Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
Скачать книгу
gelöscht.

      Ich überlasse dir alles, auch was ich einst für den roten Kurt sammelte und schrieb und ihm glücklicherweise nie zugänglich machte. Zudem vieles, was mir Susanne aus ihrem und dem Leben ihrer Eltern und Brüder erzählte.

      Wie ich dir schon in der Klinik sagte, sind es, mit einzelnen Ausnahmen, wilde Knäuel von schlecht gesponnenem Garn. Ich weiss, du wirst alles mit Sorgfalt und Feingefühl entwirren.

      Wenn es dir gelänge, aus all den rohen Faserbändern ein feines Garn zu spinnen, wäre das mehr als ich erwarten dürfte. Ich werde es selbst mit Bestimmtheit nicht mehr können. Dass du niemandes Würde verletzen wirst, traue ich dir zu. Vielleicht findest du bei der Arbeit Trost für die eigenen Stolpersteine, Empörung und Trauer um die fragile oder gar beschädigte Beziehung zu deinen erwachsenen Kindern.

      Allerdings, Kinder kommen in meinen Erinnerungen zu kurz. Ein bisschen habe ich die Jugend von Sarah und Lukas begleiten können und dabei erlebt, wie fragil junge Seelen sind. Sie tragen immer die Narben ihrer frühen Verletzungen, wie ein Baum, und geben sie ihrerseits weiter. So oder anders. Vielleicht weisst du mehr und du wirst darüber schreiben.

      In diesen Tagen habe ich mich oft an unsere Gespräche erinnert. Sie haben mir gut getan. Es entstand da so etwas wie Freundschaft, ein Gefühl, das ich nur in meiner Jugend erlebt habe. Ich möchte dir dafür danken.

      Zum neuen Jahr wünsche ich dir nochmals alles Gute, auch gute Gesundheit.

      Neidlos.

       Rolf

      Leider habe ich danach weder spontan geantwortet noch ihn besucht. Ich kopierte die neuen, umfangreichen Dateien ungelesen zu den anderen. Ich war voll mit mir selbst und den Erinnerungen an meine Eltern beschäftigt und in ein paar Tagen wollten Valerie und ich im Engadin Freunde besuchen.

      Mitte Januar starb Rolf Schneider. Er sei: «Friedlich eingeschlafen, nach langer, mit grosser Geduld ertragener Krankheit» – Susanne hatte mir Ende des Monats «nach dem stillen Begräbnis im engsten Freundeskreis» die mit dem einfachen Text bedruckte Karte geschickt. Als ich mich hinsetzte, um ihr einen Brief zu schreiben, erinnerte ich mich an Rolfs Dateien auf meiner Festplatte und begann, mich hineinzulesen, anfänglich bloss, um etwas Schönes, Tröstliches oder gar Geistreiches für meinen Brief zu finden. Je mehr ich las, desto mehr begannen mich vor allem seine erst kurz davor geschickten Texte zu interessieren. Da fand sich wirklich mehr als in meiner eigenen kümmerlichen Vergangenheit!

      Ich schrieb Susanne ein paar tröstliche Worte und versprach, sie gelegentlich in ihrer Cafeteria zu besuchen.

      Erst Monate später begann ich Rolfs «Garn aus der Sulzacher Spinnerei» – so nannte er seine Texte – zu ordnen, die Erzählungen um Susanne, Erna, Rös und Waldemar und die Geschichte ihrer Familien und der Seeweite zu entwirren. Nicht alles, was ich fand, passte lückenlos zusammen und so habe ich über Seiten auch mein eigenes Garn hineingesponnen. Jede Ähnlichkeit mit Rolfs Wirklichkeit – so gewollt sie war – ist eine mehr oder weniger glaubwürdige Annäherung und somit zufällig geblieben. Zudem, alle Namen sind ohnehin frei erfunden.

       Die Seeweite

image

      Im weitesten Sinn beginnt die Seeweite am Südfuss des Jura, und dazu gehört auch Achstadt, die Kleinstadt mit ihrem bemerkenswerten historischen Kern, einem erstaunlich vielfältigen kulturellen Angebot, mit Schulen bis zur mittleren Reife, einer Fachhochschule für Ingenieure, einem florierenden Gewerbe und einer zwar nicht besonders grossen, aber doch vielseitigen und prosperierenden Industrie.

      Von hier aus gegen Osten, Süden und Westen breiten sich viele vormals ländliche Dörfer aus, deren einstige unzählige kleine Bauernhöfe zum grössten Teil verschwunden sind und die jetzt eine anscheinend ungeplante, unübersehbare, nach und nach mit der Ausdehnung ausufernde Ansammlung von mehr oder weniger in Reihen oder losen Haufen gebauten Wohnhäusern, Kaufhäusern, Industrie-, Klein- und Handwerksbetrieben bilden. Viele Dörfer sind in den letzten 50 Jahren mehr und mehr zusammengewachsen und kaum noch auseinander zu halten. Aus ihnen sind stadtähnliche Gebilde geworden. Nur einzelne markante Bauten, Kirchen und Plätze deuten bisweilen auf die einstigen Dorfkerne hin.

