Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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war, in der Zeit, als sie mit 18 bei Mama Brand ihr Haushaltslehrjahr hinter sich gebracht hatte.

      «Haushalten können war damals neben vielem anderem eine unausweichliche Vorbereitung der Mädchen auf die späteren Pflichten», spöttelte sie, und weiter: «Wer bei den Brands putzen, kochen und betten lernte, fühlte sich bereits als etwas Besseres. Nicht alle konnten den Status halten, aber das ist Gott sei Dank passé, unglaublich, diese Veränderung! Als ich ein Mädchen war, schienen die Pflichten der Frauen in Stein gemeisselt. Allerdings hat mich das Leben von Anfang an verwöhnt.»

      Sie erzählte: «Meinen Mann, deinen Onkel Ernst, lernte ich nicht bei den Brands, sondern in Neuenburg kennen. Wir heirateten 1939 bei Kriegsausbruch, weil er zu seiner Truppe einrücken musste, er war Oberleutnant bei der Gebirgsinfanterie, worauf ich sehr stolz war. Er wurde aber bald entlassen, weil ihm sein Rücken zu schaffen machte. Ich fürchtete immer, man würde ihn in eine andere Waffengattung stecken, aber wir hatten Glück, nicht nur damals. Unser ganzes Leben war ein gutes, bisweilen wunderbares Leben, wenn man etwas so Egoistisches sagen darf. Ernst und ich machten vor allem in späteren Jahren grosse Reisen, hatten immer genügend Geld, glaubten an den Fortschritt und waren überzeugt, einmal in nicht allzu ferner Zukunft würden alle Menschen so wie wir leben können.»

      Inzwischen habe sie viel dazugelernt und wisse, wie privilegiert sie gewesen sei und wie sehr sie dadurch verwöhnt worden war. «Ich bin jeden Tag dankbar dafür und hoffe nach wie vor, dass es die Menschheit einmal schaffen wird, allen ein anständiges und würdiges Leben zu ermöglichen.»

      Damit hatte sie endgültig gezeigt, dass sie nicht die Absicht hatte, sich über ihr Schicksal zu beklagen, doch André war sich da nicht so sicher. Während sie erzählte, las er Züge in ihrem Gesicht, die auch die andere Seite dieser Frau durchblicken liessen. Ihre Lippen wirkten schmal und hart, es gab Falten, die auf eine gewisse Nachdenklichkeit, wenn nicht Bitterkeit schliessen liessen. Vieles über Helene hatte ihm seine Mutter erzählt, anderes hatte er als Junge mitbekommen.

      Als André noch ein Kleinkind gewesen war, in den ersten Jahren nach dem Krieg, hoffte Helene mit über 30 Jahren noch immer, eigene Kinder haben zu können. Sie war damals schon seit sieben Jahren mit Ernst verheiratet, lebte mit ihm in Kreuzach am Heimberg an seiner östlichen Flanke in ihrem kurz nach ihrer Hochzeit erbauten, sehr schönen und grosszügigen Haus, mit bei gutem Wetter beinahe atemberaubender Sicht auf See und Alpen. Wie Marcel Brand und seine Frau hatten sie sich den Ort, etwas weiter vom Dorf entfernt als jene, sorgfältig ausgesucht.

      Andrés Geschwister waren nach ihrer Ankunft in ihrer neuen Heimat mit Tante Helene sehr schnell vertraut geworden. Allerdings war der Weg zu ihrem Haus für Elisabeth und Konrad beschwerlich, auch später mit dem Fahrrad, welches sie bergwärts schieben mussten. Schon kurz nach dem Krieg, als die Holzvergaser endlich überlebt waren und Benzin auch für Privatleute erhältlich wurde, kauften Ernst und Helene ein amerikanisches Auto. Sie war über Jahre eine der ersten Frauen im kleinen Dorf, die einen Führerschein besassen.

      Vieles verdanke sie ihrem verstorbenen Mann, seinem Onkel Ernst, fuhr sie fort.

      «Du musst allerdings wissen, in seinen letzten Jahren war er ziemlich sauer. Er hatte sein Leben lang zu viel geraucht. Zehn Lebensjahre hat ihn das gekostet, hat er gesagt. Vermutlich ist das so, aber es gab auch andere Gründe. Er sass sein Leben lang zu viel herum, hat zu viel gearbeitet und liess sich dabei stressen. Heute weiss man, wie verheerend diese Lebensweise sein kann. Damals hat man nicht daran gedacht, sondern war froh, sich ein gutes Leben leisten zu können.»

      Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: «Jetzt lebe ich schon 25 Jahre allein. Nach Ernsts Tod habe ich mir ein neues Leben gesucht. Ich verliess das Dorf, zog ins Tessin, begann, mich für die Geschichte meiner Familie zu interessieren und landete zuletzt bei der Geschichte vom Tabak, diesem unseligen Kraut, das auf der ganzen Welt so viel Unglück verbreitet und schon immer verbreitet hat.

