Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
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liess er sich von Ilses Begeisterung anstecken. Er freute sich auch jetzt auf ihren Besuch. Sie hatte ihr Abitur gemacht und studierte inzwischen deutsche Geschichte. Nach Hitlers Machtübernahme hatte sie begonnen, neben ihrem Studium für eine deutsche Lokalzeitung als «Berichterstatterin» zu schreiben und überzeugte mit Beiträgen aus dem Bund deutscher Mädchen, Kommentaren und Leserbriefen. Sie galt als politisch zuverlässig.

      Vielleicht hätte sie im «Reich» bis zu seinem kläglichen Ende Karriere gemacht. 1935 heiratete sie aber Wilhelm Pfister und blieb in der Schweiz, selbstverständlich ohne ihre Ansichten zu ändern oder ihre Begeisterung aufzugeben und durchaus in der Meinung, hier eine wichtige Aufgabe für die «Bewegung» erfüllen zu können. Die beiden zogen in die freigemachte Wohnung über den Eltern. Ilse versuchte von Anfang an Einfluss auf den Inhalt im «Seespiegel» zu gewinnen. Sie wurde dabei von ihren «Freunden im Reich», aber auch von der Landesgruppe Schweiz der NSDAP reichlich mit einschlägigem Material versorgt. Sie begann, Kontakte zu knüpfen, und einmal nannte sie Gertrud Frey, die Führerin des Schweizer Ablegers vom Bund Deutscher Mädchen, ihre Freundin. Hin und wieder erhielten die Pfisters auch mehr oder weniger prominenten Besuch, der kam, «um die einstigen Volksgenossen Johann und Ilse in ihrer Arbeit zu unterstützen.» Stillschweigend wurde sie Mitglied der Frauenschaften der NSDAP Schweiz.

      Johann mochte diese Leute nicht. Einige trugen gar die Armbinde mit dem Hakenkreuz. Das ging ihm entschieden zu weit. Im Dorf begann man über die Besucher zu munkeln. Er fühlte sich in seiner Rolle ohnehin nie wirklich glücklich und begann, gegen seine Schwiegertochter Dämme zu bauen.

      Auch der Pfarrer versuchte, Ilses Ehrgeiz zu dämpfen, ohne jedoch ihre Ansichten grundsätzlich abzulehnen. Wie viele seiner Kollegen im Norden – von ein paar allerdings markanten Ausnahmen abgesehen – teilte er über weite Strecken Hitlers Ideen und glaubte an den Erfolg des Nationalsozialismus, unterliess es allerdings, seine Ansichten allzu lauthals hinauszuposaunen. Hier in der Schweiz musste man sachte zur Sache gehen. Er, der sich selbst gerne als Pastor sah und ein grosser Bewunderer Luthers war – Zwingli hielt er für so etwas wie ein Naturtalent aus dem ländlichen Toggenburg – hatte schon immer gewusst, dass sich die deutsche Nation die Demütigungen von Versailles auf die Länge nicht gefallen lassen würde. Die Rache der Franzosen würde sich irgendeinmal totlaufen, das war für ihn unausweichlich.

      Im Übrigen fanden auch Mussolinis Schwarzhemden immer wieder wohlwollenden Eingang in die Spalten des Seespiegels. Pfarrer Grob hatte grosses Verständnis für die doch sehr einschränkenden Verträge mit dem Vatikan und fand gute Worte, als an die vierzig Fröntler nach Rom pilgerten und dem Duce ihre Referenz erwiesen. Hingegen kritisierte er den grausamen Krieg in Abessinien scharf. Aus unzähligen Gesprächen mit Leuten aller Schichten seiner grossen Gemeinde wusste er, dass viele seine Ansichten zu den faschistischen Nachbarn aus ganz unterschiedlichen Gründen teilten, aber ihre Meinung, abgesehen von einigen notorischen Stammtischschnorrern, nicht hinausposaunten.

      Die Entwicklung der Abonnentenzahl gab ihm Recht. Bisher hatten nur ein paar Uneinsichtige gegen einzelne Beiträge protestiert und nur wenige unverbesserliche Sozialisten das Blatt gekündigt.

      Als im Februar 1936 der Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff in Davos durch den Juden David Frankfurter ermordet wurde, kam es zwischen Ilse und dem Pfarrer zu einer wilden Auseinandersetzung. Der Pfarrer liebte die Juden beileibe nicht, aber was Ilse in die Zeitung schreiben wollte, konnte er nicht durchlassen. Sätze wie «Das internationale Judentum hat Deutschland den Krieg erklärt» oder «die jüdischen Schächter und Meuchelmörder gehen um und vergiessen edles deutsches Blut» waren aus seiner Sicht gröbste Propagandarhetorik. Grob stellte Johann vor die Wahl, er oder sie. Ilse gab nach, einstweilen nicht aus besserer Einsicht, nur aus der Schwäche ihrer Position heraus. Sie erwartete ihr erstes Kind.

      Zudem waren sie und Wilhelm noch sehr junge Leute, sie hatten Zeit. Eines Tages würde sie zum Zug kommen, war Ilse damals überzeugt. Ausserdem bedeutete diese Auseinandersetzung bei weitem keine Wende. Nach wie vor galt alles, was sich in Deutschland tat, als Fortschritt – auch für den Pfarrer. Ilse lernte Frontisten jeden Kalibers kennen. Es gab darunter auch hohe Schweizer Offiziere, und so war sich Ilse sicher, dass sich eines Tages auch in der Schweiz ein neuer Geist durchsetzen würde.

