Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
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schon das «Sulztaler Wochenblatt», doch fehlte diesem aus der Sicht des Doktor Müller die für die Seeweite dringend nötige Sehweite, der Weitblick in die Welt. Das Blatt hielt sich an die lokalen Ereignisse, versuchte in allem neutral zu bleiben und berichtete immer mit entsprechender Verspätung, was sich aus den grösseren Zeitungen des Landes hatte abschreiben und zusammenfassen lassen. Niemand bekam dabei seiner Meinung nach ein Bild von den enormen Umwälzungen, Entdeckungen und Errungenschaften in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft der modernen Zeit.

      Müller wollte eine Zeitung, die mit der Welt in direkter Verbindung stand, per Telefon und Telegraph. Er war Schwerarbeiter, nicht nur für die Schule, sondern auch für den «Seespiegel» – als Reporter, Kommentator und Redaktor zugleich. Sein Schwiegersohn Johann sorgte zweimal pro Woche für Satz, Umbruch, Druck und Vertrieb des neuen Mediums. Besonders Letzteres war viel schwieriger, als es sich die beiden Zeitungsmacher vorgestellt hatten. Anscheinend hatte kaum einer auf die neuen Nachrichten, Botschaften und Werte gewartet. Während Wochen streuten sie den Seespiegel gratis in die Haushalte, die sich vermutlich oder vielleicht ein Abonnement hätten leisten können. Noch schwieriger lief das Anzeigengeschäft. Die Krämer der Gegend waren es gewöhnt, ihre Schmierseife, Bodenwichse, Strohhüte, Schwärzebirnen und Miederwaren im «Sulztaler Wochenblatt» anzupreisen. Beinahe zwei Jahre dauerte die Durststrecke.

      Doktor Müller musste immer wieder Geld nachschieben. Sein aus einer Erbschaft stammendes, nicht unerhebliches Vermögen hatte er schon längst eingesetzt. Die im einstigen Dorfschulhaus eingerichtete Druckerei mit den beiden Wohnungen – in der einen hatten die Müllers mit ihrer Tochter schon immer gewohnt, und in die andere war jetzt das junge Paar Johannes und Hedwig Pfister eingezogen – konnte sein Schwiegersohn zwar mit Krediten der lokalen Bank abstützen, doch die laufenden Kosten zehrten mehr und mehr an der Substanz. Dem rührigen Redaktor blieb nichts übrig, als potente Gönner für die Zukunft seiner Idee zu finden.

      Zusammen mit ein paar Fabrikherren der aufstrebenden Industrien konnten Doktor Müller und Johannes Pfister eine moderne Aktiengesellschaft gründen und gleichzeitig auch das stattliche Haus von der Gemeinde zu einem vorteilhaften Preis erwerben. Natürlich wollten die Unternehmer vom Doktor ziemlich genau wissen, in welche Richtung und wie gefärbt denn das Blatt in Zukunft berichten würde. Nein, man würde sich gewiss nicht einmischen, aber «nur die allergrössten Kälber wählen ihren Metzger selber», gab ihm beispielsweise Aasbach, der alte Besitzer der Spinnerei, jovial lachend zu verstehen. In Grundfragen war man sich sehr schnell einig. Es galt, den aufkommenden gottlosen und international organisierten Sozialismus zu bekämpfen. Zwar hatte man hier auf dem Lande in dieser Sache noch keine allzu grossen Sorgen, aber das konnte sich sehr schnell ändern, vor allem, wenn man den Leuten die falschen Inhalte vermittelte.

      Einerseits fühlte sich der Lehrer, Redaktor und Doktor Müller den radikal liberalen und demokratischen Grundsätzen der Schweizerischen Bundesverfassung verpflichtet. Andererseits zweifelte er am Sinn von allzu viel direkter Demokratie für das ungebildete Volk. Hin und wieder waren klare Entscheide nötig, und dazu bedürfte es einer starken Hand. Das zeigten ihm die Erfahrungen der jüngsten Geschichte in ganz Europa. Zudem galt es für die kleine Schweiz, sich auf die richtigen Partner auszurichten. So wurde Müllers Ansicht nach im ganzen Land der Aufstieg des deutschen Reiches mit seinem Kaiser zu wenig beachtet und vor allem zu wenig wohlwollend gewürdigt. Durch den Krieg von 1871 fanden sich die zuvor ewig zerstrittenen Länder nördlich des Rheines zu einer unüberwindlichen Einheit und kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Kraft zusammen. Die Schweiz war seiner Meinung nach zweifellos Teil dieser Kultur und einst auch Teil des «Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation» gewesen.

