Bei seinem Eintreten stand Dr. Parker auf und zeigte ein etwas schiefes Grinsen.
»Nun hatte ich schon fast gehofft, du hättest mich vergessen«, meinte er.
»Hätte ich auch beinahe«, gab Dr. Daniel zu. »Hoffen mußt du das allerdings nicht.«
Dr. Parker zog die Augenbrauen hoch. »Heißt das, du brummst mir keine Strafschicht auf?«
Dr. Daniel antwortete mit einer Gegenfrage: »Hattest du das denn erwartet?«
»Natürlich«, bekräftigte Dr. Parker sofort. »Immerhin habe ich es gewagt, dich zu kritisieren, und da kann ich mir an fünf Fingern ausrechnen, daß du mir das nicht ungestraft durchgehen läßt.«
Unwillig runzelte Dr. Daniel die Stirn. »Paß bloß auf, Jeff. Dein Ton fängt langsam an, mir zu mißfallen.«
Die beiden Ärzte maßen sich mit Blicken, dann senkte Dr. Parker den Kopf.
»Ich habe mich geärgert«, gestand er. »Als Oberschwester Lena gesagt hat, es gäbe einen Notfall, habe ich alles stehen und liegen lassen und bin zum Operationssaal gehetzt, dabei war ich mitten in einem Gespräch mit einem äußerst schwierigen Patienten, den ich nur mit viel Geduld dazu gebracht habe, sich mit mir zu unterhalten… seine Ängste vor der Narkose in einem eingehenden Gespräch mit mir abzubauen. Aber gut – ein Notfall ist natürlich wichtiger. Doch wenn ich dann eine halbe Stunde im OP stehe und warte, bis die Patientin, die sich während dieser ganzen Zeit ja schon in der Notaufnahme aufgehalten hat, endlich kommt, und zu guter Letzt auch noch gesagt kriege, ich solle mich mit der Narkose beeilen…«
»Es tut mir leid«, fiel Dr. Daniel ihm ins Wort.
Überrascht sah der junge Anästhesist ihn an. »Wie bitte?«
»Es tut mir leid«, wiederholte Dr. Daniel, dann seufzte er. »Hör mal, Jeff, ich weiß genau, wie dir zumute war, und ich wollte auch gar nicht, daß es zu einer solchen Verzögerung kam. Als Gerrit das OPTeam angefordert hat, mußte er noch davon ausgehen, daß es sich nur um eine akute Blinddarmentzündung handeln würde. Die Missed abortion entdeckte er erst danach, und auch für uns war es ein hartes Stück Arbeit, die Patientin davon zu überzeugen, daß ihr Baby tot ist und schnellstens geholt werden muß. Im übrigen waren meine Worte gar nicht persönlich gemeint. Ich weiß ja, wie schnell du bist.«
»Also ein typischer Fall von Überreaktion – und zwar auf beiden Seiten«, urteilte Dr. Parker, dann streckte er die rechte Hand aus. »Vergessen wir’s, Robert?«
Dr. Daniel schlug ein. »Ja, und zwar so schnell wie möglich.«
Aufmerksam betrachtete Dr. Parker seinen zukünftigen Schwiegervater. »Was bedrückt dich denn jetzt noch?«
»Mein lieber Jeff, du bist ein scharfer Beobachter«, urteilte Dr. Daniel und bemühte sich um ein Lächeln, das aber mißlang. »Was weißt du eigentlich über die Familienverhältnisse von Oberschwester Lena?«
Dr. Parker versuchte nicht einmal, seine Verwunderung zu verbergen. »Das fragst du mich? Mensch, Robert, ich bin doch hier nur Anästhesist.«
»Nur ist gut«, entgegnete Dr. Daniel. »Ohne dich und Erika könnten wir anderen Ärzte doch einpacken.«
»Übertreib mal nicht«, wandte Dr. Parker ein. »Du mußt mir keinen Honig um den Bart schmieren.« Er grinste. »Schließlich werde ich für meine Arbeit hier bezahlt.« Dann wurde er wieder ernst. »Ist etwas mit der Oberschwester?«
Dr. Daniel nickte. »Ich fürchte sogar, daß sie sehr ernsthafte Probleme hat, und dabei habe ich festgestellt, wie wenig ich über sie weiß, obwohl wir über Jahre hinweg eng zusammengearbeitet haben. Als ich mit meiner Frau und unseren beiden Kindern damals nach Steinhausen gekommen bin und die Praxis eröffnet habe, hat Frau Kaufmann bei mir als Sprechstundenhilfe angefangen. Sie hat alles mitbekommen, was mich und meine Familie anging – wie Stefan und Karina groß geworden sind, Christines Tod…« Er schwieg einen Moment mit gesenktem Kopf, weil die Erinnerung an den tragischen Tod seiner Frau sogar jetzt noch schmerzte. »Als ich nach der Beerdigung Steinhausen den Rücken kehrte, hatte Frau Kaufmann dafür vollstes Verständnis und beharrte nicht auf Einhaltung der vertraglich geregelten Kündigungsfrist. Fünf Jahre später kam ich wieder nach Steinhausen und nahm den Praxisbetrieb auf. Frau Kaufmann kehrte als Sprechstundenhilfe zu mir zurück, als hätte es die dazwischenliegenden Jahre nicht gegeben, und als Wolfgang ihr damals die Stelle der Oberschwester in der WaldseeKlinik angeboten hat, hat sie rundheraus abgelehnt, weil sie mich und die Praxis nicht im Stich lassen wollte. Erst als ich in Sarina von Gehrau eine wirklich tüchtige Nachfolgerin für Frau Kaufmann gefunden hatte, nahm sie Wolfgangs Angebot an.«
»Du magst sie sehr«, stellte Dr. Parker fest, der Dr. Daniel zugehört hatte, ohne ihn zu unterbrechen.
