Er könne nicht glauben, was er nicht verstehe, und er habe keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben, vielleicht sei es schmerzhaft, zu erlöschen. Doch vor dem Nicht-mehr-Sein fürchte er sich nicht. Seele und ewiges Leben seien Illusionen und Erfindungen überheblicher Menschen, die nicht bereit seien, alles aufzugeben, loszulassen und in aller Bescheidenheit einfach zu gehen, auch durch die eigene Entscheidung, den eigenen Vollzug.
Alle müssten wir sterben. Sieben Milliarden Menschen lebten auf der Erde, diese sieben Milliarden würden sterben, alle kommenden Milliarden dazu – und ungezählte Milliarden seien schon gestorben. «Natürlich ist es für jeden von uns das Ende der Welt, aber eben einer kleinen Welt – und wofür diese Welten stehen? Keine Ahnung! Ich weiss auch nicht, warum tödliche Unfälle oder Verbrechen mehr Aufmerksamkeit gewinnen als der schleichende gemeine Tod Kranker oder still Eingeschlafener. Da sterben landauf und landab pro Tag zwei Leute im Auto und zweihundert im Bett, sozusagen ein tägliches Massensterben, doch niemand fordert für sie die Schlagzeile des Tages oder landesweite Trauer.»
Zudem, die Sinnfrage mache eben keinen Sinn, unsere Welt sei nur eine Welt von vielen und das Grosse fände sich im Allerkleinsten und umgekehrt. Vielleicht seien die Milchstrassen und Spiralnebel nichts anderes als Moleküle einer der anderen Welten, und der Urknall nur ein leiser Bang, ein kleines Phänomen im Sandkasten der Unendlichkeit gewesen. Er habe dieses und vieles mehr auch dem katholisch-ungarischen Spitalbruder erzählt und ihm vorgeschlagen, Feuerbach und Deschner zu lesen. Letzterer behaupte, nur die Ohnmacht des heutigen Klerus schütze dessen Gegner davor, verbrannt zu werden. Danach hätte der Geistliche ihn nicht mehr besucht, wozu auch.
Ich hatte Rolfs letztem Bekenntnis nichts beizufügen.
Susanne würde ihn am Freitagabend abholen. Im Augenblick bestehe für ihn kein Anlass, in der Klinik zu bleiben, sofern er sich zu Hause an die vorgegebenen Regeln und Medikamente halte. Er freue sich auf die Zeit zu Hause und auf die kommenden Jahre mit seiner Freundin. Am Nachmittag, als er sein Zimmer geräumt hatte, besuchte er mich.
Wir bestellten nochmals Kaffee und er übergab mir eine Anzahl CDs. Sie enthielten vieles, was er in den vergangenen Jahren zusammengeschrieben hatte. Er bat mich, mit den Inhalten diskret umzugehen. Es würde ihn freuen, wenn ich ihm bei Gelegenheit einen Kommentar oder eine Idee für die weitere Verwendung seiner Texte und Notizen machen könnte. Ich versprach ihm, dies gerne zu tun und bat um genügend Zeit. Er machte keine Einschränkung. «Vielleicht kannst du daraus einen Roman machen», lächelte er, und ich fühlte mich ausgelacht.
Dann kam Susanne. Wir nahmen Abschied wie Freunde, die sich morgen wiedersehen wollen.
Mich selbst wollte Valerie erst am Montag abholen. Sie hatte vor, das Wochenende mit Freunden in den Bergen zu verbringen. So blieb ich die beiden letzten Tage allein und ohne Besucher.
Am Samstag schob ich die eine oder andere von Rolfs CDs in meinen Laptop, las einzelne der unzusammenhängenden Texte und kopierte sie auf meine Festplatte. Auf Anhieb fand ich alles etwas wirr, ein zum Teil bizarres Durcheinander mit enormen Handlungs-, Orts- und Zeitsprüngen. Inhaltlich gab es da nicht nur Bemerkungen zu Rolfs eigener Familie, sondern auch zu seiner gescheiterten Freundschaft mit Erna und deren neuem Freund Aldo, dem jüngeren Bruder von Susanne, ja der ganzen, offenbar ausufernden Familie Amrein: eine Fülle von Ansätzen, auch zu Eifersucht und Wut …
Neben unzähligen Notizen, Kurzaufsätzen und Kommentaren las ich unzusammenhängende Aufzeichnungen zu Ilse Pfister, der offenbar umstrittenen Mutter seiner einstigen Freundin Erna. Das Ganze erschien mir als undurchdringliches Dickicht, das zu entwirren mich zu viel Aufwand kosten würde. Die Scheiben wollte ich Rolf irgendwann einmal zurückschicken oder zurückbringen und ihn ermuntern, einfach daran zu arbeiten, bis sich ein Konzept aufdränge oder aus der Sache ergebe, nahm ich mir vor.
