Manchmal setzte sich Gerards Mutter an den Flügel und spielte mit ihm vierhändig. Sie ermunterte Waldemar, auch ein Instrument zu lernen. Doch Vater Karl hielt davon nichts. Ein Instrument und Musikstunden könnten sie sich nicht leisten, er sei eben nicht Direktor. Gerards Mutter gab Waldemar daraufhin eine Gitarre, die bisher mehr oder weniger unbenutzt herumgelegen hatte. Sie konnte recht gut damit spielen, «nur Akkorde», lächelte sie, aber das könne er schnell lernen und vielleicht dazu singen. Es ging erstaunlich gut. Waldemar brachte die Gitarre nach Hause und übte ziemlich regelmässig. Sein Vater brummte, aber er mochte sich dagegen nicht auflehnen, schliesslich war der Fürst sein Arbeitgeber.
Als beide Jungen die Sekundarschule besuchten, fühlte Waldemar, wie sich sein Freund langsam von ihm entfernte. Gerard würde mit Sicherheit auf ein Gymnasium gehen, gar nach Amerika. Ähnliches hatten sie bereits besprochen, und Gerard war in den Frühlingsferien mit seinen Eltern und der kleinen Schwester nach Amerika geflogen, mit einer einzigen Zwischenlandung auf den Azoren, hatte ihm Gerard erklärt. Gerard musste der ganzen Klasse von seinem Flug mit der Super-Constellation nach New York, dem Leben in der riesigen Stadt mit den Wolkenkratzern, und ganz besonders vom Empire State Building, dem höchsten Haus der Welt, erzählen. Danach spielte er auf dem Klavier einen Boogie-Woogie, mit dem er seine Mitschüler beinahe zum Toben brachte. Gerard war wirklich ein Wunderknabe. Waldemar war stolz darauf, neben ihm sitzen zu dürfen.
Nur hin und wieder, wenn ihm irgendetwas in die Quere kam oder gerade nicht passte, wurde Gerard furchtbar zornig. Gerard wurde nicht nur beneidet, bewundert und respektiert, sondern auch gefürchtet. Nein, er war keinesfalls streitsüchtig oder gar ein Rohling. Er hatte nur eine genaue Vorstellung, wie die Dinge vernünftigerweise zu sein hatten, und alles, was gegen seine Vorstellungen verstiess, musste sich fügen, durch Zureden, Argumentieren oder eben durch Sanktionen.
Gerard ging eben ein Jahr aufs Gymnasium in Zuoz. Er hatte diese Schule gegen Amerika durchgesetzt und sich inzwischen in Irene, ein Mädchen aus der gemeinsamen Sekundarschulklasse, verliebt. In den Ferien besuchte der vielversprechende Jüngling seine erträumte Liebe. Sie wies ihn ab. Der 16-Jährige erschoss sich vor ihren Augen. Nicht alle seine Revolver waren Spielzeuge gewesen.
Es war ein schweres Unglück. Die Fürsts verbaten sich jeden Besuch. Gerards Mutter ging vorübergehend zur Pflege in ein Heim, und danach verreiste sie für Monate nach Amerika zu ihren Eltern. Der Fürst wurde unnahbar hart. Immerhin hatte er versucht, etwas für die traumatisierte Irene zu tun. Doch all das war sehr schwierig. Die Familie des Mädchens wusste sich kaum zu helfen, letztlich brachten sie die entsetzte Jugendliche in ein Internat in der Gegend von Neuenburg.
Für Waldemar war der Tod seines Freundes ebenfalls ein herber Schlag. Nicht nur, weil er ihn vermisste, er hatte sich an Gerards Abwesenheit schon während der Zeit in Zuoz gewöhnt, sondern weil er nicht verstehen konnte, warum Gerard seinen Willen so radikal durchsetzen wollte. War Verliebtsein, war Liebe, von der immer alle redeten und die er selbst noch nie verspürt hatte, wirklich so gefährlich?
Nach Gerards Tod wurde das Verhältnis zwischen Waldemar und seinem Vater noch schwieriger. Irgendwie nutzte er die gebrochene Beziehung zu den Fürsts, seinen ältesten Sohn noch ungehemmter zu peinigen. Zwar half er Waldemar, im Walzwerk eine Lehrstelle als Werkzeugmacher zu bekommen, schien aber auch neidisch zu sein, weil er selbst sich einst vom Hilfsarbeiter mühsam hatte hochdienen müssen. So wenigstens hat Yvonne, Waldemars Schwester, später das befremdliche Verhalten des Vaters zu erklären versucht.
Erstaunlicherweise liess ihn sein Vater weiterhin Gitarre spielen. Und nach einem beinahe zufälligen gemeinsamen Auftritt anlässlich einer Schulschlussfeier begann Waldemar, sich mit Dölf Pfister und Rolf Schneider zu treffen. Waldemar lernte neben der Gitarre Banjo spielen, ein Instrument, auf dem Dölfs Vater einst üben wollte, was er aber sehr schnell aufgegeben hatte.