»Ja, Jeff, ich mag sie, und ich schätze sie, deshalb war ich auch so betroffen, als ich diese wüsten Anschuldigungen hörte, die…« Er stockte, dann seufzte er. »Darüber muß ich mit ihr selbst sprechen.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Danke, daß du meinem langen Vortrag so geduldig zugehört hast.«
»Schon gut«, meinte Dr. Parker lächelnd und ging zur Tür, doch dort drehte er sich noch einmal um. »Erinnerst du dich noch daran, wie ich nach Steinhausen gekommen bin – unsicher und todunglücklich?«
Dr. Daniel nickte. »Das werde ich nie vergessen, Jeff. Warum fragst du?«
»Karina hatte mir so viel von dir erzählt, und bei dem Gedanken, dich kennenzulernen, hatte ich gleich ein gutes Gefühl, aber dann… im Gespräch mit dir… mir war auf einmal, als hätte ich wieder einen Vater bekommen und daran hat sich nichts geändert.« Er schwieg kurz. »Ich bin froh, daß du mein Schwiegervater wirst.«
Dr. Daniel war über diese Worte sehr gerührt, verstand aber dennoch nicht ganz den Zusammenhang.
»Du bist mir auch auf Anhieb ans Herz gewachsen, Jeff, und ich freue mich, wenn das auf Gegenseitigkeit beruht«, meinte er, »aber was hat das alles mit Frau Kaufmann zu tun?«
Dr. Parker zuckte die Schultern. »Vielleicht… als ich auf Karinas Drängen hierherkam, da hatte ich schreckliche Angst, in meinem Beruf zu versagen. Diese Angst kam nicht von ungefähr, denn damals, in den Staaten, ist meine Verlobte bei einer Operation gestorben, wo ich die Anästhesie machte. Ich konnte nichts dafür… es lag an ihren schweren Verletzungen, aber… ich hatte trotzdem Angst. Durch dein Vertrauen in mich… durch die Sicherheit, die du mir gegeben hast, wurde ich mit meiner Angst fertig – mehr als das. Ich bin wieder ein guter Anästhesist, und das verdanke ich größtenteils dir… vielleicht verdanke ich es sogar ausschließlich dir.« Wieder schwieg er kurz. »Du hast die seltene Gabe, auf Menschen einzuwirken – in einer sehr positiven Art. Du gibst Sicherheit, behutsame Hilfen, du setzt dich für andere ein… so sehr, daß du manchmal sogar dich selbst… deine eigenen Bedürfnisse vergißt, und du kannst erst zufrieden sein, wenn die Menschen in deiner Umgebung es ebenfalls sind.« Er lächelte. »Auf diese Weise wirst du auch Oberschwester Lena helfen. Dabei ist es gar nicht so wichtig, ob du ihre Probleme wirklich lösen kannst – das einzige, was zählt, ist, daß du für sie dasein wirst… mit ihr sprechen, sie wieder aufrichten – was auch immer nötig sein wird.«
Dr. Daniel war zutiefst ergriffen, so daß er eine ganze Weile kein Wort hervorbrachte.
»Mensch, Jeff…«, murmelte er schließlich.
»Das wollte ich schon lange mal loswerden«, entgegnete Dr. Parker, dann grinste er. »Na komm, sehen wir mal nach unserer Patientin.«
Dr. Daniel war beinahe froh, daß Jeff die dienstlichen Belange wieder in den Vordergrund zog. Für das, was er für seine Patienten und auch für die Menschen in seiner Umgebung tat, wollte er gar nicht gelobt werden – wenn ihm Jeffs Worte auch sehr gut getan hatten. Ab und zu braucht jeder ein bißchen Anerkennung.
*
Als Dr. Daniel und Dr. Parker die Intensivstation betraten, merkten sie sofort, daß Hannelore Jung noch nicht ansprechbar