In der Nacht zum Sonntag hatte es stark geschneit. Am Morgen zogen leichte, von einer Flut von Sonnenstrahlen durchschienene Nebelschwaden über die Juralandschaft. Die wunderbare Stimmung lockte mich in den weiss verschneiten Wald. An Wochenenden gab es keine Therapien, keine Untersuchungen, keinen Arztbesuch, keine begleiteten Wanderungen. Ich war somit zeitlich nur an die Mahlzeiten gebunden. Zum ersten Mal seit meiner Operation wagte ich es, die Klinik allein zu verlassen und durch die Gegend zu streifen. Ich stapfte im bisher unberührten Schnee durch eine märchenhafte, fantastisch sonnendurchstrahlte Welt, vorbei an weiss und silbern glitzernden Spitzen verschneiter Tannen, bergwärts zur nächsten Jurahöhe. Ich spürte zwar meinen Puls, aber da war keine Enge, mein ganzer Körper erwärmte sich angenehm und ich fühlte mich geheilt, gesund und stark. Eine tief aus dem Inneren heraufströmende Dankbarkeit machte mich weinen, und ich liess es ohne jegliche Scham zu. Auf der Höhe angekommen schaute ich ins weite Land, über die Stadt, die Wälder, die beinahe ineinander fliessenden Dörfer und hinüber auf den in der Sonne glitzernden See.
Schön strahlte das weite offene Land, das ich mit Rolf, seiner Geschichte, seinen Geschichten und seiner Welt teilte. Schön, noch immer zu leben, zu hoffen, zu lieben. In vier Wochen war Weihnachten und danach begann ein neues Jahr. Später würde ich nochmals versuchen, Rolfs etwas roh gesponnenes Garn besser zu verstehen.
Zu Weihnachten schickte ich ihm eine Karte und erhielt als Antwort etwa zehn Tage nach Neujahr eine E-Mail mit angefügten Dateien. Rolf schrieb:
Lieber Bypass-Schreiber
(Entschuldige die Anrede, aber sie erscheint mir passend.)
Herzlichen Dank für deine guten Wünsche.
Susanne und ich haben die Weihnachtstage still und allein verbracht. Hingegen hat sie am Sonntag danach ihre Cafeteria nicht geöffnet, eventuelle Gäste mit dem Schild «Wegen familiärem Anlass geschlossen» vertrieben und ihre ganze Sippe zu einem Brunch eingeladen. Sie wolle meine Rückkehr feiern, hat sie gesagt.
Alle Geladenen, mit den Kindern zusammen mehr als 20 Leute, sind gekommen.
Nun, der Tag war zwar ermüdend, aber auch beglückend und ich habe Susanne dafür gedankt. Ich glaube, auch für sie war er wichtig, ein bescheidener Anlass, um unser gemeinsames Leben zu festigen, ohne grosse Worte, ohne Versprechungen. Wir haben darüber nicht gesprochen. Zu gross sind alle meine Vorbehalte gegen feste Bindungen, obwohl sie mir vielleicht durchs ganze Leben fehlten. Durch Susanne habe ich in diesen Tagen zum ersten Mal Liebe, Familie und Heimat erlebt.
Am zweiten Januar haben meine Schwester Rös und ihre Freundin Yvonne Gretler bei mir hereingeschaut. Sie hatten zusammen Yvonnes Mutter im Pflegeheim besucht. Was die beiden Frauen von der alten Martha, über sie und aus ihrem Leben erzählten, war so überraschend und aufregend, dass ich am Tag danach, etwas beruhigt, begann, ihre Geschichten aufzuschreiben. Du findest sie unter den übrigen Dateien.
Mein lieber Freund,
Seit Neujahr geht es mir nicht sehr gut.
Die Schmerzen sind wieder da, und ich nehme dagegen starke Mittel, lebe danach während Stunden in einer Art Dämmerzustand. Ohne Sauerstoff würde ich vermutlich sehr schnell ersticken.
Ich will und werde sterben und fühle mich deswegen nicht besonders unglücklich. Ich würde für Susanne zunehmend eine unzumutbare Belastung oder eben ein Fall fürs Pflegeheim, und in kurzer Zeit wäre ich ein armer Mann.
Schliesslich sende ich Dir im Anhang neben den neuen Geschichten nochmals eine Anzahl älterer Dateien.
Bitte schicke, was ich Dir hier überlasse und zuvor überlassen habe, nicht zurück. Aus der Einsicht heraus, selbst damit nichts mehr gestalten zu können, habe ich alles gelöscht, auch das, was Erna nicht aufhörte zu suchen: Die Tagebücher ihrer Mutter und das Jammerheft ihres Bruders mit allen mütterlichen Erinnerungen und Kommentaren. Keine Ahnung, warum Erna damals nicht auf die Idee gekommen war, Ilses Festplatte