      Hier aber wurde landauf und landab daran herumgenörgelt, und immer noch gab es viel zu viele Leute, die den Franzosen lobhudelten. Dabei hatten diese doch das Land einst unter Napoleon heimgesucht, alles gestohlen, was nicht niet- und nagelfest gewesen war, den Bürgern und Bauern die Vorräte weggefressen, die jungen Burschen eingezogen und nach Russland gezwungen, um sie an der Beresina in Schlamm und Kälte verrecken zu lassen. Was der Wilhelm aus Preussen tat, war nichts als eine vielleicht etwas späte, aber verdiente und somit verständliche Retourkutsche. Im verlorenen Krieg und ganz besonders in den halbverhungerten Soldaten der Bourbaki-Armee sahen die Schweizer eindrückliche Beweise für den Niedergang der «Grande Nation». Frankreich war eindeutig dabei, das Wettrennen um Macht, Reichtum und Fortschritt in Forschung, Wirtschaft und militärischer Schlagkraft auf dem Kontinent zu verlieren. Darüber konnten weder spektakuläre Weltausstellungen noch gewaltige Bauprogramme hinwegtäuschen. Nicht umsonst waren die Franzosen mit ihrem ehemaligen Erzfeind Grossbritannien die Entente eingegangen. Das war schiere Angst, und wer genauer hinsah – auch mit den Russen verbündete sich die Entente – verstand die Signale: Einmal mehr sollte das Deutsche Reich in die Zange genommen und erwürgt werden.

      Dem Doktor war auch die Heirat von Korpskommandant Wille mit einer Bismarck nicht entgangen. Das war wirklich eine nennenswerte Allianz. Kein anderer hätte vermocht, den deutschen Kaiser zu den grossen Manövern ins Appenzellerland einzuladen. Gewiss stand der Name Bismarck dabei Pate. Als Wille schliesslich General wurde, waren für Doktor Müller und seine Schweiz alle Optionen offen, und er hätte dem Carl Spitteler damals gerne eine andere Sicht der Dinge eröffnet, als dieser 1914 bei Kriegsbeginn «seinen Standpunkt» dem Parlament vortrug.

      Mit dem Krieg von 1914 hatte der «Seespiegel» seine Durststrecke überstanden. Die Leute waren neugierig auf Nachrichten von der grossen Tragödie. Allerdings musste sich die Redaktion nach der Decke strecken. Die Zeitung konnte sich zweimal die Woche – inklusive Anzeigen – höchstens vier bis sechs Seiten leisten, Letzteres meistens am Samstag. Allzu viel Platz für Müllers glühende Bekenntnisse gab es ohnehin nicht.

      Johann selbst hatte dem Weltbild seines Schwiegervaters nicht viel beizufügen. Er war nicht sehr unglücklich über die durch die Knappheit der Mittel eng gesetzten Grenzen. Der wortreiche Überschwang des gebildeten Mannes war ihm oft suspekt. Was im Dorf zählte, das hörte er immer wieder, waren Nachrichten vom Krieg und aus der Region. Die grosse Politik interessierte nur wenige, und irgendwelche Belehrungen wollte schon gar niemand lesen. Hin und wieder gelang es ihm, den Feuereifer des Herrn Doktor zu mässigen. Im Übrigen aber standen für ihn sein erhabenes Handwerk und seine Hedwig im Vordergrund. Sie setzte sich mit den Meinungen ihres Vaters durchaus auseinander, aber politisieren wollte sie nicht, das war Männersache.

      Hedwig hatte zwar die Töchterschule in der Stadt besucht, etwas über Geschichte gehört, sprach leidlich Französisch und Italienisch, hatte sehr viele erbauliche Bücher gelesen und auswendig gelernte Gedichte rezitiert. Wichtig war auch, kochen und einen Haushalt führen zu können. Natürlich wusste sie, dass die Frauen in Dänemark, Grossbritannien und offenbar auch in anderen Ländern um das Recht, an Wahlen teilzunehmen, kämpften und dass sie dieses Frauenstimmrecht da und dort gar schon erreicht hatten, aber das interessierte sie nicht weiter. Sie wollte Frau und Mutter werden und sein, und eigentlich nervten sie Auseinandersetzungen, wie sie Männer unter sich austrugen. Männer waren dabei so hart und unerbittlich, sprachen sofort von Strafmassnahmen und Krieg. Offenbar ging das nicht anders, und in einer solchen Welt wollte sie sich nicht bewegen. Die Frauen taten gut daran, sich da herauszuhalten. Das war der Konsens. Bestimmt war das Deutsche Reich etwas Grossartiges, aber sie wollte trotzdem lieber, wenigstens einmal, mit Johann nach Paris fahren. Doch daran war damals nicht zu denken. Im Mai 1912 brachte sie ihren ersten Sohn zur Welt.

      Nur wenige Wochen zuvor war die Titanic im eisigen Meer gesunken – ein schreckliches Unglück, einem deutschen Kapitän auf einem deutschen Schiff wäre das bestimmt nicht passiert! Der britische imperialistische Grössenwahn, verbunden mit überheblich schnoddriger Oberflächlichkeit, hatte da eindeutig überbordet, und das Unglück war gewiss auch ein Zeichen Gottes. Hedwigs Vater hatte dem Unglück in der Zeitung viel Platz eingeräumt, die Katastrophe in einem Leitartikel ausführlich kommentiert und sich dabei auch mit politischen Aspekten der Sache auseinandergesetzt. Der junge, erst seit wenigen Monaten amtierende Pfarrer Grob ging zu Pfingsten nicht nur auf der Kanzel, sondern auch mit seiner Pfingstbetrachtung im «Seespiegel» auf die göttliche Fügung der Tragödie ein. «Einmal mehr hat menschliche Überheblichkeit den Himmel herausgefordert und Gott hat diese Anmassung mit Kraft zurückgewiesen, ein Zeichen, eine Warnung gesetzt als deutliches Menetekel für die Sehenden …»

      Nein,