Nur einmal hatte sein Vater erzählt, er hätte als Kind Geige zu spielen gelernt. Doch ohne Musiklehrer oder -lehrerin komme man damit auf keinen grünen Zweig. Instrument und Stunden seien sehr teuer, und so sei es eben sehr vorteilhaft, im Verein ein Instrument zu lernen.
Waldemar und Rös
Während in der Spinnerei und der Stümperei – so nannte Rolfs Vater bei guter Laune die Stumpen- oder Zigarrenfabrik – sehr viele Frauen arbeiteten, bot das Walzwerk vielen, vor allem ungelernten Männern, Schwerarbeit. Im Werk konnten die unterschiedlichsten Metalle, sogar Aluminium, zu Blech, und Letzteres gar zu Stanniol gewalzt werden. In den Jahren nach dem Krieg war das Werk stark gewachsen. 1953 war eine neue Halle mit riesigen Maschinen in Betrieb genommen worden. Waldemar konnte sich damals mit seinem Vater alles aus der Nähe ansehen, und Gerard, sein Schulfreund und Sohn des Besitzers und Direktors, zeigte ihm dessen Büro.
In grossen Öfen wurden die Barren oder vorgewalzten Rohlinge erhitzt, bevor die Männer hinter ihren hitzedämmenden Masken und Mänteln die glühenden Stücke mit überlangen Zangen auf Rolltischen zwischen die Walzen brachten. Die Arbeit an den mehr als mannshohen Maschinen war des Gewichts der Werkstücke, der grossen Hitze und der schlechten Luft wegen sehr beschwerlich und ungesund. Zudem löschten viele ihren grossen Durst nicht nur mit Wasser. Zwar war das Trinken von Bier oder vergorenem Most während der Arbeit streng verboten, aber die Mär, Bier lösche den Durst am besten, war weit verbreitet, und so glaubten Einzelne, die es nicht lassen konnten, eine gute Ausrede zu haben. Hin und wieder müsse sein Vater durchgreifen, sagte Gerard dazu.
Während der Kriegsjahre, als Rohstoffe ausserordentlich rar wurden, sodass die Walzen kaum je voll genutzt werden konnten und gar über Monate still standen, wurde das Unternehmen vorübergehend zur Sammelstelle für Abfälle und Altmaterial aus Eisen, Stahl und Buntmetallen. Die Mehrzahl der Männer diente ohnehin mindestens zeitweise in der Armee. In einer Halle produzierten damals vorwiegend Frauen Halbfabrikate zur weiteren Verarbeitung und Herstellung von Waffen und Munition – in der Regel als Schichtarbeiterinnen mit sehr kleinen Löhnen. Das Vaterland brauchte jetzt eben auch hier opferbereite Mütter.
Als nach dem Krieg wieder jede Menge Rohmaterial verfügbar und dank des starken Franken gar zu tiefen Preisen erhältlich war, konnte das Werk seine ursprüngliche Produktion wieder aufnehmen. Die Männer übernahmen ihre alten Rollen und walzten in grosser Hitze ihr gewohntes Blech …
Die Nachfrage war gross, selbst aus dem zerbombten Ausland kamen mehr und mehr Bestellungen. Von dort her kamen auch Arbeiter – Fremdarbeiter nannte man sie – vorwiegend Italiener, aber auch Österreicher und Deutsche. Die Firma liess für sie Baracken aufstellen und richtete eine Kantine ein. Innerhalb der ersten zehn Jahre wurde das Werk zweimal erheblich erweitert und die Produktion mittels durchgehender Schichtarbeit von Montagfrüh bis Samstag spät vervielfacht.
Einige der geübten und qualifizierten Einheimischen wurden Vorarbeiter und Schichtführer. Einer davon war Karl Gretler, der Vater von Yvonne und den Brüdern Waldemar, Robert und Heinz. Während der Kriegsjahre trennte auch seine Frau Martha in der Walzi tage- und wochenlang Altmetalle, selbst als Schwangere. Die Oma hütete den schon geborenen Waldemar. Die beiden Eltern legten jeden entbehrlichen Rappen auf die hohe Kante. So konnten sie sich zu Beginn der 50er Jahre dank einer Kapitalhilfe der Firma und mit der kleinen Erbschaft nach dem Tod von Marthas Eltern ein neues Reihenhäuschen mit Gemüsegarten in einer Arbeitersiedlung kaufen. Im bescheidenen Haus gab es zwar kein eigentliches Badzimmer, aber eine kleine Waschküche mit Badewanne und einer wassergetriebenen, Wäsche schonenden Schleuder. Besonders Letztere galt als ausserordentlicher Luxus, ersetzte sie doch das Kräfte zehrende Auswinden der grossen Leintücher und Anzüge.
