Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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zu einem reduzierten Pensum. Beinahe alle Lehrer strebten jetzt aus vielen Gründen solche Erleichterungen an. Direkt nach den Herbstferien stand André wöchentlich dreimal vor einer zweiten Klasse der Sekundarschule, einem Knäuel Halbwüchsiger, der sich als Ganzes nicht viel aus Französisch machte. Es gab jede Variante von Unaufmerksamkeit, Gleichgültigkeit bis zur offenen Obstruktion. Schon in der zweiten Woche fühlte er sich unfähig, mit diesen Schülern arbeiten zu können. Dabei hatte er sich mit Fleiss vorbereitet, sich über die Lehr- oder Lernziele schlau gemacht, den Stand der Schüler soweit wie möglich auch in anderen Fächern abgeklärt, die verfügbaren Mittel geprüft und einen groben Zeitplan aufgestellt. Diese Schwierigkeiten waren für ihn eine grosse Enttäuschung. 30 Jahre lang hatte er erfolgreich unzähligen beinahe erwachsenen Frauen und Männern, angehenden Ingenieuren und Doktoren, als Nebenfach Deutsch vermittelt und jetzt schien er an diesen Rotznasen zu scheitern!

      Nach vier Wochen wollte er aufgeben.

      Isidor kannte die Probleme mit diesen und ähnlichen Klassen. Französisch war nicht mehr populär im Gegensatz zu Englisch. Französisch war nicht cool, sondern kompliziert, langweilig. Er redete André zu, nicht aufzugeben, einen Weg zu suchen, um die Schüler abzuholen, sei es durch Methode, Thema oder Spiel. André hatte Mühe mit solchen Spielereien. Nach wie vor galten in Frankreich andere Werte: Disziplin, Leistung, strenge Noten, Sanktionen. Nicht der Lehrer war der Geprüfte, sondern die Schüler. Das wusste er von seinen einstigen Kollegen und auch von den eigenen Kindern. Aber er suchte nach einem Ausweg, vielleicht gab es eine Lösung.

      Er erbat sich eine Auszeit von einer Woche, denn inzwischen war er Grossvater, Pépère, geworden. Er nutzte eine Woche im November, um via Paris zu seiner Tochter nach Toulouse zu fahren. Er wollte seinen neugeborenen kleinen Enkel sehen. Zu seinem Erstaunen war auch Miriam da, die Grandmaman. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht. Für sie war immer alles so einfach, denn sie freute sich offensichtlich nicht nur über den kleinen Jacques, sondern auch über ihn, den Grosspapi. «C’est merveilleux que tu est venue le voir. Ca va lui faire du bien. Et comme il te ressemble.» Sie war einfach umwerfend im Aussteuern von jeder Art von dümmlichem Hader, ohne dabei ihre Haltung oder Entscheidung in Frage zu stellen. Als sie ihn fragte, was er denn so mache, erzählte er ihr von seiner ungezügelten Klasse.

      «Sag doch den Biestern einfach, dass nicht du auf sie, sondern sie auf dich angewiesen sind. Du kannst jederzeit gehen, sie nicht. Wenn sie das begriffen haben, werden sie sich besinnen.»

      Auf der Heimfahrt zurück in die kleine Welt von Schmauchtal hatte er genügend Zeit, um über ihren Rat, seine Arbeit und die Schulklasse nachzudenken.

      In der Lektion am folgenden Montag sagte er seinen Schülern, sie bräuchten vorläufig ihre Unterlagen und Hefte nicht auszupacken. Er eröffnete ihnen seine Erwägung, die Klasse aufzugeben. Doch zuvor wolle er ihnen erzählen, wie er nach Frankreich gekommen war, dort Lehrer wurde, was er dabei erlebt hatte und wie schwierig es gewesen sei, eine Sprache zu vermitteln, die die Älteren in Frankreich hassten und verachteten, weil sie von einem Feind kam, dem in den grossen Kriegen Hunderttausende zum Opfer gefallen waren. Er sprach darüber, wie er sich über diese jungen Menschen gefreut hatte, die bereit gewesen waren, alle Vorurteile über Bord zu werfen und zu erleben, was die fremde Sprache in sich hatte. Wie sie in kleinen Schritten erfuhren, wie vieles in einer anderen Sprache einen anderen oder neuen Wert und oft grossen Reiz erhielt und wie sich aus diesen Entdeckungen eine Freundschaft zu dieser fremden Sprache und die dahinter stehende Kultur und Welt entwickeln konnte.

      Er beendete seine Erinnerungen mit dem Appell: «30 Jahre habe ich dort gelehrt und Respekt erfahren. Ich habe nicht die Absicht, jetzt meine Zeit mit einer Klasse zu vergeuden, die bei minimaler Leistung und mieser Aufführung nur darauf wartet, das Zimmer so schnell wie möglich verlassen zu können. Ich komme hierher, um mit euch zu arbeiten, und ihr solltet herkommen, um euren Teil beizutragen. Ich erwarte von euch Aufmerksamkeit und Leistung. Andernfalls trennen wir uns. Ihr werdet aus eurer Pflicht nicht befreit sein, ich aber schon. Jetzt könnt ihr zehn Minuten darüber nachdenken. Wer nicht mit mir weiterarbeiten will, soll in diesen zehn Minuten das Zimmer verlassen.»