      Hügelzüge mit Wäldern und Wiesen trennen noch immer die sanften Täler und damit auch die gewachsenen Siedlungen, denen in der Weite zwei geradezu liebliche Seen so etwas wie eine fliessende Grenze setzen.

      Als eine Art Parklandschaft oder Erholungsraum mit Spiegeln – so könnte die Idylle sehen, wer von Sulzach her, dem letzten grösseren Dorf vor dem Sulzachsee, über den Heimberg wandert und die unbestritten reizvolle Weite geniesst. Dieser Weite schliesslich verdankt die Gegend ihren Namen. Je nach Wetterlage bildet, bei guter Sicht, weit hinter den Seen die Alpenkette eine imposante, hin und wieder gar dramatische, jedenfalls von Einwohnern und Besuchern gleichermassen bewunderte Kulisse. Vielleicht haben einst diese lieblichen Spiegel Melchior Müller, den Gründer des «Seespiegel», zum Namen für sein Lokalblatt angeregt. Doch Weitsicht hat sein «Seespiegel» aus der Seeweite kaum gewonnen.

      Die Zahl der Einwohner hat sich in den letzten 100 Jahren vor allem durch Zuwanderer unterschiedlichster Herkunft vervielfacht. Die früher sozusagen selbstverständliche, einer ungeschriebenen Hackordnung folgende dörfliche Kontrolle über jeden Einzelnen ist den kleinen wirklichen und vermeintlichen Machthabern entglitten. Wie die einzelnen Orte, so sind auch viele Menschen vor allem in den letzten 50 Jahren, zu einer neuen Zeit aufgebrochen. Ihre Berufe, Ansichten, Bräuche und Wünsche haben sich verändert. Andere versuchen zu verharren, misstrauen jeder Öffnung der Zäune und der Überbrückung alter Gräben. Sie sehen in allem Aufweichung, Verflachung oder gar Preisgabe bewährter Werte. Ältere Bewohner sind zur Anpassung vielleicht gar nicht mehr in der Lage. Wenn sie nach Achstadt fahren, fahren sie in die Stadt, und viele verachten das noch weiter entfernte Zürich als Grossstadt, hinter der alles andere bereits Ausland ist.

      Für allzu viele endet mit der Seeweite auch ihr Horizont. Früher brach die Seeweite bereits beim unsichtbaren Zaun zur katholischen Nachbarschaft ab. Und jenseits des Zauns waren die Leute um kein Haar besser. In den Reformierten und Protestanten mit all ihren unzähligen Sekten sahen sie des Himmels unwürdige Verführte, Abtrünnige oder gar Ketzer. Gewiss, man wollte nach dem verlorenen Sonderbundkrieg schon zusammen Schweizer sein, zum gemeinsamen Wohl, und die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten der unermüdlich fleissigen Calvinisten und Zwinglianer verachtete auch niemand, aber im Herrschaftsbereich ihrer Kirchen wollten die schwarzen Pfaffen möglichst wenig liberales Unternehmertum dulden, um so das fromme Volk vor der Sünde aufklärerischer Freiheit und Selbstbestimmung zu schützen. So blieb die Landschaft südlich der Sulzachsee noch weitere 100 Jahre geprägt von lieblichen Bauerndörfern mit blühenden Obstbäumen und päpstlicher Kirchturmpolitik.

      Erstaunlicherweise liegt der Kern von Sulzach nicht direkt an seinem lieblichen See, sondern leicht darüber. Vor 100 Jahren befand sich das verschlafene Dorf ohnehin im Abseits. Der See war weder als Wasserstrasse noch sonst von wirtschaftlicher Bedeutung. Sich an seinem Ufer auszuziehen, um stundenlang in der Sonne zu liegen oder gar in seinem Wasser zu schwimmen wäre niemandem eingefallen. Man hatte anderes zu tun. Selbst die Kinder wurden neben Schulstunden und Kirchgang oft zur stundenlangen Heimarbeit angehalten.

      Auch für die Anmut der Gegend hatten nur wenige ein Auge oder gar Zeit. So bildete sich das Dorf entlang der einzigen, von Norden nach Süden führenden, im Sommer staubigen und im Winter meist matschigen oder gefrorenen Strasse. Erst die der Strasse entlang gebaute Eisenbahn brachte eine für den Aufschwung der Gegend wichtige Verbindung mit den anderen Dörfern, der Stadt, dem ganzen Land und damit der modernen Zeit. Für die Eisenbahn wurde Sulzach zur Endstation. Das katholische Schwarzfeld, das nächste Dorf im Süden, musste noch lange Jahre auf einen Anschluss an die weite Welt warten und blieb eben auch für weitere Jahrzehnte ein unberührtes Bauerndörfchen.

      In Sulzach hingegen wurden binnen kurzer Zeit aus kleinen Gewerbebetrieben grössere Unternehmen. Zwar gab es schon lange eine ansehnliche Mühle, eine Sägerei und die Spinnerei unten am See, weil