Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
Скачать книгу
stiegen bestimmt nicht auf den Säntis, ich glaube, es gab noch keine Schwebebahn zum Gipfel.»

      Sie lehnte sich ein wenig zurück und erzählte weiter:

      «Zum Geburtstag und zu Weihnachten schickte sie mir stets das gleiche Geschenk: Messer, Gabel, Löffel und einen Fünfliber, alles noch in echtem Silber. Später kam Fisch-, Dessert- und Schöpfbesteck dazu. Das alles muss sie damals ein kleines Vermögen gekostet haben. Heute lächelt man darüber, die Menschen haben eben keine Ahnung mehr, wie kostbar diese Dinge waren. Beinahe habe ich es vergessen: Sie schickte mir auch immer wieder Bücher mit einer persönlichen Widmung und einer Zeichnung auf der ersten Seite.

      Das Meiste über sie hat mir allerdings meine Mutter erzählt. Anna und Clara waren Freundinnen, sie wurden es während der beiden Jahre, in denen Clara im Schmauchtal für ihre Doktorarbeit recherchierte.

      Clara hatte auf meine Mutter enormen Einfluss. Durch sie kam meine Mutter während des Ersten Weltkriegs zum Roten Kreuz und wurde danach Hebamme. Clara stand im Verdacht, eine verkappte Sozialistin zu sein. Dank ihres bekannten Vaters hatte aber niemand den Mut, sie frontal anzugreifen. Sie war offenbar unbestechlich und stellte mit ihrer Arbeit die aus ihrer Sicht Schuldigen an der Not der kleinen Leute, nicht nur in der Tabakindustrie, sondern auch in der Textilindustrie an den Pranger.

      Nach meiner Heirat mit Ernst zu Beginn des grossen Krieges wandte sich Anna in Achstadt vor allem den ärmeren Leute, der sogenannten Unterstadt zu. Es gab Dutzende kinderreicher Familien, die Hunger litten, deren Väter irgendwo in den Bergen ihren Dienst taten, deren Frauen keine Arbeit fanden und viele der überforderten Mütter erwarteten ein weiteres hungriges Maul, während in der oberen Stadt begüterte Bürger kostspielige Feiern zum Jubiläum der 650-jährigen Eidgenossenschaft planten. Im gemeinnützigen Frauenverein schlug Anna ein Protesttheater vor, das dieses Elend zum Thema haben sollte.

      Sie verrannte sich in die fixe Idee und begann, Hefte mit Notizen und Szenen für ein Theaterstück zu füllen, wohl wissend, dass sie damit keine Chance hatte. Sie wollte sich ihre Wut und die Trauer über die Verhältnisse, an die sie sich aus ihrer Jugend erinnerte und die sie in ihrer Arbeit täglich mit ansehen musste, von der Seele schreiben. Sie verfasste zuletzt ein Drama, das selbstverständlich niemand aufführen wollte, schon gar nicht zum grossen Fest der Eidgenossenschaft.

      Als meine Mutter starb, wollte ich ihre Hefte wegwerfen. Ich begann jedoch aus einer gewissen Neugier, darin zu lesen. Zusammen mit Claras Dissertation aus dem Jahre 1912 begann ich zu verstehen, wie verzweifelt viele kleine Leute, nicht nur in ferner Vergangenheit, sondern während und am Ende des Zweiten Weltkrieges um ihr tägliches Brot ringen mussten. Diese erbärmliche Wirklichkeit war mir zuvor nie nahegekommen. Zwar hatte mich meine Mutter nie verwöhnt und wir lebten im Vergleich zu meinem Leben mit Ernst bescheiden. Anna verfügte als Hebamme nur über ein kleines Einkommen, aber sie konnte mir stets das Gefühl vermitteln, wir gehörten zu den Leuten, denen es gut geht. Ich lebte in der Idee, alle Menschen würden in ähnlichen Verhältnissen leben, nur mit dem Unterschied, dass die andern Mädchen einen Vater hatten und meine Mutter arbeiten musste.

      Nach allem, was ich aus den Heften meiner Mutter gelesen hatte und von ihren Erzählungen her kannte, liessen mir die Schatten dieser Branche, die Clara Wirth minutiös recherchiert hatte, keine Ruhe. Da gab es Dutzende vermögender Familien, die sich am Elend geplagter Menschen bereichert und es gab unzählige Väter und Mütter, die während rund 100 Jahren die eigenen Kinder ausgebeutet hatten.

      Durch Annas Erinnerungen und Notizen kannte ich sehr viele dieser Leute auf beiden Seiten. Vor ein Gericht müsste man sie alle schleppen, schrieb Anna, ihnen vorführen, was sie gefördert hatten oder unwidersprochen geschehen liessen, und sie dafür bestrafen.

      Beim Lesen begann ich, mir dieses Gericht vorzustellen, die toten und auch die noch lebenden einstigen Kinder als Opfer, die Fabrikherren, Behörden und Pfaffen als Täter und die irregeleiteten Väter und Mütter als Mitschuldige. Ich begann, an Annas Garn weiterzuspinnen, hielt mich an ihre Schlüsselaussagen und schrieb Szenen.

