»Ich könnt jetzt gut ein Kaisersemmerl mit Marmelade und einen Kaffee vertragen. Ich glaub, die schlimmste Übelkeit hab ich überwunden«, murmelte Franzi schlaftrunken an seiner Schulter und riss Benedikt aus seinen trüben Gedanken. Er küsste ihr zerstrubbeltes Lockenhaar und sprang aus dem Bett.
»Ich sag gleich der Berta Bescheid!«
So verbrachten sie den Tag faulenzend, lesend und vor sich hin dösend; nur die alte Berta rief zwischendurch streng zum Mittagessen und Kaffeetrinken.
Bis zum Nachmittag schneite es weiter, dann wurde es plötzlich heller, die Sonne schien durch die verbliebenen tiefgrauen Wolken, und fast augenblicklich begann es zu tauen, obwohl es schon auf den Abend zuging. Die hohen alten Bäume und der Rasen des Parks glitzerten im Sonnenschein, und klar und überdeutlich konnte man die Berge ausmachen, die noch fast bis in die Täler von Schnee bedeckt waren.
Gerade als sie mit dem Abendessen beginnen wollten, klingelte das Telefon.
»Das Polizeipräsidium aus München. Ein gewisser Herr Paschke!«, rief Berta. Sie bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und flüsterte: »Der hört sich an wie der Führer persönlich.«
Benedikt spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, als er zum Telefon ging, und auch Franzi war blass geworden.
»Lindgruber«, meldete sich Benedikt. »Ja … Wie? … Morgen? … Sie wissen schon, dass … Ja, ich verstehe … Was, nicht nur für diesen Fall? … Überhaupt … Darüber wird noch zu reden sein … so über meinen Kopf hinweg … Guten Abend.«
Kein »Heil Hitler«, wohlgemerkt!
Benedikt setzte sich wieder an den Abendbrottisch und schob seinen Teller mit Wurstsalat von sich.
»Um Gottes willen, Benedikt, red schon!«, rief Franzi.
»Der Fanderl hat einen Mord oder Totschlag, und der Paschke hat mich als Ermittler abgestellt. Das allein ist ja schon eine Unverschämtheit, der weiß genau, dass wir in Flitterwochen sind. Aber die Höhe ist, dass er mich für unbestimmte Zeit nach Rosenheim ausleihen will, Personalprobleme und so weiter und so fort. Der will mich loshaben, dieses Arschloch!«
Benedikt fluchte selten, aber nun musste es sein, und er belegte den Paschke mit noch so einigen nicht stubenreinen Schimpfnamen.
Mit zornrotem Kopf schob Franzi ihren Teller scheppernd beiseite.
»Das ist das Allerletzte!«, rief sie wutentbrannt. »Und das lässt du mit dir machen? Aber ich hätt’s ja wissen müssen. Als Polizistenfrau is man immer die Ausgschmierte. Aber dass es jetzt schon in die Flitterwochen damit losgeht!«
Und sie sprang auf und verließ wutentbrannt und türknallend die Küche.
Benedikt stützte den Kopf in die Hände und versuchte, ein paar klare Gedanken zu fassen. Da wurde draußen der Türklopfer betätigt.
Benedikt öffnete, und draußen stand verlegen und zerknirscht der Fanderl.
»Mei, Benni, hast es schon erfahren? Des tut mir so leid«, stammelte er. »Des wollt ich fei ned!«
»Das ist mir schon klar, dass du da nichts dafür kannst«, erwiderte Benedikt. »Das haben die Herren Dreissiger und Paschke miteinander ausgeheckt.«
Fanderl ließ sich auf einen Stuhl fallen und berichtete: »Ich komm grad aus der Gerichtlichen Medizin. Wären da nicht die Verletzungen, die ganzen Sezierschnitte und der Geruch … Sie lag da wie eine perfekte Marmorstatue, ein wunderschönes junges Mädchen. Totschlag durch Gewalteinwirkung, vermutlich ein Stein. Kopf und Gehirn rechts deutlich eingedrückt, kein Wasser in der Lunge, also nicht ertrunken … Und sie war noch Jungfrau!«
Er sackte ein wenig auf seinem Stuhl zusammen und stützte den Kopf in die Hände.
