Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
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neue Betriebe dazu.

      Neu wurden Aluminium und Buntmetalle geschmolzen, gegossen, getrieben, gewalzt und gezogen. In einem anderen Betrieb entstanden Drehbänke und Werkzeugmaschinen, die sich im ganzen Land einen guten Ruf erwarben. Neben der wachsenden Spinnerei versuchten junge Unternehmer mit Strickwaren reich zu werden. Viele kleine und einzelne grössere neue Betriebe stellten Zigarren und die im Alltag beliebten Stumpen her. Letztere lieferten ihre Abfälle und Säfte zur weiteren Verarbeitung einem Betrieb, der sich auf die Herstellung chemischer Produkte spezialisierte. Eine Mosterei versuchte über die Region hinaus Kunden im ganzen Land zu gewinnen. Sie erinnerte vielleicht am stärksten an die ländliche Vergangenheit des Dorfes. Zur Mosterei brachten die Bauern der weiteren Umgebung die Tonnen von Fallobst, aus dem der Sulzacher Apfelsaft gepresst, als Süssmost konserviert oder in Fässern zu Apfelwein vergoren wurde. Und alle diese Betriebe stellten neue Leute ein.

      Kurz vor dem Ersten Weltkrieg begannen die aufkommenden Autos die Dörfer auf ihrer Durchfahrt mit Gestank und riesigen Staubwolken zu belasten, und bei schlechtem Wetter bewarfen sie die Leute am Strassenrand mit Dreck. In den folgenden Jahren wurde die Strasse nach Achsttadt – unter anderem mit tatkräftiger Hilfe italienischer Arbeiter – ausgebaut und ein Jahrzehnt später asphaltiert. Mit der Verbreiterung der Strassen entstanden die ersten Trottoirs für die Fussgänger. Trotzdem verfluchten viele Dörfler, vor allem die Bauern, den aufkommenden Verkehr, vor dem ihre Pferde scheuten oder gar durchbrannten und waren kaum bereit, den neuen Komfort zu würdigen oder gar die Schwerarbeit der Tschinggen (so nannten sie die Italiener) wirklich wahrzunehmen.

      Inzwischen wurde aus der langsam durch die Gegend ratternden elektrischen Kleinbahn, auf die Jugendliche – sie machten sich daraus einen Sport – anfänglich auch während der Fahrt aufspringen konnten, nach und nach eine schnelle Regionalbahn, die im Halbstundentakt alle Dörfer bediente.

      Allerdings blieb das Dorfbild von Sulzach bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von der Landwirtschaft und den vielseitigen Gewerbebetrieben und Krämerläden geprägt. Fünf Schmiede verpassten den Pferden der Bauern und Fuhrleute die neuen Hufeisen. Zwei Wagner hatten genug zu tun, neue Leiterwagen zu bauen und andere zu flicken oder hin und wieder gar eine vornehme neue Kutsche aus der Werkstatt zu fahren. Zur Sägerei am See gehörte auch eine Zimmerei, die sich vor allem auf den Bau von Chalets spezialisiert hatte. Vier Schreinereien im oberen Dorfteil stellten auf Bestellung allerlei Möbel her, waren aber doch eher für Arbeiten im Wohnungsbau eingerichtet; sie lieferten und montierten individuell und nach Mass Türen, Fenster, Jalousien, Holzdecken und anderes. Schon seit Ende der 20er Jahre stritten sich zwei Elektrogeschäfte mit allen möglichen, mehr oder weniger fairen Mitteln um Aufträge. Vor allem der Anlagenbau für die Fabriken mit all den vielen Lampen und Motoren warf Auftragsbrocken mit guten Margen ab.

      Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Nachfrage nach Haushaltmaschinen massiv an. Jedermann kaufte Staubsauger, Kühlschränke und Waschautomaten im so genannten Fachgeschäft. Das Handwerk bekam wirklich einen goldenen Krämerboden.

      Trotz der Fabriken und Gewerbebetriebe lebten auch in den 50er Jahren noch immer viele Leute mindestens teilweise von kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Oft arbeitete der Mann in einem Betrieb – meistens als Hilfsarbeiter für ein sehr kleines Einkommen. Die Frau erzog, bekochte und pflegte zu Hause meistens mehrere Kinder, nähte für sie Kleider und machte von Hand grosse Wäsche, daneben hielt sie zwei drei Kühe, setzte und häckelte die Kartoffeln, besorgte das Futter, putzte die Runkeln, mästete die Sau, pflückte und verkaufte das Obst.

      Noch immer war das Leben der meisten Menschen – wie üblich in jener Zeit – vom natürlichen Mangel an allem und jedem geprägt, aber auch vom Fehlen der Ressourcen während der beiden grossen Kriege. Das Denken und der Umgang mit den Gütern im Alltag gründeten auf Sparsamkeit, Umsicht, Vorsicht, Kontrolle und Geiz. Und für viele gab es die in unserer modernen Zeit und näheren Umgebung kaum mehr vorstellbare Sorge um das tägliche Brot.

      Hunger mussten zwar auch einfache Leute kaum leiden. Aber frisches Brot kam selten auf den Tisch, und Fleisch – Gehacktes, Geschnetzeltes, Innereien oder Wurst – gab es zwei, vielleicht drei Mal die Woche. Wirklich arme Leute lebten im Alltag oft von Milchkaffee, gebratenen oder gesottenen Kartoffeln und Fallobst.