      André spürte, wie sich in der Klasse eine Art von Ratlosigkeit verbreitete. Er wusste, dass sich das Spiel auf beide Seiten wenden konnte, aber er würde die Konsequenzen ziehen, selbst auf die Gefahr hin, mit der Schulleitung oder der Schulpflege in Schwierigkeiten zu geraten.

      Niemand verliess das Zimmer.

      Damit war nicht alles gelöst, es gab weiterhin Störenfriede und Faulenzer, aber die Klasse entwickelte und organisierte sich jetzt zu ihrem und seinem Vorteil. Querulanten wurden durch die Mitschüler nicht mehr nachgeäfft oder gar bewundert, sondern angefeindet. Allerdings hatte sich auch André in die Zange genommen und den vorgeschriebenen Stoff etwas lockerer ausgelegt. Er begann, in leichter Sprache aus Frankreichs Alltag, Geschichte und von seinen Schönheiten zu erzählen, und er startete nicht mit Victor Hugo und Nôtre-Dame, sondern mit Disney-World. Das erlebten die Kinder als «cool», ein Wort, das ihn ärgerte, aber von dem er wusste, dass es auch die Kinder der Franzosen erreicht hatte. Der Wandel in der Klasse war unübersehbar und Isidor mindestens so glücklich wie André. Er bot ihm an, im nächsten Jahr ein weiteres Pensum zu übernehmen. Das wollte sich André überlegen.

      In der Zwischenzeit war eine Schule für Erwachsenenbildung auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn eingeladen, in der Stadt die Führung von Abendkursen für Französisch zu übernehmen. Er wollte jedoch keinesfalls mit Anfängergruppen arbeiten, das machte er zur Bedingung. Noch vor Weihnachten reiste er zweimal pro Woche nach Achstadt. Das war zwar ein grosser Aufwand und er investierte viel Zeit in die Vorarbeit der Stunden, doch die Leute in den Gruppen waren erwachsen, sie wollten lernen und waren darüber hinaus in ihrer Mehrzahl vielseitig interessiert. Zudem lernte er eine Menge Leute aus vielen Schichten und Berufen, in der Mehrzahl Frauen, kennen.

      Trotz vieler Nachteile behielt er die Pensa an der Sekundarschule. Es gelang ihm immer besser, mit diesen teilweise noch kindlichen und zugleich pubertierenden Jugendlichen umzugehen. Es gab durchaus Zugänge, etwa die Texte französischer Schlager oder die enorme Vielfalt und Bedeutung der «Bandes Dessinés» bei der französischen Jugend. Die Schüler waren verblüfft, sie hatten von dieser geradezu dominierenden Rolle französischer Bildgeschichten noch nie etwas gehört. Zwar kannten beinahe alle die Geschichten von Asterix und Obelix, doch das war›s auch schon gewesen. Einzelne Schüler begannen die Stunden mit André geradezu zu lieben.

       Erster Besuch bei der alten Dame

      Nach seiner Rückkehr aus Toulouse nahm sich André endlich Zeit, Helene, die Schwägerin seiner Mutter und letzte lebende Verwandte der Generation, die seine Kindheit mitgeprägt hatte, zu besuchen. Er wunderte sich, dass sie sich nicht in eine noblere Umgebung zurückgezogen hatte. Seiner Meinung nach waren ihr doch Dorf und Leute hier immer fremd geblieben, es war erstaunlich. Sie wirkte immer etwas abgehoben, eine Dame eben. Vielleicht wollte sie sich damit vor zu grosser Nähe schützen, fiel André ein.

      André traf in der Cafeteria des Heimes auf eine mit ihren beinahe 90 Jahren noch immer charmant, humorig und sehr beweglich wirkende ältere Dame, die ihn auf Anhieb erkannte und lautstark begrüsste. Sie sass aufrecht auf ihrem Stuhl, war für ihre Jahre sommerlich lässig, aber sehr geschmackvoll angezogen – das war sie immer schon gewesen, genau so hatte er sie in Erinnerung – und diskret geschminkt, geistig voll da, es war erstaunlich. Sie roch weder nach Zigaretten noch nach zerstäubtem Parfüm, auch nicht nach alt. Zum letzten Mal hatte er sie am Begräbnis seiner Mutter getroffen, jedoch kaum mit ihr gesprochen. Jener Tag war für ihn ohnehin etwas schwierig, Miriam war dagewesen und seine Tochter aus Südfrankreich. Sie hefteten sich an ihn, weil sonst niemand Französisch sprach. Der Tag zog an ihm vorbei wie ein schlechter Traum. Der Pfarrer hatte ihn geärgert, weil er einfältiges Zeug behauptete, von Auferstehung sprach und vom Frieden im Herrn. Solches vermochte ihn nicht zu trösten, das alles hielt er für ebenso kindisch wie die Geschichte vom Osterhasen.

      Helene erinnere sich gerne an ihn und seine Geschwister und bedauerte den Tod seiner Mutter Irma. «Wir verbrachten die letzten Jahre beinahe miteinander hier im Heim, auf dem gleichen Boden!» Sie fand es schade, seinem