Der Zauberberg
Ich geh noch zur Schule, ich hab keine Zeit (Manuela 1963)
Die Schule in die ich ging, war ein steingewordenen Klassiker, wie sie heute nicht mehr zum Leben erweckt werden. Das massive Bauwerk schien Autorität und Würde zu besitzen. Unser Werklehrer nannte den Kasten gerne "Zauberberg". Unser Rektor, "Stuka" Riester, war eine lebhafte Erscheinung mit sichtbarer Vergangenheit. Es war seine braune Beinprothese, mit welcher er die Räume und Gänge der Schule zu durchmessen pflegte. Durch leichtes quietschen hörbar, was uns Schüler gelegentlich den entscheidenden Zeitvorteil einbrachte. Kontrolle war diesem Mann eine große Verpflichtung dem Amt eines Schuldirektors gegenüber. Aus dieser Notwendigkeit heraus, ließ er sich rechts vom Haupteingang, mit Sicht auf die Aula und die beiden abgehenden Flügel, von wo es zu den Klassenräumen ging, ein zweites Büro (böse Zungen meinten einen Wachposten) einrichten. Zum Leidwesen der Büroangestellten mit offenstehender Tür, aber wenigstens ohne Suchscheinwerfer. Es war ein schmaler Raum und ich weiß nicht mehr ob es überhaupt ein Fenster gab. Sein eigentliches Büro, im ersten Stock, gleich neben dem Lehrerzimmer, wurde nur für Geständnisse und Zurechtweisung, von üblichen Verdächtigen, genutzt. Da er von diesen Posten aus auf einen großen Teil vom "Kasernenhof" blicken konnte, sah man öfter seine Gestalt das Fenster verdunkeln.
Zu meinem Leidwesen war unter der Leitung von Stuka ein Stundenausfall, aus welchem Anlass auch immer, keine in Betracht zuziehende Maßnahme. Solange die Russen nicht durchgebrochen sind wird weiter unterrichtet, war sein Anspruch. Er gab auch Vertretungsunterricht in zwei Klassen gleichzeitig. Wenn er sich zu solchem Schritt genötigt sah, meist durch die weinerliche Einstellung jüngerer Lehrerkollegen, zur Selbsteinschätzung bei Krankheit, lag es entscheidend an unserer Kreativität, wie der drohende Unterricht beim Herrn Direktor ablaufen wird. Denn Riester, ja selbst er, hatte Schwächen. Nicht immer konnten wir diese zum Leben erwecken, aber einen Versuch war es wert. Wenn es gelang den Piloten in ihm aufzuwecken, der uns lehrhaftes aus seinem Kampf ums Vaterland zu berichten wusste, war die Unterrichtseinheit gelaufen. Als erstes wurde die Europakarte, mit den deutschen Grenzen von 1937, hervorgeholt und ausgehängt. Momentan sind allerdings östliche Teile von den gierigen Kommunisten okkupiert, was unseren Direktor regelmäßig zu Wutausbrüchen zwang. Dann wurde von ihm die Tafel mit Kreide zu einer Luftkampfaufstellung ausgemalt und so mancher von uns durfte ein feindliches oder vaterländisches Flugzeug darstellen, wegen der realistischen Gefecht Simulation am Himmel. Dazu die sprachliche Brillanz des anwesenden Piloten, welcher dann in die frühen vierziger Jahre abgeflogen war.
Die Schülerinnen hatte es besonders gut getroffen, denn von ihnen erwartete der Staffel Führer wenig Verständnis und Aufmerksamkeit. Sie waren entschuldigt und faktisch von weiterem Unterricht abgemeldet. Schulbildung, bei Mädchen, hatte keine Priorität für ihn. >Der Mann hat eine Liebe, das ist die Welt. Die Frau hat eine Welt, das ist die Liebe<, behauptete er gerne, in seinem Unterricht. Wir Jungs mussten zumindest unsere Augen in seine Richtung installieren. Auch waren Nachfragen unsererseits nützlich, um ein zu frühes Ende einer simulierten Lagebesprechung der Luftwaffe zu vermeiden. Es gab nicht wenige unter uns, die seinen Erzählungen und Vorführungen, aus versunkener Epoche, ergriffen lauschten.
Ich war bereits, von Hause aus, darauf trainiert, allerdings nicht aus Sicht eines Flugzeugführers. Jedenfalls besser als Mathematik, Physik oder sonst was. Denn Riester war, was den Unterrichtsstoff anging, leider ein Universaltalent. Ja, Riester war nicht "neutral", will ich mal sagen. Zum Beispiel hatte sich Gento angewöhnt mit einer alten deutschen Fliegerhaube herum zu laufen, die er im Bunker fand. Außen Leder, innen Fell. Das störte Stuka überhaupt nicht, ganz im Gegenteil – es folgte ein Vortrag über extreme Bedingungen in großer Höhe. Wenn wir ganz viel Glück hatten holte unser Referent das "Buch der Bücher" hervor und lass uns daraus vor. Berichte von der mutigen Generation, wie er sich ausdrückte. Es war das Kriegstagebuch eines seiner großen Vorbilder, dem Jagdflieger und Träger des Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes mit goldenem Eichenlaub, Schwertern und Brillanten: Hans-Ulrich Rudel. Besser unbekannte Geschichten von Rudel, dem roten Baron und seinen Konsorten, als die ewig gleichen Luftkämpfe vom Direktor, in allen Varianten und Fassetten. Die Lufthoheit über den gesamten Schulkomplex wurde durch die enge Zusammenarbeit mit Hausmeister "Wachmann" Bergmann