«, erklärte sie, und Fanderl, entsetzt über diese ihm auf heuchlerische Weise fromm erscheinenden Worte, musste an den Weihbischof Müller denken, der ihn gefirmt hatte und der immer in solch einem salbungsvollen Tonfall dahergeredet hatte. Dieser Weihbischof hatte sein Gutteil dazu beigetragen, dass Fanderl nur an Ostern und Weihnachten und zu ganz besonderen Anlässen in die Kirche ging. Ansonsten hielt er nicht viel von ihr.

      »Ich habe schon meinen lieben Gott, doch der wohnt nicht unbedingt in einer Kirch und braucht auch keinen Pfarrer«, sagte er immer zur Therese, wenn diese sich um sein Seelenheil sorgte.

      Wie sich herausstellte, hielt Sophie von Arnstetten, die aus Coburg stammte, nicht viel von der Arbeit in der freien Natur. Sie beschäftigte sich lieber mit dem Leben der Heiligen, über das sie schon viele Bücher gelesen hatte, sie handarbeitete gerne und hatte eine sehr schöne Singstimme. Schon mehrfach hatte sie bei der Morgenandacht eine Kostprobe davon geben dürfen. Mit Flora habe sie sich gut verstanden, sie habe sich auch gerne mit ihr über das Theater und über München unterhalten.

      Beide Novizinnen bestätigten, dass sie Flora zum letzten Mal bei der Abendmahlzeit gesehen hätten. Sie habe gewirkt wie immer. Von einer Freundschaft drüben im Dorf wüssten sie beide nichts, versicherten sie sehr rasch, doch gerade dieser Eifer ließ bei Fanderl leise Zweifel aufkommen.

      Nach dem Verlassen des Klosters gab Fanderl sich einen Ruck.

      »Du kommst eh nicht rum um die Leichenschau, Gustav«, sagte er zu sich. »Fahr lieber gleich hin, dann hast es hinter dir!«

      3

      »Das glaubst du nicht, Benni, es schneit, und das im September!«, rief Franzi erstaunt, nachdem sie die Vorhänge aufgezogen hatte.

      »Die Bäum, die Bänk, der ganze Park, alles weiß!«

      Benedikt trat hinter sie, legte die Arme zärtlich um ihren Leib und meinte, schon eine kleine Wölbung ihres Bauches wahrnehmen zu können. »Dann ist es doch das Beste, wenn wir im Bett bleiben und da frühstücken«, schlug er vor.

      Seit fünf Tagen wohnten sie nun im Anwesen der von Lindgrubers, nicht weit vom Chiemsee entfernt. Benedikts Vater, damals noch einer der wohlhabendsten Männer Bayerns, hatte das Haus Ende des letzten Jahrhunderts als Sommersitz für die Familie erbauen lassen. Äußerst repräsentativ und großzügig, mit einer Vielzahl von Räumen, Stallungen für die geliebten Pferde und einem gesonderten kleinen Haus für Stallmeister, Gärtner und sonstige Bedienstete, lag es inmitten eines weitläufigen Parks, der dem Englischen Garten in München nachempfunden war.

      Als Kind und Jugendlicher hatte Benedikt nahezu jeden Sommer und zuweilen auch die Weihnachtstage hier verbracht. Er hatte ausschließlich schöne Erinnerungen an diese Zeiten. Die zu Gemütsleiden neigende Mutter war auf dem Lande immer aufgelebt, er hatte noch immer ihr unbeschwertes Lachen im Ohr. Auch der Vater hatte sich Zeit für die Kinder genommen, mit ihnen im Park gespielt oder sie auf seine Ausritte mitgenommen.

      Natürlich hätten Franzi und Benedikt wie andere Flitterpaare auch nach Venedig oder Paris fahren können, doch nach den anstrengenden Hochzeitsvorbereitungen, der großen Feier und vor allem in Anbetracht von Franzis noch früher Schwangerschaft hatten sie sich für die Stille und den Rückzug entschieden. Die alte Berta, die seit Jahrzehnten im Dienst der von Lindgrubers stand, war darüber hocherfreut gewesen.

      »Der Herr Benedikt als Flitterwöchner! Dass ich das noch erleben darf«, hatte sie gejubelt und sofort alle notwendigen Vorbereitungen getroffen. Der Salon, die Bibliothek und natürlich das große Schlafzimmer wurden hergerichtet, und zur Begrüßung hatte sie das Geländer der großen Freitreppe mit einer Girlande aus Efeu und den letzten Sommerrosen geschmückt. Sie hatte eine lange Liste der Lieblingsspeisen des Herrn Benedikt zusammengestellt und ihre Vorräte so ergänzt, dass sie jederzeit auf Wunsch eine davon zaubern konnte.