Anfänglich wunderten sich die Leute im Dorf, warum Martha als Verheiratete Arbeit in der Fabrik angenommen hatte. Marthas Eltern besassen eine kleine Metzgerei, für die der Vater landauf und landab als Störmetzger und die Tochter vor ihrer Hochzeit als Verkäuferin gewirkt hatte. Niemand wusste, dass Karl Gretler schon früh ein ausserordentlich eifersüchtiger Mann war. Er selbst hatte seine Martha im Laden ihrer Eltern gefreit, hin und wieder eine Wurst gekauft und ihr schöne Augen gemacht, wie man damals sagte – sie war darauf eingegangen und hatte ihn zuletzt geheiratet. Doch die gelegentlichen männlichen Kunden waren ihm ein Dorn im Auge. Seine Fantasie reichte aus, um ihr die Arbeit in der Metzgerei zu vergällen und ihr in seiner Fabrik Arbeit zu suchen, um sie ständig im Auge behalten zu können. Natürlich wusste er nichts von seinem wirklichen Motiv, so hätten sie einfach mehr voneinander, meinte er, und es sei auch im Alltag sehr praktisch.
Mit seiner Eifersucht soll er sie ihr Leben lang mit Verdächtigungen, Unterschiebungen und auch Schlägen drangsaliert haben, erzählte ihre Tochter Yvonne später. Doch Martha beklagte sich nicht, auch nicht bei ihren Eltern. Ihr Vater hätte vermutlich ihr die Schuld gegeben oder ihr mindestens Vorwürfe gemacht.
Andererseits versuchte Karl immer wieder, sich zurückzunehmen und seinem Wahn oder was immer es war, nicht einfach nachzugeben. Immerhin waren Marthas Eltern, wenn auch nicht wirklich vermögend, so doch Gewerbler mit etwas Hintergrund. Und sie waren schon ziemlich alt, Martha eine Nachzüglerin. Irgendwann einmal würde ihr nicht gerade grossartiges Erbe beiden doch das Leben erleichtern.
Karl Gretler hatte das richtig gesehen. Nach dem Tod von Marthas Eltern beschloss die Erbgemeinschaft, in der selbstverständlich die Männer der insgesamt vier Schwestern das Sagen hatten, das Haus zu verkaufen und das Geld zu verteilen. Die Teile reichten für jede Seite als Anzahlung für ein eigenes kleines Häuschen. Den Knatsch um die Verteilung von Möbeln, Geschirr und Wäsche überliessen die Männer den Frauen, denen prompt die Feilscherei über Lein- und Tischtücher, Bettstätten und Matratzen zu lautstarken Auseinandersetzungen geriet. Die Leute lebten noch immer in einer Zeit des Mangels.
Beim Umzug ins neue Haus war Waldemar bereits 13 Jahre alt. Bisher hatte er in einer kleinen Hütte im Schrebergarten Kaninchen gehalten und die gemästeten Tiere jeweils vor Weihnachten zu verkaufen versucht. Schon immer sammelte er auf der Strasse Rossmist als Dünger für den Gemüsegarten. Er war ein fleissiger Junge und besuchte die Sekundarschule. Trotzdem hielt Karl nicht allzu viel von ihm. Die Quälereien waren offensichtlich: Hänseleien kleinster Irrtümer wegen, Ohrfeigen für Nichtigkeiten, Vorwürfe nach Schwierigkeiten in der Schule, Entzug von kleinen Vergnügungen oder gar Mahlzeiten für Verspätungen oder bloss wegen schmutziger Schuhe. Dann jeweils nannte der Vater Waldemar «Waldi», seinen Dackel, und da war kein bisschen Spass dabei, sondern blanker Hohn. Nie hatten seine Geschwister ähnlich zu leiden, Yvonne schon gar nicht. Martha konnte die Vorgänge nachfühlen und ihren Ältesten hin und wieder in Schutz nehmen, aber das war nicht wirklich wirksam. Waldemar schämte sich eher darüber.
Mit 13, mit dem Umzug ins neue Haus, kamen für Waldemar die Jahre, in denen er sein Elend wahrzunehmen begann und darunter entsetzlich litt, vor allem nachts. Und das änderte sich nie, nie. Und nie wurde daraus Wut und Auflehnung, sondern immer nur Trauer über sein Unvermögen, seine Ungeschicktheit, sein lautes Atmen, seine langsame Art zu reden und seine Sehnsucht nach Zuneigung, vielleicht nach Liebe.
Sein einziger Trost war seine Freundschaft mit Gerard Fürst. Die Fürsts waren nicht nur Walzwerkbesitzer, sie lasen auch Bücher, machten Musik und gingen in die Stadt ins Theater. Seit der ersten Klasse sassen die beiden Buben in der gleichen Schulbank. Zugegeben, Waldemar fühlte, wie viel weiter und schneller Gerard in allen Fächern war. Gerard konnte schon früh Klavier spielen und sprach fliessend Englisch. Seine Mutter war Amerikanerin – mit einer grossen Begeisterung für Frankreich. Immer wieder lud Gerard ihn zu sich nach Hause ein, in das grosse Haus über dem See, um mit ihm zu spielen. Gerard hatte jede Menge Spielsachen, ganze Armeen von Zinnsoldaten