      Anna war überzeugt: Solange die Männer allein das Sagen hätten, würde sich in der Gesellschaft nichts wirklich ändern. Männer wollten immer herrschen, unterdrücken, alles mit Gewalt erzwingen. Darum waren Kinderheime keine Heime, sondern Zuchtanstalten. Männer wollten Kinder zum Gehorsam und zu guten Menschen prügeln, verlassene Kinder für die Fehler der Eltern bestrafen. So war das durch alle Jahrhunderte geschehen und es würde sich nicht ändern, solange sie die Macht dazu hätten. Meine Mutter war eine feurige Anhängerin von Iris Rothen und trat für die Rechte der Frauen überall und jederzeit ein. Männer, die das wussten, versuchten mit allen Mitteln zu verhindern, dass meine Mutter ihren Frauen half, ihr Kind zu entbinden.

      Ich war sehr traurig, als sie starb, und versuchte, zu ihrem Andenken weiter zu schreiben. Ernst lachte mich aus und ich fühlte selbst, dass dies aussichtslos war. Eines Tages erzählte er mir von einem Projekt des Tausendsassas Alois Stramm, der an einem «Familienabend» seine Partei feiern und mit ein paar Szenen die Vergangenheit des Dorfes in den letzten hundert Jahren auf die Dorfbühne bringen wollte. Ernst lud ihn mit seiner jüngst angetrauten Frau zum Essen ein, und wir unterhielten uns über seine Pläne. Ich glaubte, er sei wirklich interessiert an einem ehrlichen zeitkritischen Spiegel der Vergangenheit. Er war begeistert und ich machte mich daran, einige Szenen aus meinem Fundus vorzustellen. Das war bodenlos dumm von mir gewesen, wie ich später leider einsehen musste.

      Alois wollte eine fröhliche Vergangenheit mit der Aussicht auf eine rosige Zukunft auf die Dorfbühne bringen. Ich aber wollte in einem ersten Akt arme ausgebeutete Kinder, miserable Väter, feige Mütter, stumpfe Aufseher, gierige Fabrikanten, einen korrupten Gemeindeschreiber und einen bigotten Pfaffen vor einem Gericht auftreten lassen. In einem zweiten Bild sollten die Menschen der Zukunft idealistisch und gemeinsam eine bessere Welt schaffen, in der es allen besser ginge.

      Keinen Augenblick wäre mir eingefallen, ich hätte sozialistische Thesen übernommen. Aber so kam es bei Alois Stramm an. Ernst gelang es dann, die Situation zu entspannen und mich sozusagen freizureden. Das war mir zwar peinlich, aber ich sah selbst meine aussichtslose Lage ein. Wir durften nicht verteufeln, was uns unser Leben erst ermöglichte. Ernst meinte: ‹Du bist nicht Robin Hood.› Rückblickend erscheint das alles so lächerlich, aber damals fühlte ich mich sehr gedemütigt.

      Seither habe ich nichts mehr geschrieben. Als Elsa zu uns kam, war ich an all diesen Themen kaum mehr interessiert. Ich habe aber alles aufbewahrt, Claras Dissertation und die Hefte meiner Mutter, ihr Bühnenspiel und mein eigenes Zugemüse. Oft habe ich mir vorgenommen, mich davon zu trennen und brachte es doch nicht über mich, weil ich durch die Schreiberei zu einem neuen Ich gefunden habe. Ich war ja so naiv und gleichzeitig überheblich! Meine Mutter hatte sich wirklich immer um einfache Leute gekümmert, aber sie tat es von oben nach unten. Von ihr habe ich gelernt, zu jenen zu gehören, die Ratschläge erteilen, Anweisungen geben, keinen Widerspruch dulden. Ich hatte das übersehen und gewöhnte mich sehr schnell in meinem behaglichen Alltag mit Ernst an das gute, etwas abgehobene Leben der sogenannten besseren Leute. Für mich wurde es selbstverständlich, dies nicht nur anzunehmen, sondern auch zu geniessen.

      Das ging weit über das Gewöhnliche hinaus. Nach dem Krieg leistete ich mir Haushaltshilfen, Mädchen aus dem Elsass, aus dem Schwarzwald, Vorarlberg und Südtirol. Ich hatte gar das Gefühl, damit Gutes zu tun, sie lernten, einen vornehmen Haushalt zu führen, bekamen ihr Essen und etwas Taschengeld. Sie hatten meiner Ansicht nach ein gutes Leben. Als wir Elsa adoptierten, war ich doppelt froh um diese Mädchen und verstand überhaupt nicht, warum sie in den 70er Jahren kaum mehr zu bekommen waren, mindestens nicht zu den bisherigen Preisen. Als Elsa in der Stadt studierte, leistete ich mir nur noch eine Putzfrau.

      Dann starb Ernst, ich verkaufte das Haus, verliess das Dorf und zog zu Elsas Entsetzen in unsere kleine Zweitwohnung in Ascona. Es war ein durch Jahrzehnte aufgestauter Überdruss, der mich dorthin trieb. Ich hasste das Zigarrendorf.»

      André und Helene vertraten sich ein wenig die Füße. André musste das Gehörte erst ein wenig verarbeiten und er staunte, wie vital die alte Dame war, die gleich wieder anhob:

      «Zwei Jahre später kam ich zurück. Ich war mir selbst davongerannt, so wie ein Stück weit durch das ganze Leben. Ich hatte