Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
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hinterliessen die seltenen motorisierten Karossen nach wie vor riesige Staubwolken. Die Leute begannen sich daran zu gewöhnen. Schliesslich waren es meist hoch vermögende oder gar einflussreiche Leute, denen man ausnahmslos mit Respekt zu begegnen hatte. Die Staubwolken gehörten zum Fortschritt. Zunehmend hatten diese Reichen oder Wichtigen auch ein Telefon, und wer sich als bescheidener Nachbar besonders anständig benahm, durfte im Notfall um eine Verbindung bitten oder wurde gar im Falle eines Anrufs benachrichtigt. Wer allerdings irgendwelchen aufmüpfigen Ideen frönte, als streikbereiter Gewerkschafter und Sozi galt oder sonst den besitzenden Bürgern suspekt war, musste den Weg bis zur Post in Kauf nehmen. So etwa lebte es sich in Sulzach am Ende des Zweiten Weltkriegs, als Waldemar, Rolf und Dölf Kinder waren.

      Inzwischen sind mehr als 50 Jahre vergangen. Es gibt weder Schmied noch Wagner, weder Kürschner noch Küfer mehr, auch Molkerei und Käserei sind eingegangen. Noch sind da zwei Metzgereien, aber hier werden schon längst keine Rinder, Kälber oder Schweine mehr geschlachtet. Die Metzger beziehen ihr Fleisch vom grossen Schlachthof der Region – alle vom gleichen. Noch gibt es vier Bäckereien, aber nur eine von ihnen bäckt ihr Brot wirklich selbst und wenn schon, dann mit vorgemischtem Mehl – die Feinbackwaren beziehen ohnehin alle von der Grossbäckerei. Grossverteiler haben die kleinen Läden längst verdrängt. Aus Dutzenden kleiner Bauernhöfe sind ein paar Grossbetriebe geworden, die das Land ausserhalb der Agglomeration mit riesigen Traktoren bebauen. Ohne Subventionen und geschützte Preise müssten wohl auch sie aufgeben.

      Spinnerei, Siederei und Tabakbetriebe sind infolge Konkurs, Umnutzung oder Aufgabe längst geschlossen. Die Walzi kämpft um ihr Überleben, die Besitzer konnten ihr Werk noch rechtzeitig an eine britische Gruppe verkaufen. Mosterei und Hutfabrik sind eingegangen – zahllose Betriebe scheiterten an der ungenügenden Wertschöpfung im schweizweiten, europaweiten, ja weltweiten Wettbewerb. Die hohen Kamine wurden gesprengt, sie verbreiten keinen Russ mehr. Auch die Zementfabrik im Nachbartal ist sauber geworden wie das Wasser im See. Aus seinem 100 Meter hohen Turm stösst das Kernkraftwerk jahraus und jahrein Wasserdampf in den Himmel – ein Merkmal fürs ganze Land.

      Aus Arbeitern sind Bürolisten geworden, die in der Stadt oder in stadtnahen Büros am Schreibtisch und am Telefon sitzen. Wer es zu dieser Minikarriere nicht geschafft hat, muss sich Sorgen machen, Stellen mit einfachen Arbeiten sind überall rar geworden.

      Hunde und pflegeleichter Rasen prägen den Alltag der Klein- und Kleinstfamilien in ihren putzigen Häuschen. Handy, Fernseher, Internet und Games bestimmen das Leben auch in den Wohnungen in den Wohnblöcken. Ein übergrosser Anteil von Kindern aus kaputten Welten und Familien fordert Lehrerinnen und Lehrer heraus. Die lokalen Politiker geben sich besorgt. Ihre Macht ist klein geworden und ihr Anspruch immer grösser – angeblich sind die Fremden schuld an allem.

      Der Bau einer katholischen Kirche war in Sulzach schon in den 20er Jahren von Gesetzes wegen nicht mehr zu verhindern, auch wenn sich noch so viele ängstliche Reformierte dagegen auflehnten. Als während des Baubooms der 50er und 60er Jahre in der ganzen Seeweite mindestens ein halbes Dutzend weiterer katholischer Kirchen entstand, hatte es niemanden gekümmert. Im Gegenteil, auch reformierte Bauunternehmer hatten mit grossem Eifer ihren Beton in die Fundamente gegossen und dafür gutes Geld genommen. Das Thema, noch durch die ganze erste Jahrhunderthälfte da und dort hitzig diskutiert, hatte sich zumindest für den Grossteil der Bevölkerung in Nichts aufgelöst.

      Doch jetzt fürchten sich die modernen und aufgeklärten Menschen der Seeweite vor Moscheen und Minaretten. Sie reden sich ein, Terroristen und Bombenbastler, Vielweiberer und Frauenschläger aus dem Orient und Afrika wollten die Macht im Land übernehmen. Ganz einfach.

      Nun, nichts ist einfach.