Benedikt ging zur Anrichte und schenkte zwei volle Stamperl Enzian ein. Fanderl, der sonst eigentlich dem Alkohol nur sehr bescheiden zusprach, kippte sein Glas auf einen Zug. Benedikt tat es ihm nach, und Fanderl berichtete ihm von Flora, vom Kloster, der Äbtissin und den Novizinnen und natürlich auch, warum sich Flora von Prielmayer im Kloster aufgehalten hatte.
»Die von Prielmayers, das Schauspielerehepaar Münchens. Weit über die Stadt hinaus bekannt, skandalumwittert … hast du von denen noch nie gehört?«, fragte Benedikt erstaunt.
Fanderl schüttelte den Kopf. »Du woast as doch, i bin a Landei!«
4
Fanderl und Benedikt hatten sich für den nächsten Morgen beim »Seewirt« verabredet. Dem Hinweis der alten Schwester Kreszentia, dass sich dort eventuell eine kleine Liebschaft Floras angebahnt habe, wollten sie unbedingt nachgehen.
Beide wirkten etwas übermüdet und angeschlagen. Fanderl war immer wieder durch das herzzerreißende Weinen seines Sohnes, der offensichtlich einen großen Backenzahn bekam, geweckt worden, und Benedikt hatte die halbe Nacht versucht, seine Franzi zu beruhigen, was ihm jedoch kaum gelungen war.
Seit fast dreihundert Jahren befand sich der Seewirt nahe der kleinen Dampferanlegestelle, von der aus das Boot hinüber zur Fraueninsel verkehrte. Genauso lang war das Wirtshaus auch im Besitz der Familie Habegger, inzwischen allerdings ausgebaut und erweitert sowie von einem schattigen Biergarten umgeben.
Während die ersten Habeggers nur einen kleinen Ausschank geführt und an vorbeikommende Fuhrleute und die wenigen Leute, die zur Insel hinüberwollten, etwas Proviant und Getränke verkauft hatten, erlebte der Seewirt Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts durch die stark anwachsende Zahl von Ausflüglern und Sommerfrischlern einen enormen Auftrieb. Man erzählte sich, dass Hieronymus Habegger, der Vater des jetzigen Wirts Josef, sogar die königliche Familie bewirtet habe. Hieronymus Habegger war sehr geschäftstüchtig gewesen und seine Frau eine begnadete Köchin, sodass aus dem Seewirt wohl eine Goldgrube hätte werden können, wäre da nicht der verhängnisvolle Hang des Hieronymus zum Glücksspiel gewesen. Aber so stand nach dem Tod des alten Seewirts sein Sohn Josef mit einer nicht unbeträchtlichen Menge Schulden da. Obwohl er schon seit Jahren mit der hübschen Maria aus Stephanskirchen verbandelt war, blieb ihm nichts anderes übrig, als die schwerreiche Bauerntochter Veronika Stammler zu ehelichen. Deren Eltern waren froh, die schmallippige, immer etwas griesgrämige und nicht mehr ganz junge Veronika loszuwerden. Sie kochte nicht schlecht, hielt eisern das Geld beisammen, und sie und der Josef schafften es, trotz der wahrlich nicht häufig stattfindenden Beischlafbesuche drei Kinder zu zeugen.
Allerdings gab der Josef seine Besuche in Stephanskirchen nie ganz auf, und so liefen auch dort zwei Buben mit der typischen Habegger-Visage – etwas feistschädelig und mit wulstigen vollen, fast weibischen Lippen – umher.
Der Älteste aus Josefs Verbindung mit Veronika war Alfred, der vom Aussehen her seinem Vater sehr ähnelte. Äußerst kräftig, schon jung zur Korpulenz neigend, hatte Alfred die dicken Habegger-Lippen und einen breiten roten Schädel, der auf einem viel zu kurz geratenen Hals saß.
Doch vom Wesen her glich Alfred seinem Vater keineswegs. Während dieser von beschaulich behäbiger Gemütlichkeit war und freundlich im Umgang mit den Gästen, wenn auch ein wenig umständlich und schwerfällig, besaß Alfred von klein auf ein stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Schon in der Schule war er von Anfang an der Anführer, und es gab nicht viele, die es wagten, ihm zu widersprechen. Wie kein anderer verstand er es, mit sprachlicher Gewandtheit und seinem gebieterischen Auftreten seine Geschwister und seine Altersgenossen in eisernem Griff zu halten. Als einer der Ersten trat er der Rosenheimer Hitlerjugend