»Hilda, auf zum Küchendienst«, rief Schwester Kreszentia aus einem Fenster des Küchentraktes.
Wie lange würde wohl die alte Schwester noch da sein, die ihr so herzlich zugetan war, die sie manchmal drückte und »mei liabs Madl« zu ihr sagte?
»Waren denn nicht gestern schon Floras Eltern da?«, fragte Hilda, als sie in der Küche vor einem Berg zu schälender Kartoffeln saß.
Kreszentia nickte und antwortete nur mit einem kurz angebundenen »Ja«. Sie wollte nicht weiter darüber reden, und Hilda bemerkte das sofort.
Es war eine schreckliche Zusammenkunft zwischen der Äbtissin und Floras Eltern gewesen. Kreszentia hatte Tee serviert und sich dann sofort zurückgezogen. Doch schon in der kurzen Zeit, als sie den Tee in die Tassen goss und die Zuckerdose zurechtrückte, hatte sie eine ungeheure Spannung im Raum gefühlt. Die Äbtissin hatte die Hände ineinander verkrampft, dass die Knöchel weiß hervortraten, kreisrunde rote Flecken brannten auf ihren Wangen in dem ansonsten leichenblassen Gesicht. Vom Gesicht ihrer Schwester sah man nichts, da es vom Schleier verhüllt war, nur hie und da schluchzte sie auf, und Schwester Kreszentia empfand bei diesem Schluchzen das Gleiche wie Fanderl und Benedikt. Es waren Bühnenschluchzer, es fehlte ihnen an Ehrlichkeit. Siegfried von Prielmayer saß leicht gekrümmt auf der Kante seines Stuhles, ein wenig sah er aus wie eine schwarze Krähe, die gleich aufflattern und der Äbtissin die Augen aushacken würde. Als Schwester Kreszentia gerade dabei war, die Türe hinter sich zu schließen, ertönte seine Stimme, und es war deutlich seine Bühnenstimme, die in das eiskalte Schweigen hinein ertönte.
»Du hast uns das Liebste genommen, das wir hatten, Elisabeth.«
Schwester Kreszentia kannte die Geschichte der Äbtissin und ihrer Schwester sehr gut. Als Elisabeth Rottmann, die kurz darauf Schwester Klara wurde, ins Kloster gekommen war, hatte sie zu der mütterlichen Schwester Kreszentia, die damals in ihren mittleren Jahren war, bald Vertrauen gefasst und ihr ihre Geschichte erzählt.
Elisabeth und Henriette Rottmann waren die Töchter des Hofapothekers Rottmann und wuchsen sorglos in gediegener, wohlhabender Umgebung auf. Allerdings waren die Schwestern von klein auf sehr verschieden. Elisabeth, die Ältere, war schon immer die Ernsthaftere, Besonnenere der beiden und eher zurückhaltend im Umgang mit anderen Menschen. Sie blieb gerne für sich, las jedes Buch, das ihr in die Hände fiel, und gab, eher knochig, mit schmalem Gesicht und glattem brünetten Haar, nicht allzu viel auf ihr Aussehen.
Henriette, drei Jahre jünger, war die Extrovertierte, Lustige, die immer eine Schar von Freundinnen um sich hatte, ihr lockiges blondes Haar jeden Tag in einer anderen Frisur präsentierte und schon mit vierzehn verführerische weibliche Kurven entwickelte, was die Blicke der Männer auf sie zog. Den zahllosen Bällen, an denen Henriette ab ihrem sechzehnten Lebensjahr teilnahm, immer mit voller Tanzkarte, blieb Elisabeth lieber fern. Gelegentlich allerdings legte die Mutter Wert auf ihr Erscheinen, kam sie doch langsam ins heiratsfähige Alter.
Auf einem dieser Bälle lernte Elisabeth Erhard Strassner kennen, einen Studienassessor aus gutem Hause. Er hatte beste Manieren, trug eine Nickelbrille und machte Elisabeth unaufdringlich formvollendet den Hof. Seine ruhige, etwas altmodisch seriöse Art gefiel ihr.
So unternahm man einiges zusammen, machte Spaziergänge im Englischen Garten, ging in Museen und las sich gegenseitig Gedichte vor. Zwischendurch griff Erhard nach Elisabeths Hand, und einmal küsste er sie zum Abschied sanft auf die Lippen. Die ganze Familie und auch Elisabeth erwarteten in Bälde seinen Antrag; Elisabeth konnte sich ein ruhiges Leben an Erhards Seite ganz gut vorstellen. Dass natürlich auch geschlechtliche Vereinigung und möglicherweise schmerzhafte Geburten zu einer Ehe gehörten, war ihr klar, doch sie stellte sich diese als kurze Episoden vor, die man eben hinnehmen musste, ehe man wieder am Kamin saß und in Ruhe ein Buch las.
Eines Sommerabends, als es schon dämmerte, kam Elisabeth von einem Besuch bei Ilse, einer ihrer wenigen Freundinnen, nach Hause zurück und hörte im Durchgang zum Dienstboteneingang seltsam seufzende, keuchende Geräusche. Warum sie nachforschte und nicht einfach weiter durch den Garten zur Haustür ging, konnte sie später nie sagen. Es waren Erhard und Henriette, die diese Laute ausstießen, an die Wand gelehnt küssten sie sich mit weit geöffneten Lippen. Erhards Hand bewegte sich unter Henriettes hochgeschobenen Röcken, während diese mit einer heiseren, dunklen Stimme, die Elisabeth nicht an ihr kannte, »Ja, ja, ja« keuchte.
Einige Tage später reiste Elisabeth zu Verwandten der Mutter nach Freising, bevor sie dann nach Frauenchiemsee ging und dort Schwester Klara wurde.
Während des Besuchs der von Prielmayers wirtschaftete Schwester Kreszentia in der Klosterküche, die einige Räume weit von denen der Äbtissin entfernt lag, und obwohl sie sich bemühte, nicht zu lauschen, drangen Fetzen der lautstarken Auseinandersetzung bis zu ihr herüber.
»Du hast nicht auf sie geachtet!« – »Mit diesem Gastwirtssohn … du hättest dem sofort Einhalt gebieten sollen … Wer weiß, ob nicht er dahintersteckt.« – »Sie hätte eine glänzende Karriere vor sich gehabt … das wolltest du unterbinden, weil du das Theater hasst, immer schon gehasst hast … von deinem lächerlichen Äbtissinnenthron hast du auf uns herabgeblickt, als wären wir dreckige Zigeuner!«
»Ja, du hast sie mir genommen … aus Rache für damals, für diese Lächerlichkeit«, schrie Henriette von Prielmayer abschließend mit gellender Stimme.
Als die von Prielmayers gegangen waren und Schwester Kreszentia das Geschirr abräumte, sah sie die Äbtissin in ihrem Schlafzimmer über den Betschemel gebeugt, ihre Schultern zuckten, und ihr Schluchzen ähnelte dem Gewimmer eines verwundeten Tieres. Kreszentia konnte nicht anders, als zu ihr zu treten und ihr tröstend die Hand auf die Schulter zu legen.
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