      »Kaiserschmarrn hat er immer so gern gegessen, aber auch Semmelknödel mit Schwammerl und a Suppenfleisch mit Gemüs und Salzkartoffeln!«

      So kam es, dass der junge Herr Benedikt all den Speisen, die ihm die gute Berta zubereitete, mit großem Genuss zusprach, doch die junge Frau Franziska – sie war ja schon eine ganz Liebe – aß so gut wie gar nichts! Blass saß sie immer beim Frühstück und ließ die frischen Kaisersemmerl und Hörndl liegen.

      »Da is was Kloans unterwegs, wenn ma die Esserei von der jungen Frau anschaut. A bisserl rund um d’Hüftn is a scho«, spekulierte die alte Berta.

      Benedikt schlüpfte wieder unter seine Bettdecke und zog Franzi liebevoll an sich. Freilich war so ein extremer Wettereinbruch zu dieser Jahreszeit unangenehm, und ihr geplanter Ausflug nach Prien konnte nun nicht stattfinden, doch eigentlich war er nicht unglücklich darüber. Er fand es schön, einfach faul im Bett zu liegen und die Gedanken schweifen zu lassen. Noch einmal stand er mit Franzi vor dem Altar der Theatinerkirche und sagte aus vollem Herzen Ja zu dieser strahlenden Braut, die zu dem äußerst schlichten Brautkleid statt eines Schleiers eine extravagante Seidenkappe mit Federbesatz trug. Noch einmal trat er mit ihr hinaus auf den Odeonsplatz, wo Familie, Freunde, Bekannte und Kollegen lärmend bunte Blüten warfen.

      Schade, dass sein Vater, dem er in den letzten Jahren wieder nähergekommen war, das nicht mehr erleben durfte; er war vor einem guten Jahr verstorben. Jahrelang hatte er keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt, da der alte Herr es nicht hatte verstehen wollen, dass Benedikt sein Jurastudium, das ihm so viele Türen geöffnet hätte, abgebrochen hatte und zur Polizei gegangen war. Auch die Heiratspläne, die sein Vater für ihn geschmiedet hatte, hatte Benedikt verworfen, und so war es zum endgültigen Bruch gekommen.

      Noch einmal dachte Benedikt an den Faschingsball, auf dem er seine Franzi kennengelernt hatte, und an die erste Liebesnacht in ihrem Hutatelier, das mittlerweile zu einem der führenden Münchens gehörte. Er war stolz auf seine Frau, obwohl es ihm manchmal schwergefallen war, die Heirat und den Kinderwunsch wegen ihrer geliebten Hutmacherei immer wieder aufzuschieben. Nun aber waren sie an ihrem Ziel angekommen, doch ob er nun wollte oder nicht, mischten sich sofort sorgenvolle Gedanken in die freudigen. Dringend benötigten sie eine größere Wohnung, die vielleicht gleichzeitig Wohnraum und Hutatelier unter einem Dach sein konnte. Würde es Franzi gelingen, Kind und Hüte »unter einen Hut« zu bringen? Sollten sie eine Haushaltshilfe einstellen? Was würde das alles kosten?

      Zu diesen schon nicht sehr ersprießlichen Gedanken gesellten sich noch weit sorgenvollere. Seine berufliche Zukunft stand nämlich auf wackligen Füßen. Vor einem Jahr war sein Chef Schulze-Kaiser ganz plötzlich verstorben, und alle im Amt hatten erwartet, dass der altgediente, erfahrene Kollege Sieberer auf den Chefsessel nachrücken würde. Doch es kam anders.

      An einem grauen Montagmorgen bat der Polizeipräsident die gesamte Abteilung zu sich und stellte ihnen den neuen Vorgesetzten vor, Herbert Paschke aus Berlin. Akkurat gescheiteltes Haar, tief liegende stechende Augen, Schmiss auf der Wange und glänzendes Parteiabzeichen am Revers. In kürzester Zeit wurde allen klar, dass für Paschke nur eines zählte: unbedingter Gehorsam, keinerlei Eigeninitiative und Hitlergruß zu jeder Gelegenheit. Die strammen Parteimitglieder unter den Kollegen, und das waren inzwischen nicht wenige, waren sehr angetan von diesem neuen Vorgesetzten; die übrigen,