Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
Скачать книгу
war ihr durchaus sympathisch. Im Sommer taufte er ihren ersten Sohn auf den Namen Wilhelm, Hedwig hatte überhaupt nichts dagegen und ihr Vater, der Doktor Grossvater, wollte trotz seines Alters um jeden Preis Pate sein. Er sah sich letztlich als Gründer einer geschichtsträchtigen Zeitungsdynastie. Schade, meinte er bei Gelegenheit, dass Hedwigs Mutter, seine Frau, das nicht mehr erleben durfte. Sie war schon vor Jahren an Diphtherie gestorben.

      Der «Pastor», wie sich Pfarrer Grob seit seiner Zeit in Dresden unter Freunden gerne nennen liess, und Hedwigs Vater teilten viele Werte. Beide waren nicht sehr glücklich über die stete Zuwanderung von Arbeitern und ihren ganzen Familien aus den Armenstuben des Landes, aus dem katholischen Hinterland wie dem Fricktal oder dem Freiamt beispielsweise. Bald schon war die katholische Diaspora in der Lage, eine eigene Kirche zu bauen. Ein im Tabakhandel reich gewordener Kaufmann hatte vor seinem Tod mit einem grossen Stück Land und einer nicht weniger grosszügigen Spende nachgeholfen. Seither hatte sich aus der Kirchgemeinde heraus gar eine Zelle der katholisch konservativen Partei gebildet, die sich mit fast jedem Zugezogenen vergrösserte und jedenfalls laufend an Einfluss gewann – nicht zuletzt wohl mit Unterstützung und Geldern der grossen Schwestern in den katholischen Kantonen.

      Aber auch Österreicher aus dem Vorarlberg und dem Tirol oder Deutsche aus Bayern und Schwaben suchten hier Arbeit als Tagelöhner, Fabrikarbeiter und als Handwerker. Handwerker kamen oft als Wanderburschen, lachten sich ein Mädchen an und blieben. Schon jeder Zehnte im Land war zumeist ein katholischer Ausländer. Fast alle neuen Einwohner waren zweifellos fleissig und tüchtig, manche gründeten gar ein eigenes Geschäft. Diese Krämer und Handwerker konnten mit der Solidarität der Römisch-Gläubigen rechnen.

      Pfarrer und Redaktor waren sich einig, dass die Unterwanderung durch papsthörige Katholiken politisch brisant werden könnte. Alles hatte man getan, um den Einfluss der Papstkirche auszubremsen, den Sonderbund zerschlagen, die Klöster geschlossen und die Jesuiten verjagt. Auf keinen Fall durfte man diese Errungenschaften wieder aufs Spiel setzen oder gar preisgeben. Sie störten sich keinen Augenblick daran, dass Johann Pfister ein Pfälzer, ein Deutscher war, ein Lutheraner, ein Protestant halt. Das war nicht dasselbe.

      Doktor Melchior Müller freute sich über den jungen Pfarrer. Beide waren sie ein bisschen traurig, als 1918 sowohl das Reich von Wilhelm II. als auch das Reich unter Karl I., dem österreichischen Thronfolger von Franz-Joseph, zusammenbrach – obwohl sich Karl I. als überaus zeugungsfreudiger katholischer Eiferer gebärdet hatte. Einig waren sie sich auch in der Beurteilung der russischen Revolution und wie gefährlich die Entwicklung in der Schweiz sei. Da musste man eisern zupacken. Auch Johann war davon überzeugt. Zweimal pro Woche war darüber im «Seespiegel» ausführlich zu lesen. Natürlich war die weit verbreitete Armut der Faulenzer und Habenichtse oder gar der Hunger der Arbeiter ein böses Übel und somit vor allem eine Herausforderung für die christliche Nächstenliebe, aber ganz bestimmt kein Grund für Unbotmässigkeit, Aufruhr und Streik.

      Es galt, die Not vor allem durch Arbeit zu lindern. «Nur Arbeit macht frei», rief er einmal von der Kanzel.

      Als der Doktor gegen 70 ging, drängte er den Pfarrer, die Redaktion des Blattes zu übernehmen, nur so könne es im bisherigen Geiste weiterleben. Pfarrer Grob wollte um keinen Preis darauf einsteigen. Er werde, wenn Johann das zulasse, die Arbeit anonym begleiten, aber es sei wichtig, dass Johann für die Zeitung einstehe und der Pfarrer im Hintergrund bleibe. Der Doktor sah die Schwierigkeit des Jüngeren und behielt seinerseits das Blatt auch durch seine letzten Lebensjahre im Auge. Johann bewältigte die inzwischen doch sehr alltäglich gewordene Arbeit mit Gelassenheit, liess sich von Pfarrer Grob in schwierigen Fragen gerne führen und akzeptierte auch die gelegentlich etwas überzogenen Voten des alternden Doktors, der 1934 beinahe 80-jährig, starb. Das Blatt wandelte sich in diesen frühen 30er Jahren mehr und mehr zu einem recht beliebten, moderaten Spiegel lokaler Angelegenheiten.

      Durch die Erbschaft aus Doktor Müllers Nachlass und mit Hilfe der Regionalbank wurde es Johann Pfister möglich, die gestreuten «Seespiegel»-Aktien aufzukaufen, zumal einige seiner Kunden und Aktionäre über Jahre eine schwierige Konjunktur erlebt und diese Aktien in solch schwierigen Zeiten nie nennenswerte Dividenden abgeworfen hatten, sodass die meisten Inhaber mehr oder weniger froh waren, sie loszuwerden. Damit wurde aus Druckerei und Zeitungsverlag «Seespiegel» ein richtiges Familienunternehmen.