      Auch nach 1936 gab es immer wieder Meinungsverschiedenheiten über die Inhalte der Zeitung. Die Brüder, die jetzt einer nach dem anderen von der Armee in die Pflicht genommen wurden, ertrugen immer weniger die vom Pfarrer gestützte, von Johann geduldete und von Ilse noch immer zelebrierte unüberhör- und unüberlesbare braune Deutschtümelei. Die Einstellungen und Meinungen in der Region waren bei weitem nicht so unbedarft und manipulierbar, wie der verstorbene Doktor einst geglaubt hatte, und der Einfluss, den die Angeheiratete aus dem Norden immer wieder zu nehmen versuchte, passte ihnen schon gar nicht. Andererseits wussten auch die Brüder Pfister, wie unterschiedlich – offen oder insgeheim – die Meinungen und Einstellungen selbst im Kader der Armee die Runde machten.

      In Wirklichkeit kümmerte sich die Leserschaft kaum um die politischen Entgleisungen. Der «Seespiegel» war noch immer ein mehr oder weniger harmloses Spiegelchen, das vor allem von lokalen Ereignissen lebte.

      Dennoch mahnte auch die inzwischen älter und politischer gewordene Hedwig zur Zurückhaltung. Sie war aktiv im Frauenverein, und da spürte sie weit herum kalte Ablehnung der nationalsozialistischen Ideen und massiven Widerstand gegen die in der Schweiz aktiven «Fröntler», wie sich die Sympathisanten der «grossdeutschen» Bewegung nannten oder nennen liessen. Schon zweimal hatten irgendwelche «Nachtbuben» Hakenkreuze an die Hausmauer geschmiert. Ilse war deswegen zur Polizei gegangen – und danach wütend nach Hause gekommen, weil sie sich vom Polizisten zu wenig ernst genommen fühlte. Hedwig versuchte, sie abzukühlen. Wilhelm schwieg, und seine Brüder legten ihr nahe, sich nicht aus dem Fenster zu hängen, was die jetzt sichtbar schwangere Ilse durchaus nicht verstehen wollte oder konnte.

      Unterdessen hatte sich zwischen Deutschland und der Schweiz ein eigentlicher «Pressekrieg» entwickelt. Auch bei grossen Blättern wie der Neuen Zürcher Zeitung versuchte Deutschland des Öfteren über diplomatische Kanäle auf die Haltung der Redaktion Einfluss zu nehmen oder diese in Einzelfällen gar mit erpresserischen Methoden zu manipulieren. Der Bundesrat begann, sich gegen die Wühlarbeit der deutschen Agenten und der verbündeten Fröntler zur Wehr zu setzen. Viele Kantone organisierten eine sogenannte politische Polizei. Pfarrer Grob hatte die richtigen Akzente gesetzt. Ilse war insgeheim empört. Hin und wieder erwog sie, alles stehen und liegen zu lassen, auszubrechen, nach Dresden zu fahren. Dem stand ihr Pflichtgefühl entgegen. Es galt, standhaft zu sein – aber zu wem hatte sie zu stehen? Zu Mann und Kindern? Zu Heimat, Vaterland, Führer? Manchmal wusste sie es selbst nicht mehr genau …

      Sie spürte mehr und mehr, dass sie sich wohl oder übel zurücknehmen musste. Sie hatte ohnehin anderes zu tun. 1937 kam Adolf zur Welt. Wilhelm hatte sich gegen diesen Namen zur Wehr gesetzt, aber nachgeben müssen. Ilses Eltern hatten ihn bei einem Besuch vorgeschlagen, niemand sonst hatte etwas dagegen eingewendet und es gab auch keinen einsehbaren wichtigen Grund. Es war schliesslich ein Name wie jeder andere, vielleicht ein Zeichen von Sympathie und Zeitgeist, ja, warum nicht. Noch immer glaubte Ilse an den Glanz der Sache.

      Ihre Eltern und ihre beiden Brüder kamen in ihrem Opel zur Taufe angefahren. Sie waren des Lobes voll für alles, was im Reich geschah. Ein Bollwerk der Zivilisation war im Entstehen oder gar schon entstanden, gegen den Bolschewismus in Russland oder in Spanien beispielsweise, gegen das unersättliche Judentum, gegen die mehr und mehr entartete Kunst, für die Zukunft der überlegenen deutschen Rasse und Kultur, zu der sich auf lange Sicht unausweichlich nicht nur Österreich, sondern auch die deutschsprachige Schweiz bekennen würde.

      Ilse ahnte damals 1937 nicht, dass sie ihre Eltern nie mehr sehen würde.

      Die Legion Condor wütete in Spanien, und 1938 verkündete der Führer in Wien den Anschluss Österreichs. Als der kleine Adolf zwei Jahre alt war, überfiel die Wehrmacht Polen.

      1941 kam Alexander zur Welt. Johann hatte den Namen vorgeschlagen und Ilse war begeistert, schliesslich war Alexander ein grosser Heerführer gewesen. Nach dem Krieg würde man Alexander bloss noch Alex nennen, natürlich nicht aus Verlegenheit, Alex war einfach praktischer. Aber Wolfgang und Traugott witzelten: «Wilhelm,