Waldemar fand Dölf wirklich gut, aber nicht so virtuos wie den toten Gerard. Dölf war eifrig, fleissig, geduldig und unermüdlich. Das alles war Gerard nicht gewesen, Gerard war mehr als begabt, vielleicht ein Genie gewesen, meinte Waldemar stets. Die Pfisters hatten auch ein Klavier, keinen Flügel, offenbar spielte nur Frau Pfister hin und wieder, zu Weihnachten oder so, spöttelte Dölf jeweils. Dölf klimperte ganz leidlich auf dem Klavier, aber nur, um irgendwelche Noten umzuschreiben, er liebte vor allem seine Klarinette und sein Saxophon.
Schon bald traten sie als Trio auf. Erstmals an einem Theaterabend des Schiessvereins, für den Karl Gretler die Kasse führte. Die Jungen spielten gratis, «aus Freude», und wurden danach ziemlich gefeiert. Das war für Waldemar etwas wie ein Durchbruch und erleichterte sein Leben für eine Weile – nicht ausnahmslos und vor allem nicht auf Dauer. Später, gegen Ende der Lehre, als Waldemar nicht nur gute Leistungen brachte, wurde das Verhältnis zu seinem Vater wieder deutlich angespannter.
Yvonne erzählte, wie Waldemar die Aufnahmeprüfung an die Ingenieurschule verpasst und ihn Karl deswegen verlacht hatte. «Es war so verletzend, so peinlich, so gemein» – sie wäre ausgezogen, hat sie gesagt, aber Waldemar blieb, der Mutter wegen, habe sich Waldemar herausgeredet. Und eines Tages habe Waldemar die Rös Schneider nach Hause gebracht, die er heiraten wollte und die offenbar von ihm schwanger war. Karl wollte von einer Hochzeit nichts wissen und weigerte sich, hinzugehen, ja er verbot seinen beiden um ein paar Jahre jüngeren Buben, teilzunehmen, also blieb Martha – «um des Friedens Willen» – auch weg. Yvonne hatte ihr vergeblich zugeredet, ihrem Mann die Stirn zu bieten. Martha schwieg und heulte.
Yvonne wollte dabei sein. Sie setzte sich wie immer gegen den Vater durch und wurde Trauzeugin. Die Eltern der Rös blieben der Trauung auch fern. Nur Rolf, ihr Bruder, war da – als Trauzeuge, er war ja Waldemars Freund. Dölf Pfister, inzwischen ein beinahe professioneller Musiker, brachte sein Saxophon und spielte vor dem kleinen Essen eine Melodie aus Gershwins Negerbegräbnis. Passend war das nur anscheinend nicht. Begräbnisse seien bei New Orleans Schwarzen fröhliche Feste, behauptete er. Vor dem Kaffee blies Dölf auf seinem glänzenden Instrument den Saint Louis Blues Marsch, um den beiden Mut zu machen, wie er ihnen sagte. Trotz allem blieb es eine durchaus traurige Hochzeit, schon auf dem Standesamt und auch im Restaurant daneben. Aber wenigstens anonym, in der Stadt kümmerte sich niemand darum.
Kurz danach hatte Rös einen Abort. Etwa ein Jahr später wanderte das Paar nach Amerika aus. Waldemar und Rös fanden in der Nähe von Boston bei reichen Leuten auf einem weiträumigen Landsitz Arbeit als Hausangestellte. Wenige Wochen danach wurde in Dallas der aus dem Raum Boston stammende Präsident John F. Kennedy erschossen.
Ilse und die Pfisters
Am 24. April 1983, einem sonnigen Frühlingstag, an dem im ganzen Land die Kirschbäume blühten, war Erna Pfister bei ihren Eltern zu Besuch und nach dem gemeinsamen Mittagessen mit Vater Wilhelm zum Spaziergang an den See hinuntergegangen, während Ilse, Ernas Mutter, im Büro, wie sie und die ganze Familie das kleine Arbeitszimmer nannten, in dem sie früher «ihre» Zeitung redigiert hatte, die Grabrede des Pfarrers und den damaligen Nachruf im «Seespiegel» für ihren vor 20 Jahren verstorbenen Schwiegervater Johann Pfister las.
Beides hatte Ilse damals zusammen mit ihrem Mann Wilhelm und dem alten Pfarrer Grob verfasst und heute aus einem alten Ordner herausgesucht. Da war haarklein nachzulesen, wie der Pfälzer Johann Pfister aus Bretten nach der Jahrhundertwende als Buch- und Zeitungsdrucker in die Schweiz kam, in der nahen Stadt eine Stelle fand, dort Hedwig, die Tochter des allseits bekannten Lehrers und Rektors der Sekundarschule Sulzach, Doktor Melchior Müller, kennen lernte, ihretwegen ins Dorf zog, sie heiratete, mit dem Geld des Schwiegervaters eine Druckerei einrichtete, um auf dessen Drängen hin eine Zeitung zu gründen, den «Seespiegel» nämlich, weil der Herr Doktor, Lehrer und Rektor, gerne auch Redaktor werden und sein wollte.
Es galt, den Bewohnern in diesem Tal mit seinem lieblichen See