      Johann verordnete jetzt den Mitarbeitern seiner Firma unermüdlichen Fleiss und einen harten Sparkurs. Er entliess Leute, nicht nur, weil weniger Aufträge da waren, sondern weil jetzt auch Wilhelms jüngere Brüder Wolfgang und Traugott im Betrieb arbeiteten. Für sich selbst, für Hedwig und ihre Söhne gab es Feierabend immer erst nach getaner Arbeit.

      Inzwischen entwickelten sich die neuen Industrien im Tal mehr und mehr zu Johanns besten Kunden – allen voran die Zigarrenmacher. Sie liessen zunehmend Unmengen Plakate und Verpackungen drucken. Johann stellte trotzdem nicht mehr Leute ein, sondern kaufte neue Maschinen und ersetzte den Setzkasten für die Zeitung durch eine moderne Linotype.

      Nein, davon hatte Ilse 1963 nichts in den Nachruf für ihren Schwiegervater Johann geschrieben, und der inzwischen auch sehr gealterte, vor wenigen Jahren zurückgetretene Pfarrer Grob mochte sich nicht an all diese Geschichten erinnern. Gewiss liess sich Pfarrer Grob nicht mehr so leicht auf die unerfindlichen Urteile göttlicher Gerechtigkeit und andere Spitzfindigkeiten ein, schon gar nicht auf die beiden Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg, als Mussolini und Hitler ihre Bewegungen gründeten und die Menschen mit Sprüchen, Liedern, Fahnen und Knüppeln durch die Strassen ziehen liessen, um zuletzt in ihren Ländern an die Macht zu kommen. Mit keinem Wort erinnerten sie sich gegenseitig an ihre Kommentare zum grausamen spanischen Bürgerkrieg, als die deutsche «Legion Condor» Guernica bombardierte und dem Generalissimus Franco in den Sattel half. Das alles waren inzwischen auch für Ilse eher peinliche Erinnerungen.

      Ilse war ein deutsches Mädchen. Aus einer gewissen einstweilen verhaltenen Sympathie zur Bewegung im Norden, jedenfalls ermuntert durch Pfarrer Grob, der vielfältige Kontakte mit deutschen Pastoren unterhielt, hatten Johann und Hedwig um 1930 die damals 16-jährige Ilse aus Dresden eingeladen, ein paar Sommerferienwochen als ihr Gast in der Schweiz zu verbringen. Das Mädchen war eine begeisterte Anhängerin von Hitlers Ideen und machte daraus bei den Pfisters keinen Hehl. Sie vermochte auch den zwei Jahre älteren Wilhelm sowie seine beiden jüngeren Brüder mehr oder weniger für Notwendigkeit und Kraft des kämpferischen Nationalsozialismus zu interessieren. Sie versuchte ab und zu sogar, Johann «heim ins Reich zu holen». Immerhin war Johann ja einst als Deutscher ins Land gekommen und schwäbelte noch immer unüberhörbar. Aber gerade der Gegensatz zur geschliffenen Sprache der jungen Dresdnerin machte den einstigen Pfälzer vorsichtig. Er mochte sie gleichwohl, junge Leute waren halt immer etwas übereifrig. Ilse kam in der Folge jeden Sommer, und jeden Sommer gab es mehr zu erzählen über Führer und Vaterland.

      In dieser Zeit, genauer 1932, machte Wilhelm seinen Militärdienst im Welschland. Trotz seiner Herkunft, von der ihm zeitlebens eine verständliche Sympathie für alles Deutsche blieb, hatte Vater Johann in der Schweiz so früh wie nur möglich die Einbürgerung für sich und seine Söhne beantragt und dafür auch recht viel Geld bezahlt. Es gab daher – und weil er sich wie ein guter Schweizer gebärdete – im Dorf nicht den geringsten Widerstand.

      Wilhelm, den jungen Infanteristen, machten die Wochen im französischen Teil der Schweiz nachdenklich. Die Romands lehnten den neuen Geist in Deutschland vehement ab. Vor allem die Offiziere hatten für alles, was irgendwie deutsch tönte, nichts als Hohn und Spott. Für sie waren die Nazis in erster Linie Revanchisten, die sich mit dem verlorenen Weltkrieg nicht abfinden konnten. Was sich da manifestierte, richtete sich gegen die Errungenschaften der französischen Revolution, gegen Freiheit und Demokratie, gegen die Gleichheit vor dem Gesetz und so weiter. Wilhelm war überrascht vom energischen Patriotismus der welschen Camarades. Diese Jungen entsprachen in weiten Teilen nicht dem Klischee, das er aus der Deutschschweiz mitgebracht hatte. Da war nichts von oberflächlichem «laisser aller, laisser faire».

      Er wusste nicht, dass die kaiserlich deutsche Kriegspropagandamaschine mit all ihren Helfern und Trägern – dazu gehörten gewollt oder ungewollt auch grosse Teile der schreibenden Intellektuellen – den ganzen deutschen Sprachraum mit beleidigenden Inhalten gegen Frankreich und die Franzosen vergiftet hatten. Natürlich gifteten und schmähten