Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
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und Ilse, als Schweizer Ärzte zwar unter dem Schutz des Roten Kreuzes, aber vermittelt durch den Nazisympathisanten Bircher in Smolensk deutsche Landser operieren sollten. Ilse wollte über die Aktion als «kameradschaftliche Hilfe für schwergeprüfte Soldaten» berichten. Die Brüder versuchten es zu verhindern, ihrer Ansicht nach sollte überhaupt nichts darüber erscheinen. Ilse wollte oder konnte nicht verstehen, wie ein Land in diesen grossen Zeiten unbeteiligt blieb. Sie selbst reiste nach Bern, um «die Helden zu verabschieden». Publiziert wurde schliesslich eine zurückhaltendere Lösung.

      Niemand konnte ahnen, dass die missbrauchten Schweizer Ärzte in Smolensk Zeugen brutaler Massenhinrichtungen werden würden. Nach ihrer Rückkehr versuchten die politisch Verantwortlichen, den Fall unter den Teppich zu kehren, was beinahe gelungen wäre. Für die Medien gab es jedenfalls eine strikte Nachrichtensperre, an die sich auch der «Seespiegel» halten musste. Im Übrigen blieb der grausame Krieg Hauptthema in den wenigen Auslandsspalten. Nicht so richtig passen wollten zum Fall von Stalingrad allerdings die Berichte über Fest und Pomp der Reichsdeutschen Jugend 1942 in Zürich mit beinahe 3000 Teilnehmern und über das deutsche Erntedankfest im Herbst danach. Aber noch war nichts entschieden, glaubten die meisten Leser.

      Allmählich wurde aus dem vormals «kaiserlichen» und später mehr oder weniger deutlich «braun» gefärbten «Seespiegel» zwischen 1942 und der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 ein zwar latent deutschfreundliches, aber aus der Sicht der Leser doch eher abwartendes und im Grossen und Ganzen politisch gemässigtes Blatt.

      Ilses Brüder dienten in Rommels Afrikakorps – sie fielen im Wüstensand, beide heldenhaft «für Führer und Vaterland». Die stolzen Eltern starben «nach geduldig ertragenem Leiden an einem schweren, unheilbaren Fall von Kinderlähmung», wie die mit einem Hakenkreuz verzierte und vom Oberarzt unterzeichnete Mitteilung lautete, die Ilse zwei Wochen nach dem Begräbnis der Eltern aus einer Klinik an der Nordsee erhielt. Der schöne Brief machte Ilse misstrauisch.

      Von einer Krankheit ihrer Eltern hatte Ilse nie etwas gehört. Seit Kriegsbeginn hatten sie sich kaum noch geschrieben, denn jeden Brief öffnete und las die deutsche Zensur, Telefonate – wenn überhaupt durchgeschaltet – wurden abgehört. Und jetzt plötzlich diese Hiobsbotschaft. Natürlich war Kinderlähmung eine furchtbare Seuche, die blind und rasch zuschlagen konnte. Doch nur wenige Erwachsene wurden von ihr befallen und nur sehr selten mit tödlichem Ausgang. In schlimmen Fällen blieb noch immer die eiserne Lunge, welche die armen Kranken vor dem Ersticken rettete. Ilse fragte brieflich in der Klinik und bei ihren Verwandten in Dresden nach. An eine Reise war nicht zu denken und insgeheim fürchtete sie sich davor. Die Klinik schwieg, und die Verwandten bestätigten – der Zensur zuliebe – exakt diese traurige Tatsache. Niemand wusste Genaueres – und vor allem niemand mit Sicherheit die Wahrheit. Der Tod ihrer Eltern blieb ein Geheimnis unter Millionen von Geheimnissen jener Jahre im Dritten Reich. In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, als britische Bomber Dresden vollständig zerstörten, verlor Ilse auch ihre letzten Verwandten, an die sie sich erinnern konnte.

      Im Gegensatz zu Millionen von Deutschen ahnte Ilse schon nach dem Fall von Stalingrad, dass der Krieg verloren war. Für den «Seespiegel» hatte sie das Geschehen intensiv verfolgt. Sie konnte BBC London unbehelligt hören, Ilse wusste darum, was an jeder Front geschah, auch wenn sie vom Elend selbst verschont blieb im kleinen Land der vielbelächelten Eidgenossen.

      Aber Ilse wusste nicht, dass ihre Eltern sterben mussten, weil sie heimlich feindliche Sender gehört hatten und von Nachbarn verpetzt worden waren. Aus Rücksicht auf die gefallenen Söhne, die ihr Leben für Führer und Vaterland geopfert hatten, wurden die Eltern ohne Aufhebens und Schande einfach krank. Ilse war längst nachdenklich geworden.

      Die Spannungen mit Wilhelms Brüdern liessen nach.

      Zwischen 1939 und 1945 dienten alle drei während Wochen und Monaten in der Armee. Oft sah es so aus, als ob sich Wilhelm und Wolfgang in ihrer Arbeit in der kleinen Firma abwechselten. Allerdings wurde der ehrgeizige Offizier viel häufiger aufgeboten. Wolfgang hatte es schon vor dem Krieg zum Hauptmann der Infanterie gebracht – bei Kriegsende war er Oberst. Das machte dem Johann grossen Eindruck, auf Wolfgang hörte er, wenn es ihm wichtig schien.