       Rolf

      Als Rolf im Sommer 1947 zehn Jahre alt wurde, glaubte er, dass es die Spinnerei unten am See schon immer gegeben hatte und immer geben würde wie den See, die Berge, die Kirche oder das Schulhaus. Einst, das hatte er in der Schule erst gelernt, wurden die Maschinen der Fabrik durch ein Wasserrad mit dem Wasser vom Sulzbach angetrieben. Später konnte eine stärkere Dampfmaschine schnellere und bessere Spinnmaschinen bewegen. Und schon viele Jahre vor seiner Geburt hatten die Besitzer, die Aasbachs, die ganze Fabrik elektrifizieren lassen. Jetzt – das wusste Rolf von seinem Vater – drehten elektrische Motoren die Wellen an der Decke der Fabrikhallen. Von dort übertrugen die surrenden Lederriemen die Kraft auf die unermüdlich ratternden Spinnmaschinen, an denen unzählige Frauen mit Hunderten von Spindeln arbeiteten und volle Spulen gegen leere wechselten. Einzelne Frauen aus dem Dorf kannte er, Nachbarinnen und Mütter, Tanten oder gar Schwestern von Mitschülern. Seine Mutter sollte früher auch in der Spinnerei gearbeitet haben. Daran konnte er sich allerdings nicht erinnern. Damals, kurz vor dem Krieg, war er ja erst zur Welt gekommen.

      Seit einiger Zeit bedienten mehr und mehr meistens junge Italienerinnen die Spindeln. In ihrer Freizeit lebten sie in einer Baracke mit vielen Zimmern, die Herr Aasbach, der reiche Besitzer der Spinnerei, speziell für diese Frauen hatte aufstellen lassen. Hin und wieder begegnete Rolf ihnen, wenn er vor der Fabrik auf seinen Vater wartete und vor allem an den Sonntagen, wenn sie, wie auch er, zur Messe gingen. Da zogen sie beinahe wie ein Trupp Soldaten zur Kirche. Viele trugen ein Kopftuch und manche sahen blass und sehr ärmlich aus. Eine von ihnen war gekleidet wie eine Nonne und schien eine Art Anführerin zu sein. Die Mutter erzählte ihm, die Frau mit dem Schleier sei wirklich eine Nonne, die jungen Frauen lebten sehr sparsam und würden später wieder nach Italien reisen, um zu heiraten. Sie seien hier, um Geld zu verdienen und sie schickten davon so viel wie möglich nach Hause.

      Sein Vater war in der Spinnerei Aufseher und Chauffeur. Hin und wieder, etwa an Samstagen, nahm er den Jungen mit in die Fabrik. Da arbeiteten nur die Italienerinnen an den Spindeln. Sie wollten immer arbeiten, um trotz der niedrigen Löhne möglichst viel zu verdienen. So drückten sie die Löhne der Frauen aus der Gegend, hatte ihm sein Vater erklärt. An Samstagen kümmerte sich sein Vater kaum um die Arbeiterinnen, es gab ja noch andere Aufseher, sondern vorwiegend um den Lastwagen und den noblen Mercedes der Aasbachs, wechselte Öl, goss Wasser in den Kühler, kontrollierte die Luft in den Reifen und den Strom der Batterie. Der Lastwagen hatte gar keine Batterie. Ihn musste man mit einer Kurbel anwerfen. Das alles konnte Rolf schon mit seinen zehn Jahren verstehen.

      Die Samstagsarbeit der Italienerinnen kontrollierten die Aufseher immer am Montag, auch das wusste Rolf. Ihm schien, dass sein Vater sie nicht besonders mochte. Sie seien zwar in der Fabrik sehr fleissig, aber auch – und das in ihrer unverständlichen Sprache – sehr schwatzhaft, und einige gaben sich überhaupt keine Mühe, wenigstens die wichtigsten Wörter der hiesigen Sprache zu lernen und lachten nur, wenn sie etwas nicht verstünden. Als Aufseher ziehe er, sein Vater, junge Schweizerinnen vor. Aber diese wollten jetzt, wo sie dank der guten Konjunktur die Wahl hatten, nur besser bezahlte Arbeit machen.

      An einem Abend sagte Rolfs Vater beim Nachtessen, die Tschinggenweiber seien ein Saupack. Die Nonne hätte sich im Namen der Frauen beim Direktor, der fliessend italienisch spreche, über ihn beklagt. Mit den einen sei er zu ungeduldig, ja schikaniere sie oft gar, und bei anderen leiste er sich Übergriffe, trete ihnen zu nahe oder hätte gar seine Hände nicht im Zaun. Zudem bevorzuge er bei Akkordzuteilungen offensichtlich die Schweizerinnen. Das sei alles lächerlich, sagte er am Tisch. Die Mutter schwieg, und er, Rolf wusste nicht genau, was diese Sätze bedeuteten, nur, dass die fremden Frauen hinterlistige Tschinggenweiber waren.

      Rolf verstand nicht, warum seine Mutter schwieg. Vielleicht hätte sie gerne Genaueres gewusst oder sie wollte nichts sagen, weil sie nicht mehr in der Fabrik arbeitete. Sie musste wegen der Theres, seiner älteren Schwester, zu Hause bleiben. Er wusste, dass sie ihretwegen hin und wieder heulte. Sein Vater hatte ihm einmal gesagt, Frauen, vor allem Mütter, heulten eben viel, fast bei jeder Gelegenheit.

      Theres war etwas Besonderes. Sie hatte eine unförmige Stirn, war ziemlich rundlich, konnte nicht alleine essen, nicht sprechen, nur lärmen, nur auf allen Vieren gehen, musste immer Windeln tragen und das alles, obwohl sie mehr als ein Jahr älter war als Rolf. Sie lebte immer in ihrer Mansarde in einem Laufgitter neben Mutters Bett. Das Laufgitter verhinderte, dass Theres sich wehtat oder irgendeine Verrücktheit anstellte. Hin und wieder schrie oder brüllte das für ihr