      In meinen ersten Jahren, in denen ich mit Ernst oben am Berg in unserem schönen Haus über dem See wohnte und ungeduldig wie vergeblich darauf hoffte, ein Kind zu haben, hatte ich unbegrenzt viel Zeit zum Lesen, Briefe schreiben, Freundinnen besuchen und zu empfangen. Doch, ich tat auch Nützlicheres, vor allem in den Kriegsjahren, ich strickte Pullover, Mützen, Handschuhe und Socken für Soldaten und minderbemittelte Familien. Viel Zeit habe ich damit verbracht, den Krieg am Radio zu verfolgen. Wir hatten einen Empfänger für Kurzwellen und ich habe Stunden unter dem Kopfhörer verbracht. Ich hörte vornehmlich die Sendungen der BBC, aber auch solche aus dem deutschen Reich, wie das damals hiess. Nach dem Krieg haben Ernst und ich durch das Rote Kreuz vermittelte Flüchtlingskinder in den Ferien aufgenommen. Sie kamen meistens für drei, vier Wochen aus Frankreich, aber auch aus Deutschland.

      In all diesen Jahren rauchte ich Zigaretten. Das war schick, aber im Dorf verpönt. Frauen rauchten nicht, vor allem nicht öffentlich. Das tat ich nur, wenn ich im Auto durchs Dorf fuhr, vielleicht als Provokation. Ich glaube, ich war damals im Dorf im Gegensatz zu Ernst nicht beliebt, aber in gewisser Weise respektiert.

      Ich fand Rauchen einfach wunderbar. Ernst sah man kaum je ohne Zigarre. Er war damals seit einiger Zeit Direktor bei den Brands, machte etwas Politik im Dorf und wurde schon bald zum Ammann gewählt. Alles war perfekt. Nur Kinder bekamen wir keine.

      Ich glaube, meine Mutter Anna, vermutlich hast du sie nicht mehr gekannt, litt darunter noch mehr als ich. Hunderte von kleinen Schreihälsen hatte sie als Hebamme an die Luft gebracht, aber ausgerechnet mir konnte sie nicht helfen.

      Kein eigenes Kind zu haben wurde für mich vor allem in den Jahren nach dem Krieg zu einer beinahe täglichen Last, die mich ab und zu auf absurde Ideen brachte. Auf meinem beinahe täglichen Marsch mit den Hunden kam ich fast ausnahmslos am Haus der Grampers mit ihren vielen Kindern vorbei, von denen ich wusste, dass sie auf die Hilfe der Gemeinde angewiesen waren. Sie waren längst nicht die einzigen. Die Familien mit den meisten Kindern waren immer die ärmsten. Ich begann zu ahnen, dass es umgekehrt war: die Ärmsten bekamen die meisten Kinder. So war es, man musste arm sein, um Kinder zu bekommen …

      Ernst lachte mich deswegen aus und meinte, er wolle nicht arm werden, um Kinder zu haben, dann lieber keine. Für eine Antwort darauf war ich noch nicht reif genug. Wir konnten einfach keine Kinder bekommen und ich bin heute überzeugt, es war sein Unvermögen. Ich wage es noch heute kaum zu sagen, weil ich ihn noch immer nicht wirklich verletzen will. Er allerdings hatte keine Skrupel, hin und wieder zu versuchen, mir die Verantwortung für unsere Kinderlosigkeit zuzuschieben. Damals war eine medizinische Klarstellung nicht möglich und er sah sich zu Recht als potenten Mann.» Letzteres sagte die beinahe 90-Jährige mit sichtlichem Vergnügen, stellte André fest.

      «Nun, wir lebten vom Tabak, wie die meisten unserer Gegend. Wer es gewagt hätte, lauthals öffentlich an dieser guten Sache zu zweifeln, wäre vermutlich in schwere Bedrängnis geraten. Im Gegensatz zu anderen lebten wir sehr gut davon. Meine Mutter war überzeugt, dass meine Raucherei mit der Kinderlosigkeit zu tun hatte. Immer wieder ermahnte sie mich, damit aufzuhören. Ich versuchte es ab und zu, halbherzig. Ich schaffte es einfach nicht. Sie starb im Hitzejahr 1947. Nach ihrem Begräbnis gab ich die Zigaretten auf. Kinder kamen trotzdem keine. Ich wurde rückfällig und gab die Zigaretten endgültig auf, als Ernst starb.

      Aber ich begann, einige Bedenken Annas zu hinterfragen und versuchte, ihren Beobachtungen nachzugehen. Immer wieder hatte sie mich an meine Taufpatin Clara Wirth erinnert, ihre gute Freundin, die einst das Elend der Kinderarbeit in der Tabakindustrie erforscht hatte und schon früh von der Schädlichkeit dieses Krautes überzeugt gewesen war.

      Ich habe Clara Wirth nur oberflächlich gekannt. Sie kam in meiner Kindheit zwei- oder dreimal zu Besuch, und als ich etwa acht Jahre alt war, verbrachte ich bei ihr in St. Gallen eine Woche Ferien. Ich glaube, sie lebte im Hause ihres Vaters. Ich kann mich an ihn nur sehr vage erinnern. Er hatte ein grosses, verrauchtes Arbeitszimmer mit viel Papier und einem Telefon auf dem Tisch. Das war für mich neu und darum habe ich es nicht vergessen. Die Wände waren voller Bücher. Ich glaube, er war nicht nur Redaktor einer Zeitung, sondern auch Theologe – ein frommer Mann jedenfalls. Clara hatte sich für mich freie Tage gemacht. Sie arbeitete als Stadtratsschreiberin, das war eine sehr wichtige Sache. Sie nahm mich mit in ihr Büro und zeigte mir ihre Schreibmaschine. In dieser Woche sah ich zum ersten