      Wilhelm war mit dem bescheidenen Winkel des Gefreiten zufrieden. Zu Ilses Leidwesen suchte er auch im Alltag keine grossen Rollen. Wilhelm sah sich vor allem als Meister «seiner» Druckerei. Andererseits, dachte Ilse hin und wieder, ein anderer Mann hätte sie vermutlich mehr eingeschränkt. Wilhelm war verlässlich, geduldig und irgendwie gütig. Und wenn sie schon daran dachte – Wilhelm war auch zärtlich.

      Kurz nach Kriegsende heirateten Wilhelms Brüder. Es stand fest, dass der jüngere Traugott danach ins Welschland ziehen würde. Wolfgang wollte im Unternehmen bleiben und suchte eine Wohnung. Er hatte als Einziger der drei eine Matura gemacht, danach eine Handelsschule besucht und diese mit Diplom abgeschlossen. Wolfgang führte die Buchhaltung und besorgte den übrigen Papierkram – damit hatte er neben Johann den stärksten Einfluss auf das Geschehen im Geschäft.

      Ilse und Pfarrer Grob konnten somit 1963 im Nachruf für Johann die schwierige Zeit von 1930 bis 1945 unkommentiert übergehen. Umso mehr zu schreiben und zu sagen gab es über Haus und Herd, denen Vater Johann vorstand, und die für ihn ein und alles gewesen waren. Festzuhalten war ebenso, welch tüchtige Söhne aus der Ehe mit seiner Hedwig hervorgegangen waren und wie wichtig deren Dienst fürs Vaterland in schwierigen Zeiten gewesen war. Zu Ehren kam auch Johann als Arbeitgeber. Bis zu seinem Tod war der Betrieb immer gewachsen – an die 20 Leute arbeiteten 1963 in der baulich schon längst erweiterten und modernisierten Druckerei.

      Mit der Zeitung hatte es markante Auf- und Abwärtsbewegungen gegeben, aber das änderte am erfolgreichen Gesamtbild wenig. Ilse führte die Redaktion seit dem heissen Sommer 1947 allein verantwortlich. Ihr war längst gelungen, sich schlimmstenfalls als Opfer einer bösen Versuchung darzustellen.

      Der Pfarrer litt seit dem Ende des Krieges unter Depressionen. Er war ehrlich entsetzt über die Gräuel der Nazi-Schergen im Krieg und in den Konzentrationslagern. Völlig unnötig beschuldigte er sich selbst auf der Kanzel seiner Blindheit. Damit verstörte er insbesondere einige seiner Kirchgänger und Vorgesetzten, denen Grobs braune Sympathien kaum aufgefallen waren.

      Ilse war inzwischen längst vom faschistischen Wahn geheilt, sprach jetzt ein geradezu akzentfreies Schweizerdeutsch und hatte 1946 die Tochter Erna geboren. Die drei Kinder hatten Ilse nie ernsthaft in der Zeitungsarbeit behindert. Wenn immer nötig kümmerte sich ja die inzwischen 62-jährige Hedwig um die Kleinen – und jetzt auch um «Klein Erna».

      Nach dem Krieg liess sich Ilse ausserdem von einer Haushalthilfe oder schulentlassenen Mädchen helfen. Jetzt hatte sie Zeit, sich voll dem «Seespiegel» zu widmen. Ilse sorgte für einen neuen Auftritt, beliess nur den Kopf des Blattes in der Jahrhunderte alten gotischen Schrift, wechselte hingegen in Titel und Text von der inzwischen obsolet gewordenen Fraktur zur modernen Times. Irgendwie kam ihr vor, als ob sie selbst erst jetzt – und mit ihr auch der «Seespiegel» – die letzten Spuren der furchtbaren Jahre deutscher Überheblichkeit abgelegt, abgestreift, ja abgestossen hätte. Erst jetzt war die Metamorphose vollendet. Sie reiste selbst für Abonnenten und Inserenten durchs Tal und rund um den See – meistens mit dem Rad oder per Velo, wie sie es neuerdings schweizerdeutsch nannte. Selbst ihr Schwager Wolfgang, der sich mit Ilse immer wieder angelegt hatte, begann sie zu respektieren.

      Wilhelm leitete die Druckerei im Sinne seines Vaters Johann, der sich neben Ilse vor allem und noch immer der Zeitung widmete. Sein ältester Sohn machte sich allerdings nicht allzu viele Gedanken um die Zukunft des kleinen Unternehmens. Erst als Johann starb, wurde Wilhelm bewusst, was nun wirklich auf ihn zukam.

      Wilhelm war damals schon 51, sein ältester Sohn Adolf 26, verheiratet, ausgezogen. Alex, 22, arbeitete im Betrieb, wurde Schriftsetzer und war dauernd daran sich weiterzubilden, vielleicht würde Alex einmal die Firma weiterführen. Aber Alex war schwierig, Wilhelm und Alex hatten häufig Streit. Erna dagegen hatte Talent und schaffte die Aufnahme an die Kunstgewerbeschule. Vielleicht würde sie einmal im Unternehmen den Kunden einen weiteren Dienst anbieten können.

      Da war auch noch sein Bruder Wolfgang mit dem grossen Gehalt, das an der Substanz zehrte. Die Buchhaltung könnte man durchaus