      Obst war vergleichsweise teuer. Wer eigene Bäume hatte, war im Vorteil. Im Gegensatz zu Holz und Ähren konnte Obst kaum auf den Wiesen gesammelt werden, denn die Bauern pflückten selbst alle Bäume leer und sammelten das Fallobst für die Mosterei.

      Bis in die 50er Jahre kannten viele Kinder, und meistens auch ihre Eltern, Südfrüchte wie Bananen, Orangen, Khaki, Feigen und Datteln nur vom Hörensagen. Das Gleiche galt auch für Schokolade und andere Süssigkeiten.

      Nichts wurde weggeworfen – und bei Tisch den Teller leer zu essen, war ehernes Gesetz. Selbst das Wasser vom Abwasch fand in der Schweinetränke Verwertung. Leute, die kein Schwein mästeten, hielten vielleicht Ziegen oder Kaninchen, denen sie sämtliche Abfälle oder Reste aus der Küche verfütterten. Umsichtige Väter legten jedes einigermassen verwertbare Stück Eisen oder Holz zur Seite. Die Mütter sammelten jeden Fetzen Tuch, jeden gefundenen Knopf. Jede Hose, jedes Hemd, jeder Schuh, jede Socke und alles, was mehr oder weniger Schaden genommen hatte, wurde so lange wie möglich geflickt.

      Die Menschen auf den Strassen und in den Gassen hatten eines gemeinsam: Sie waren in der Regel schlank oder gar mager. Trotzdem wurden sie im Durchschnitt weniger alt als die Leute 50 Jahre später, und sie waren in der Mehrheit auch kaum fröhlicher, wohl aber kleinlich und neidisch. Zwar reden heute viele Leute von der guten alten Zeit, aber das sind Märchen oder Wahrnehmungsschwächen – ernsthafte Untersuchungen ergäben mit Sicherheit ein anderes Bild.

      Im Sommer trugen viele Kinder kaum Schuhe, die Buben kannten weder Leibchen noch Unterhosen – Hemd und kurze leichte Hosen genügten. Die Mädchen trugen rundum Schürzen. Man hatte für den Werktag kein zweites Set, und so waren zerrissene oder verschmutzte Kleider oft ein kleines Unglück, für das die Mütter ihre Kinder in der Regel bestraften. Die allermeisten hingegen besassen ein Sonntagskleid und auf Hochglanz gewichste Schuhe für Kirchgang, Kinderlehre und Spaziergang mit den Eltern am Nachmittag. Da zeigten auch die Erwachsenen ihre besten Kleider – nur allzu auffallend durften diese nicht sein. Wenn sich einfache Leute auffällig anzogen, wenn etwa die Nachbarin auch zwischen den Sonntagen die Seidenbluse trug, gab es bestimmt eine fragwürdige Geschichte zu entdecken, eine unbedachte Verschwendung auszumachen oder gar eitle Hoffart zu vermuten und zu bereden.

      Ab der Mitte des Jahrhunderts hatten alle Häuser Strom und fliessendes Wasser. Da und dort gingen die Leute damit aber um, als ob Strom und Wasser eher zum Sparen als zum Gebrauch eingerichtet wären. Die Lampen verbrauchten viel zu viel Strom und brannten nie unnötig lange. In den Küchen stand zwar ein Herd mit elektrischen Platten und Backofen, aber noch immer weder Boiler mit Warmwasser noch Kühlschrank oder gar Geschirrspüler. Noch gab es keine Waschmaschinen, kaum Badezimmer und oft nicht einmal eine Waschküche. Die Schlafzimmer waren nicht heizbar und im Winter belegten sich die Fenster mit Eisblumen. Für Wärme in Wohnzimmer und Küche sorgten in der Regel kleine Öfen, in denen man Holz aus dem Wald verbrannte – wenn unbedingt nötig.

      Für wirklich arme Leute war der Armen- und Waisenvogt zuständig. Er versuchte, mit möglichst wenig Geld die ganz Mittellosen zu versorgen. Er war auch befugt, uneinsichtige Väter aus dem Wirtshaus zu holen und zu irgendeiner schlecht bezahlten Arbeit zu verdonnern – als Hilfsarbeiter in einer Fabrik, als Taglöhner bei einem Bauern oder als Forstgehilfe im Wald. Auch war er dafür zuständig, Waisen und Halbwaisen bei Bauern zu verdingen, in Heime zu stecken und mittellose Witwen als Mägde zu vermitteln. Wer jemals in diese Mühle geriet, konnte ihr kaum mehr entrinnen. Angebotene Arbeit zu verweigern galt als unentschuldbares Vergehen und führte zum Abbruch jeder weiteren Hilfe.

      Arbeit gab es auch bei Handwerkern und Gewerbetreibenden. Doch Ungelernte – und das waren fast ausnahmslos alle Frauen, aber auch sehr viele Männer – wurden in den Fabriken zu niedrigsten Löhnen für neun oder zehn Stunden an sechs Tagen die Woche angestellt. Nur in den Tabakfabriken gab es noch viel einfache Handarbeit, während in der Textilindustrie die Bedienung einfacher Maschinen, die ihrerseits den Arbeitsrhythmus diktierten, verlangt war.

      In den Dörfern besass man kaum Autos und nur selten